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      Barbara Kuhn / Milan Herold

      Lebenskunst nach Leopardi

      Anti-pessimistische Strategien im Werk Giacomo Leopardis

      Narr Francke Attempto Verlag Tübingen

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      Umschlagabbildung: Ausschnitt aus Sandro Botticelli, La Primavera, 1482. Bildquelle: commons.wikimedia.org/wiki/File:Botticelli-primavera.jpg

      Gedruckt mit freundlicher Unterstützung des Romanischen Seminars der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn.

      ISSN 1436-2260

      © 2020 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG

      Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen

      www.narr.de[email protected]

      Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

      ISBN 978-3-8233-8416-8 (Print)

      ISBN 978-3-8233-0278-0 (ePub)

      Zeit, Gesang und Lebenskunst

      Zur Frage einer «arte del vivere» nach Leopardi Einführende Überlegungen

      Tempo, canto e arte del vivere

      Modi e concetti di un’«arte del vivere» leopardiana Riflessioni preliminari

      Barbara Kuhn

      Della lettura di un pezzo di vera, contemporanea poesia, in versi o in prosa […], si può, e forse meglio, (anche in questi sì prosaici tempi) dir quello che di un sorriso diceva lo Sterne; che essa aggiunge un filo alla tela brevissima della nostra vita. Essa ci rinfresca, p. così dire; e ci accresce la vitalità.

      (Zibaldone 4450, 1. Feb. 18291)

      Und wie seltsam wird das Phrasengeräusch der Pessimisten von der Nichtigkeit der Welt übertönt durch dieses memento vivere ihres größten Dichters!

      (Paul Heyse2)

      «Kennen Sie Leopardi, Ingenieur, oder Sie, Leutnant?» Nicht von ungefähr stellt in Thomas Manns 1924 erstmals in Buchform erschienenem Zauberberg Lodovico Settembrini diese Frage an Hans Castorp und dessen Vetter Joachim. Offenbar konnte der Italiener solche Kenntnis nicht voraussetzen, denn er fährt fort: «Ein unglücklicher Dichter meines Landes, ein bucklichter, kränklicher Mann mit ursprünglich großer, durch das Elend seines Körpers aber beständig gedemütigter und in die Niederungen der Ironie herabgezogener Seele, deren Klagen das Herz zerreißen. Hören Sie dieses!», und man kann sich fragen, was Settembrini dann wohl vor den beiden Herren, die ihn nicht verstehen, rezitiert, bevor er weiter über den «Krüppel Leopardi», über die «Verkümmerung seiner Seele» und sein «[V]erzweifel[n] an Wissenschaft und Fortschritt»3 räsonniert: vielleicht A se stesso, An sich selbst, in dem dem Ich die Welt nur mehr wie Schlamm erscheint, «e fango è il mondo» (v. 10)? Vielleicht die ironischen «magnifiche sorti e progressive» aus La ginestra (v. 51 [die «großartige[n] und fortschrittliche[n] Geschicke»])? Oder vielleicht Sapphos letzte[n] Gesang, den Ultimo canto di Saffo, ehe die unglückliche Dichterin sich – möglicherweise – vom Leukadischen Felsen stürzt?

      Die Spekulation über das ungeschriebene Tun einer Romanfigur braucht nicht fortgeführt zu werden; sie ist ebenso müßig wie die Suche nach einer Antwort auf die Frage, ob Settembrini möglicherweise die Operette morali, vor allem den Dialog zwischen der Natur und einer Seele, allzu schlicht und unmittelbar auf deren Schöpfer bezogen hat, wenn er von Tragik spricht und von der grausamen Natur, die «einen edlen und lebenswilligen Geist mit einem zum Leben nicht tauglichen Körper verband» und so die «Harmonie der Persönlichkeit» gebrochen oder «von vornherein unmöglich»4 gemacht habe. Zu erwägen ist aber dennoch die Frage, warum Settembrini diese Frage überhaupt stellen muß und zudem, offenbar zu recht, davon ausgeht, daß seine deutschen Zuhörer den berühmten italienischen Dichter nicht kennen, denn dieser Befund, der hier im Rahmen der Fiktion knappe 100 Jahre nach der Entstehung von Leopardis Texten angestellt wird, scheint auch weitere knappe 100 Jahre später in Teilen immer noch zuzutreffen, wenn etwa noch in einer 2002 erschienenen Dissertation statt von einer «fortuna di Leopardi in Germania» nur von einer «sfortuna» zu lesen ist, von Mißgeschick und Unglück, und dies konkretisiert wird in den Worten:

