Скачать книгу

In Biologie hat sie einmal eine Dokumentation zum Thema Räuber des Meeres gesehen… Gerade wünscht sie sich, sie hätte in dieser Unterrichtsstunde geschlafen und jetzt keine lebendigen Bilder vor Augen, was ein Hai mit einem Menschen anrichten kann. Plötzlich fallen ihr die Schrammen und Platzwunden ein, die sie von dem Sturz vom Fabrikgebäude davongetragen hat.

       Blut.

      Helena kann an nichts anderes denken.

       Er wird mich schon von Weitem gerochen haben.

      Sie ist seine Beute, ist ihm ausgeliefert wie eine Kuh dem Metzger. Plötzlich fühlt sie, wie etwas ihr Bein streift. Helena erstarrt. Die Haifischflosse ist nun genau neben ihr. Sie kann das helle grau in der Morgensonne glitzern sehen. Plötzlich fühlt sie einen Druck am Bein. Das Wasser um sie herum färbt sich rot. Erst als sie die Situation begriffen hat, durchfährt eine Welle von Schmerz ihren Körper.

      „Helena! Helena, wach auf!“

      Helena fährt zusammen. Sie blinzelt gegen die grelle Sonne. Ist sie noch im Wasser? Sie tastet mit der Hand nach etwas Festem, ihr Körper scheint an Land gespült worden zu sein.

      „Leute, sie kommt zu sich!“

      Eine aufgeregte Stimme, die Helena schon einmal gehört hat, aber nicht zuordnen kann.

      „Wo bin ich?“, nuschelt sie, doch die Worte, die aus ihrem Mund kommen, fühlen sich so fremd an.

      „Hier, du hast bestimmt Durst.“

      Helena nickt und trinkt gierig ein paar Schlucke aus der Plastikflasche. Wasser läuft an ihrem Kinn hinunter und tropft auf Kissen, Decke, Matratze und ihre Kleidung.

      „Wo bin ich?“, fragt sie noch einmal, obwohl langsam die Erinnerung zurückkommt. Eine Antwort ist nicht mehr nötig, doch sie möchte sie trotzdem hören. Oliver schweigt, Julius ebenso. Sabrina ist die erste, die einen anständigen Satz zustande bekommt.

      „Du bist wieder hier bei uns. Erinnerst du dich?“

      Helena schaut ungläubig um sich und muss feststellen, dass sich nichts geändert hat. Sie nickt. „Natürlich erinnere ich mich. Wie lange war ich weg?“

      „Ungefähr fünf Stunden“, antwortet Oliver und setzt sich zu ihr auf die Matratze. „Als du hier ankamst, warst du völlig verstört und überhaupt nicht ansprechbar. In der einen Sekunde hast du wild um dich geschlagen, und in der anderen warst du völlig teilnahmslos und hingst wie ein nasser Sack in meinen Armen.“

      Erst jetzt fällt ihr sein blau unterlaufenes Auge auf.

      „Entschuldigung“, murmelt sie zerknirscht, doch Oliver winkt sofort ab.

      „Das ist halb so wild, ich habe schon schlimmere Verletzungen überstanden.“

      Helena grinst schief.

      „Jedenfalls haben wir dich dann ins Bett gelegt, da war es gerade kurz nach zwei. Du hast im Schlaf geschrien, aber wir haben dich nicht wach bekommen.“

      In Olivers Augen spiegelt sich plötzlich pure Besorgnis. „Helena, was ist in diesen fünf Stunden passiert?“

      „Der Hai“, platzt es aus ihr heraus, noch bevor sie sich eine Antwort überlegen kann. Helena wirft die Decke zur Seite und atmet erleichtert auf. Ihr Bein ist übersät von Schrammen und blauen Flecken, aber von einem Haifischbiss keine Spur.

      „Ein Hai?“, Oliver runzelt verwirrt die Stirn. „Hast du Schmerzmittel bekommen?“

      „Ja! Nein! Ja! Ich meine nein!“

      „Ganz ruhig.“

      Er legt seine Hand auf ihr Bein und schaut ihr mit seinem durchdringenden Blick in die Augen. „Jetzt noch einmal ganz von vorne. Was ist passiert, nachdem du in den Aufzug gestiegen bist?“

      Helena seufzt. Während sie erzählt, durchlebt sie in Gedanken noch einmal all die schlimmen Dinge, die ihr in den letzten zehn Stunden widerfahren sind. Nur der Hai findet keinen Platz. Als Helena fertig ist, blickt sie in drei offenstehende Münder.

