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      Gustave Courbet

      Von Ulf Küster

      Inhaltsverzeichnis

       Prolog – Die Hängematte

       Ornans – Flagey

       Industrialisierung auf dem Land – Bemerkungen zu Die Steinklopfer und Die Kornsieberinnen

       Eugène Delacroix sieht Das Atelier des Malers

       Mit Messer und Daumen

       Origine du monde – Origine de la peinture

       Epilog

       Anmerkungen

       Biografie

       Tipps für die weitere Beschäftigung mit Courbet

       Literatur

       Dank

       Fotonachweis

      An meine erste Begegnung mit einem Gemälde von Gustave Courbet kann ich mich gut erinnern. Das war 1971 bei einem Besuch der Sammlung Oskar Reinhart »Am Römerholz« in Winterthur. Ich war fünf Jahre alt, ging, wie üblich, an der Hand meines Vaters, und ich weiß noch genau, dass ich mich bei Courbets Bild von dem Mädchen, das schlafend in der Hängematte liegt, über die seltsamen gelben Socken wunderte. Sind das vielleicht Strumpfschuhe? Heute, nach unzähligen weiteren Besuchen dieses großartigen Museums, wundere ich mich noch immer: diese merkwürdige Fußbekleidung, die aussieht, als gehöre sie zu einer von Ludwig Richter gemalten biedermeierlichen Märchenfigur. Natürlich sind die Füße unbefleckt, als habe die Schöne den Boden nicht berührt, bevor sie sich hinlegte.

      Gustave Courbet, Le hamac (Die Hängematte), 1844, Öl auf Leinwand, 70,5 × 97 cm, Sammlung Oskar Reinhart »Am Römerholz«, Winterthur

      Gustave Courbets Le hamac (Die Hängematte) von 1844 ist ein Meisterwerk, ein Traumbild in jeder Hinsicht. Was ist zu sehen? Ein Traum Courbets oder der Traum der Schlafenden? Im Wald, auf einer Lichtung, halb im Sonnenschein, ist über einen Weg, der im Hintergrund wieder zu einer Lichtung führt, eine Hängematte gespannt. Darauf liegt ein Mädchen und schläft. In ihrem offenen blonden Haar trägt sie einen Kranz. Ihr muss sehr warm sein, denn sie hat ihren blau-seidenen Schal abgelegt und ihr gelb gefüttertes Mieder geöffnet; unter einer durchsichtigen Gaze sind ihre Brüste zu sehen. Ihre Beine hängen aus der Hängematte heraus, die Füße sind überkreuzt, der Rock ist hochgerutscht und gibt den Blick auf weiß bestrumpfte Waden frei. Mit der rechten Hand hält sie sich am Rand der Hängematte fest, die Linke hat sie – eine typische Schlafhaltung – über ihren Kopf gelegt, ihr Kinn ist auf den Brustansatz gesenkt und ihr Gesichtsausdruck hat etwas Wollüstig-Unschuldiges. Überhaupt wirkt die ganze Person jungfräulich und zugleich ein wenig verrucht. Gewiss ist der Traum, den sie gerade träumt, sehr angenehm. Schade nur, dass er bald vorbei sein wird, denn sie wird im nächsten Augenblick aus der Hängematte fallen, ihre Haare, die wie ein Wasserfall aussehen, zeichnen ihren Fall vor. Und dann ist da auch gar kein Weg, sondern ein seichtes, aber dunkles Wasser, in das sie fallen und das sie aus ihren Träumen reißen wird.

      Ich denke bei diesem Bild gerne an zwei Strophen aus »Frühlingstraum«, einem 1823 veröffentlichten Gedicht aus Wilhelm Müllers Winterreise, das Franz Schubert vertont hat; es geht um den harten Wechsel von der Traumwelt zur Wirklichkeit, was bei Müller für den Unterschied zwischen der Idee der Freiheit und der Realität der Unterdrückung während der Restauration und des Vormärz steht:

      Ich träumte von Lieb’ um Liebe,

      Von einer schönen Maid,

      Von Herzen und von Küssen,

      Von Wonne und Seligkeit.

      Und als die Hähne krähten,

      Da ward mein Herze wach;

      Nun sitz’ ich hier alleine

      Und denke dem Traume nach.