      Im Falle Leopardis ist die merkwürdige Situation zu konstatieren, daß über einen Autor der hierzulande traditionell so beliebten italienischen Kultur und Literatur, der in seinem Heimatland ähnlich aufbereitet ist wie in Deutschland Goethe, Kafka oder Thomas Mann […], auch nach zweihundert Jahren vor allem Klischees kursieren.5

      Doch nicht nur im deutschen Sprachraum existieren solche Klischees, existieren jene Schubladen, in die Leopardi oft vorschnell gesteckt wird, auch wenn hier möglicherweise das eine oder andere Mißverständnis in Übersetzungen und Deutungen des komplexen Werks eine zusätzliche Rolle spielen mag6 und auch wenn insbesondere das große Interesse Schopenhauers, der glaubte, in dem Dichter aus Recanati einen Geistesverwandten gefunden zu haben, die Rezeption vor allem, wenngleich keineswegs nur7 hierzulande in eine spezifische Richtung lenkte. Die wichtigste und beliebteste Schublade, die bis in die Gegenwart immer wieder dazu dient, diese Texte in ihrer Komplexität, ihrer Offenheit und Vieldeutigkeit weniger zu erschließen, als zu verbergen, indem sie ihnen, statt Offenheit und Vieldeutigkeit zuzulassen, ein einheitliches Etikett aufklebt und sie so teilweise bis zur Unkenntlichkeit reduziert,8 ist eben die des angeblichen, gleichsam mantraartig wiederholten und daher schon fast legendären Pessimismus, der in seinen diversen Spielarten durch viele Publikationen geistert. So ist etwa die Rede von einem individuellen oder psychologischen Pessimismus, in einer nächsten Phase von einem historischen Pessimismus, die schließlich gar gekrönt werde von einem allumfassenden kosmischen Pessimismus in den letzten Lebens- und Schaffensjahren – aber ganz gleich, welche Facette gewählt wird, sie reduziert stets das vielgestaltige und vieldeutige Werk Leopardis auf die eine und in sich schon reduktive Dimension: auf jenes Stereotyp des Pessimismus, das einem sich unaufhörlich verändernden Dichten, einem Denken in ständiger Bewegung nicht gerecht werden kann.9

      Ein Text, der nicht nur besonders häufig Gegenstand der Forschung geworden ist, sondern zudem vielfach mit der beliebten Pessimismus-Formel bedacht wurde, ist Il passero solitario, der daher besonders geeignet scheint, um in einführenden Überlegungen der Frage nach möglichen anti-pessimistischen Strategien und nach jener spezifischen Lebenskunst nachzugehen, von der Leopardi im 79. seiner Pensieri handelt: jener Frage, der sich auch der 30. Leopardi-Tag der Deutschen Leopardi-Gesellschaft vom 18. bis zum 20. Juli 2019 an der Universität Bonn, dem Gründungsort der Gesellschaft, in einer Vielzahl von breit gefächerten Vorträgen, Diskussionen und einer Lesung von Burkhart Kroeber aus seiner Übersetzung der Operette morali widmete. Denn einmal mehr zeigt sich auch und gerade im Passero solitario, daß entgegen der verbreiteten Forschungsmeinung, die versucht, den Text bruchlos mit der Pessimismus-These zu verknüpfen, eine genaue Lektüre des Gedichts, die auf dieses vermeintliche Geländer verzichtet und sich statt dessen auf den Text selbst einläßt, anderes sichtbar zu machen vermag als nur die erneute Bestätigung des allzuoft Wiederholten10.

      Anders als in der großen Mehrzahl der dem «Passero» gewidmeten Beiträge der Forschungsliteratur, die vor allem anderen und immer wieder den Fragen der Entstehungszeit des canto, seiner Quellen und der mit dem «passero solitario» gemeinten Vogelart nachging11, nähern sich die hier vorgeschlagenen Überlegungen dem Gedicht von einigen anderen Vögeln im Werk Leopardis her an, die die mit den fliegenden und singenden Wesen verknüpften Konnotationen in Erinnerung rufen und so die Lektüre des Gedichts, statt primär durch bisherige Forschungsbeiträge, durch die Bilder-, Klang- und Gedankenwelt des Leopardischen Werks grundieren.

      I. Leopardis Vögel

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