      „Der Hai war nur ein Traum“, schließt sie ihre Erzählung ab, um die unaushaltbare Stille zu füllen, „aber alles andere könnt ihr mir glauben.“

      Montag, 01.07.2019, 08: 00 Uhr

      - Oliver -

      Der Aufzug brummt, pünktlich um acht kommt das Frühstück – wie jeden Tag. Das altbekannte Pling ertönt, und die Türen gleiten leise nach links und rechts auseinander. Vier Tabletts mit jeweils einer Flasche Wasser und einer Cloche, unter der entweder ein Brötchen mit Rührei und Obst oder Müsli mit getrockneten Früchten steckt. Olivers Magen grummelt beim Gedanken an etwas zu essen. Vor lauter Aufregung um Helena hat er gar nicht gemerkt, wie hungrig er ist.

      „Hast du Hunger?“, fragt er mehr auffordernd als fragend. Helena schüttelt den Kopf. Die Erlebnisse von gestern noch einmal hervorzurufen, hat sie ganz schön aufgewühlt.

      „Ich kann nicht…“

      Oliver streichelt ihr beruhigend über den Arm. Dicke Tränen kullern über ihre Wangen.

      „Was hast du?“

      Sie antwortet nicht.

      „Ich kann nicht…“

      „Hast du keinen Hunger?“

      Helena schüttelt den Kopf.

      „Das ist es nicht.“

      Oliver neigt den Kopf zur Seite und schaut sie fragend an. In ihren Augen spiegelt sich Angst, Ungewissheit, beinahe Panik.

       Was hat das Mädchen bloß erlebt?

      „Oliver“, flüstert sie heiser und fängt genau in diesem Moment an, unheimlich zu zittern. „Ich kann mich nicht bewegen.“

      Er braucht einen Moment und eine weitere Erklärung, bis er ihre Worte richtig deuten kann.

      „Seit dem Sprung aus dem Gebäude kann ich sie nicht bewegen.“

      Helena deutet auf ihre Beine. Sie sucht Hilfe, schreit förmlich nach einer Antwort auf die Frage, was mit ihr los ist, was mit ihr passiert ist. Doch sie ahnt es ebenso wie er. „Schau, ich spüre nichts.“

      Ihre Stimme wird lauter, schneller, panischer. Sie ballt die Hand zur Faust und schlägt verzweifelt auf ihre Beine ein. „Ich spüre nichts! Oliver, ich spüre nichts!“

      „Helena, halt an!“

      Nun eilt auch Julius zur Hilfe. Er wirft sich auf den Boden neben die Matratze und greift nach ihrem Arm. „Das bringt doch nichts!“

      „Ich spüre nichts. Ich kann sie nicht bewegen.“

      Ihre Augen füllen sich erneut mit Tränen. „Bitte hilf mir.“

      Flehend schaut sie ihn mit ihren großen, dunklen Pupillen an. Oliver schluckt. Er hat sich in seinem Leben noch nie so klein und hilflos gefühlt wie in diesem Moment.

      Montag, 01.07.2019, 08: 37 Uhr

      - Helena -

      „Das bringt doch nichts.“

      Helena schlägt die Hände über dem Kopf zusammen und wirft sich rücklings auf die Matratze. Ihr Kopf wird von dem großen weichen Kissen aufgefangen, das sie nun als Sichtschutz über ihrem Gesicht hält. „Gebt es doch zu. Das hier ist reine Zeitverschwendung.“

      „Ich verstehe dich nicht“, kommt es von Oliver zurück, doch Helena ist sich sicher, dass das Kissen nicht das Problem ist. „Komm schon, probier‘ es noch ein Mal.“

      „Ein Mal?“, fragt Helena und lugt vorsichtig hinter ihrem Sichtschutz hervor.

      „Ein einziges Mal, versprochen.“

      Seufzend gibt sie nach und richtet sich wieder auf. Oliver bewegt ihre Beine vorsichtig in Position und reicht ihr dann seinen Arm als Stütze. Helena legt den Kopf in

Скачать книгу