      Ist Courbets Hängematte ein Werk, das den Übergang von einer idealisierten Welt zu der rauen Wirklichkeit darstellt? Geht es bei diesem Bild des Schlafs, kurz bevor dieser abrupt beendet wird, um das Ende der Epoche, die man als »Romantik« bezeichnen könnte? Dass dieses Bild ganz unvermutete verborgene Botschaften enthalten könnte, beschäftigt mich bis heute. Der Kranz, den die junge Frau im Haar trägt, ist kein Efeukranz, wie immer wieder behauptet wird.1 Es handelt sich um einen Kranz aus Schmerwurz, eine Heilpflanze mit herzförmigen Blättern und roten Früchten, die traditionell bei der ­Behandlung von Prellungen eingesetzt wird, worauf ihr französischer Name unmissverständlich hinweist: »herbe aux femmes ba­­ttues« (Kraut der geschlagenen Frauen).2 Andere volkstümliche Namen sind »racine vierge« (Jungfernwurzel) oder »sceau de ­Notre Dame«, was man mit »Siegel unserer Frau« übersetzen könnte. Beide Namen sind ein Hinweis auf eine andere Funktion: Die Pflanze scheint zur Empfängnisverhütung eingesetzt worden zu sein.3 Sollte Courbet davon gewusst haben, was wahrscheinlich ist, dann würde das böse Erwachen, das hier auf den Schlaf folgen wird, eine ganz andere Bedeutung haben.

      Im Jahr vor der Vollendung des Gemäldes hat Courbet sich in einem Selbstbildnis dargestellt, das 1844 für die jährlich stattfindende allgemeine Kunstausstellung in Paris, dem Salon, ausgewählt wurde – eine Premiere für ihn. Dieses Portrait de l’artiste, genannt Courbet au chien noir (Porträt des Künstlers, genannt Courbet mit schwarzem Hund, Abb. Cover) zeigt ihn als modisch gekleideten Romantiker in karierten Hosen, adrettem Überrock und mit Hut, der wie ein dunkler Heiligenschein auf seiner Lockenpracht sitzt. Er ist auf einer Wanderung bei der Rast: Die Pfeife in der Hand, Wanderstab und Skizzenbuch hinter sich an einen Felsen gelehnt. Er scheint sich der Melancholie hinzugeben, und sein Blick, sehr von oben herab, betont die Distanz zwischen ihm und den Betrachtern des Bildes, als würden diese nie in der Lage sein, ihn zu verstehen. Und der Blick des Hundes, der neben dem Maler sitzt, scheint zu bedeuten: Ich bin der Einzige, der treu zu Dir hält. Auffallend ist der frei und wahrscheinlich mit dem Palettmesser gemalte, unvollendet gelassene Hintergrund. Das Bild zeigt die Stimmung, in der sich Courbet seine Traumfrauen auf Waldlichtungen imaginierte, nicht ohne sich gleichzeitig an die Konsequenzen sexuellen Überschwangs zu erinnern.

      Eugène Delacroix, La mort d’Ophélie (Ophelias Tod), 1844, Öl auf Leinwand, 55 × 64 cm, Sammlung Oskar Reinhart »Am Römerholz«, Winterthur

      Ebenfalls in der Sammlung Reinhart befindet sich ein Gemälde von Eugène Delacroix, das 1844, also im selben Jahr wie Courbets Hängematte, entstanden ist: La mort d’Ophélie (Ophelias Tod). Delacroix (1798–1863) war über zwanzig Jahre älter als Courbet (1819–1877) und der wichtigste Künstler der französischen Romantik. Auch hier ist das Thema eine junge Frau und das Wasser: Bei Delacroix ist sie allerdings schon ins Wasser gefallen, und das auch im übertragenen Sinne. Delacroix’ Ophelia erscheint im Vergleich zur Schlafenden von Courbet als Vollweib, das für mich mit ihrer bis zur Hüfte unverhüllten Nacktheit immer viel erotischer als das Mädchen in der Hängematte war. Das Gemälde von Delacroix ist, wie oft bei ihm, eine malerisch entwickelte Illustration einer Szene, von der in Hamlet, der Tragödie William Shakespeares, berichtet wird: Das Bild wirkt eindeutiger als das verschlüsselte und viel raffiniertere Gemälde Courbets.

      Wie Ophelia allerdings in so flachem Wasser ertrinken kann, ist mir ein Rätsel und erinnert mich an die in seinem Tagebuch notierte Kritik Delacroix’ an Courbets 1853 ausgestelltem Gemälde Baigneuses (Badende, Musée Fabre, Montpellier): Das Wasser auf diesem Bild sei viel zu seicht, um darin zu baden.4 Courbet hat möglicherweise auf das in mehreren Versionen existierende Ophelia-Motiv von Delacroix reagiert,

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