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      KILLIN, SCHOTTLAND

      Time Zero: 13 Stunden

      Inzwischen befinden wir uns auf dem unmarkierten Wegstück, das nach und nach steiler bergauf führt. Ich bin es ja gewohnt, doch Kai schnauft ganz schön.

      Als würde er meinen Blick spüren, dreht er den Kopf und lächelt mich an. »Du fährst hier mit dem Rad hoch?«

      »Ja.«

      »Steigst du zwischendurch auch mal ab?«

      »Früher schon. Jetzt nicht mehr.« Ich grinse.

      »Warum?«

      Nach kurzem Zögern antworte ich ihm ehrlich, was mich selbst überrascht. »So viel gibt es hier nicht gerade zu tun. Aber das ist nicht der Grund. Wenn ich mich an meine Grenzen bringe, kann ich alles um mich herum vergessen.«

      Kai nickt, als wäre das vollkommen einleuchtend.

      Wir laufen weiter. Während wir im Zickzack den Hang erklimmen, steigt die Sonne am Himmel höher. Ihr Licht dringt durchs Blätterdach, zeichnet Muster auf uns, auf den Weg. Dann kommt eine Passage, auf der uns die Sonne direkt ins Gesicht scheint.

      Ich bleibe stehen. »Hier habe ich sie zum ersten Mal gesehen. Ich stand etwas höher und entdeckte etwas Rotes zwischen den Bäumen. Sonst sieht man hier nie jemanden. Der Weg ist ja in keiner Karte vermerkt. Also habe ich sie weiter beobachtet und mich gefragt, wer das wohl ist.«

      Wir setzen unseren Weg bis zu meiner Lieblingsstelle fort.

      »Hier oben habe ich gestanden. Hier halte ich immer an.«

      »Könntest du Calista spielen? Da hingehen, wo sie gewesen ist, und ich bin du und bleibe hier oben?«

      »Okay.«

      Kai lehnt sich an meinen Baum. Ich laufe zu der Stelle zurück, wo ich Calista zuerst gesehen habe.

      Und dann bin ich Calista. Ich ahme ihre Bewegungen nach, erklimme den Pfad wie sie. Kai erinnert sich noch an unser Gespräch und sagt die entsprechenden Worte. Ich zucke zusammen, schaue mich verwirrt um. Beruhige mich wieder. Gehe dann weiter. Verneine, als Kai mich erneut fragt, ob ich mich verlaufen habe.

      Ich folge dem Pfad, Kai mir. Oben an der Straße holt er mich schließlich ein.

      »Wie du dich bewegt hast, dein Haar, ich weiß auch nicht. Einen Moment lang hätte ich dich wirklich für meine Schwester halten können.« Nun wirkt er nicht mehr verschlossen, sondern traurig, richtig traurig. Es ist kaum zu ertragen.

      »Tut mir leid, dass ich sie nicht aufgehalten habe. Sie nicht dazu bringen konnte, mit mir zu reden. Wenn sie vor jemandem weggelaufen ist, warum hat sie dann nicht mit mir gesprochen? Das verstehe ich nicht. Aber ich hätte mehr tun sollen. Und wenn wir am nächsten Tag nicht auch noch verreist wären, hätte ich bestimmt mitbekommen, dass sie vermisst wird, und wäre zur Polizei gegangen.«

      »Mach dir keine Vorwürfe. Ich hätte dort sein sollen. Ich hätte bei ihnen sein sollen. Mum wollte, dass ich mitkomme, aber ich war so beschäftigt mit meinen Freunden.« Kai wirkt gequält. Er gibt sich also selbst die Schuld. So wie ich. Dabei hat eigentlich keiner von uns Schuld, oder?

      Wir haben ja nicht am Steuer des Wagens gesessen, der sie fortgebracht hat.

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      SHETLAND INSTITUTE, SCHOTTLAND

      Time Zero: 12 Stunden

      »Das ist keine Übung.«

      Verängstigte Gesichter, wohin man schaut. Schnelle Schritte. Hastig verriegelte Türen.

      Und dann ertönt ein neues Geräusch: schrille, panische Stimmen.

      Offenbar kommen sie aus dem Kino.

      Die Lichter sind an, der Film läuft noch, keiner schaut hin.

      Die Frau, die in der Cafeteria gestürzt ist, liegt vor der letzten Reihe am Boden. Zitternd, stöhnend. Wachen in Schutzanzügen stehen bei den Türen, lassen niemanden hinaus. Eine Menge von wütenden und angstverzerrten Gesichtern, die Leute versuchen wegzukommen, drängen sich nach vorne zur Leinwand. Die beiden Schwestern, denen ich vorhin gefolgt bin, sind auch darunter. Eine weint. Der anderen steht der Schweiß auf der Stirn.

      »Mir geht es nicht gut«, sagt sie.

      Sie bricht zusammen und ihre Freundin schreit.

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      KILLIN, SCHOTTLAND

      Time Zero: 11 Stunden

      Kai hat sich schnell wieder im Griff. Er presst die Kiefer aufeinander, so als bereite es ihm körperliche Anstrengung, seine Gefühle zu verbergen.

      »Es ist genauso wenig deine Schuld wie meine.« Ich muss das jetzt einfach sagen. Er nickt, aber überzeugt ist er nicht. Ich habe das Gefühl, dass er um sich eine Mauer errichtet hat, durch die meine Worte nicht dringen können.

      Schweigend machen wir uns an den Abstieg.

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      SHETLAND INSTITUTE, SCHOTTLAND

      Time Zero: 10 Stunden

      Endlich hat jemand den Schalter gefunden, um den Film auszustellen, der die ganze Zeit noch auf der Leinwand lief. Hingesehen hat ohnehin keiner mehr, aber nun ist die Panik noch greifbarer.

      Jetzt dringen auch die Schmerzensschreie der Ärztin aus der letzten Reihe nach vorne.

      Leute in Schutzanzügen sammeln die Schwester ein, die neben ihrer Freundin zusammengebrochen ist, und tragen sie nach hinten zur Frau im weißen Kittel. Die andere Schwester begleitet ihre kranke Freundin nicht.

      Bald wird auch sie schreien. Beide werden schreien.

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      KILLIN, SCHOTTLAND

      Time Zero: 9 Stunden

      Als sich der Polizist, auf den wir warten, dem Gartencafé nähert, steht Kai vom Tisch auf und geht ihm entgegen. Sie geben sich die Hand, wechseln ein paar Worte und kommen gemeinsam zum Tisch.

      »Schön, dich kennenzulernen. Ich bin Dougal. Shay, nicht wahr?« Er trägt ganz normale Klamotten, schüttelt mir die Hand und setzt sich dann auf den freien Stuhl neben Kai.

      »Ja. Ich bin Shay.«

      »Kai hat mir erzählt, dass du glaubst, seine Schwester gesehen zu haben.«

      »Ich glaube es nicht nur. Ich habe sie gesehen.«

      »Und dass du dich nur deshalb nicht bei der Polizei gemeldet hast, weil du am nächsten Tag verreist bist und nicht mitbekommen hast, dass sie vermisst wurde.« Dougal lächelt und ist freundlich, dennoch mag ich ihn irgendwie nicht.

      »Stimmt.« Kai und ich tauschen Blicke. Dougal bestellt einen Kaffee. Die Kellnerin kommt mit einem Tablett zurück und räumt die Reste unseres späten Mittagessens ab. Um Platz zu machen, schiebe ich mein Handy beiseite.

      Dougal fördert ein kleines Diktiergerät zutage und hält es hoch. »Hast du was dagegen, wenn ich das Gespräch aufnehme?«

      Ich

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