Скачать книгу

recht!«

      »So bleiben sie uns wenigstens vom Hals.«

      Kapitän Beecham wandte sich zu den Docks um und rief: »Ergreift sie, Leute!«

      Nixi fuhr entsetzt herum, als sich eine Gruppe von Seemännern auf ihre Gang stürzte. Den ersten konnte sie mit ihrem Speer abwehren, doch der nächste wich ihr geschickt aus und schnappte sich Tamin. Karah stieß einen wütenden Schrei aus und trat dem Seemann gegen die Beine. Rye und Dewey schlugen wild um sich, aber die Männer, die sie gepackt hatten, waren doppelt so groß wie sie.

      »Alle zurück!«, brüllte Dobber. Er stieß Nixi beiseite und sprang mit den anderen Kapitänen an Land. »Zeit, die Verteidigungsanlage in Gang zu setzen.«

      »Stopp, ihr Idioten!« Nixi versuchte, die Männer mit erhobenem Speer aufzuhalten, doch Beecham schwang seine Faust und traf sie mit voller Wucht am Kopf. Benommen taumelte Nixi rückwärts und sank auf die Knie. Ihr Speer glitt ihr aus der Hand, rutschte über den Steg und verschwand im Wasser.

      Die Kapitäne eilten davon. Die Seemänner folgten ihnen mit Sylvie und den anderen im Schlepptau, die sich immer noch nach Leibeskräften wehrten. Sie schrien und kreischten, schlugen um sich und versuchten es mit so ziemlich jedem Trick, den Nixi ihnen jemals beigebracht hatte. Sylvie gelang es, sich für einen Moment loszureißen. Bei dem Versuch, sie wieder einzufangen, schubste einer der Seemänner sie zur Seite – und gegen Floss. Mit rudernden Armen versuchte Floss, sich auf dem Steg zu halten, doch vergebens. »Nein!«, schrie Nixi. »Helft ihr!«

      Es war zu spät. Floss stürzte ins Meer. Das Wasser schlug mit einem dumpfen Platschen über ihr zusammen, das wegen des Chaos überall jedoch kaum zu hören war.

      Nixi blieb das Herz stehen.

      Sie war von Beechams Schlag noch immer benommen. Fluchend rutschte sie auf Händen und Knien an den Rand des Stegs. »Floss!«, brüllte sie. »Floss! Halte durch, ich hol dich da raus!«

      Sie blickte hinab. Die Wasseroberfläche war spiegelglatt.

      Sie kann schwimmen, dachte Nixi verzweifelt, während sie versuchte, ihre Panik niederzuringen. Sie schafft das schon.

      Zwei Atemzüge verstrichen. Drei. Von Floss fehlte immer noch jede Spur. Hatte sie sich bei ihrem Sturz den Kopf angeschlagen? Sich im Seegras oder einem Fischernetz verheddert?

      Mühsam rappelte Nixi sich auf, bereit, ihrer Freundin hinterherzutauchen. Dann bemerkte sie etwas – auf den Docks war Stille eingekehrt. Sie sah sich um. Die Monster, Kelpies und das Meervolk kämpften immer noch, aber die Menschen waren verschwunden. Die Verteidigungsanlage, schossen ihr Dobbers Worte durch den Kopf. Was …

      Und dann ging die Welt um sie herum in Flammen auf.

      Kapitel 5

      Kritisch betrachtete Lysander Diomedes die Augen, die ihm wütend entgegenfunkelten. Darunter befand sich ein breites Maul, das zu einem stummen Schrei aufgerissen war und so den Blick auf zwei Reihen scharfer Reißzähne freigab.

      Lysander lag mit untergeschlagenen Beinen auf einem Stapel samtener Ruhekissen und ließ seinen Bleistift über das Papier fliegen, während er die todbringenden Hörner des Minotaurus schraffierte. In dem Sandelholzkoffer in seinem Schrank, in dem er, hinter einigen Westen versteckt, seine Kunstwerke aufbewahrte, befanden sich inzwischen Dutzende solcher Bilder, aber dieses hier … Irgendwie gab es das lähmende Entsetzen, das ihn befallen hatte, als er der Bestie leibhaftig gegenübergestanden hatte, besser wieder als alle Zeichnungen zuvor.

      Jedes Mal, wenn er die Augen schloss, sah er sie wieder vor sich: die muskulösen Arme, die riesigen Hände, die Beine mit den gewaltigen Hufen. Er konnte das Bild, wie die Kreatur aus der Höhle trat, einfach nicht vergessen. Genauso wenig wie das von seinem Vater, als er den Menschenjungen in die Höhle geschubst und dem Minotaurus als Beute dargeboten hatte.

      Sein Vater. Cassio Diomedes, Oberster Chronist. Erster Berater des Königs.

      Cassio Diomedes, Lügner. Bewahrer grausiger Geheimnisse.

      Wie konnte er nur? Die Frage ging Lysander wieder und wieder durch den Kopf, während er die gewaltigen Schultern des Minotaurus zeichnete. Wie konnte er nur Teil von so etwas Schrecklichem sein?

      Und schlimmer noch: Lysander gehörte jetzt auch dazu. Sein Vater hatte ihm erklärt, dass das Geheimnis um den Minotaurus die eigentliche Königswahrheit war und der Frieden in Cavallon nur dann sicher war, wenn Lysander dieses Geheimnis bewahrte.

      In seiner kurzen Laufbahn als Chronist hatte Lysander das eine oder andere gelernt. Er wusste, dass er nicht genügend Informationen hatte, um die Verschwörung um den Minotaurus aufzudecken. Noch nicht. Und es gab nur einen Weg, die ganze Wahrheit zu enthüllen: Er musste so tun, als würde er mitspielen.

      Als die Zeichnung fertig war, erhob sich Lysander, streckte seine Beine und ging über den weichen, moosigen Teppich zum Schrank, um sie wie die anderen zu verstecken. Dann versuchte er, seinen zerzausten Schweif und die zottelige Mähne zu kämmen, gab jedoch wie immer nach kurzer Zeit auf und ging nach nebenan in sein anderes Zimmer. Dort hatte ihm Melwynne, die Zentaurin, die im Hause Diomedes für den Haushalt zuständig war – Cassio wäre nie so tief gesunken, menschliche Bedienstete einzustellen –, bereits das Frühstück auf einem Tisch am Fenster bereitgestellt.

      Seit er aus dem Gebirge zurückgekehrt war, ließ Lysanders Appetit zu wünschen übrig. Auch an diesem Morgen brachte er nur ein paar Bissen von der cremigen Eierpastete und eine Handvoll Beeren runter. Die Reste verfütterte er an die Vögel draußen auf dem Balkon, damit Melwynne nichts merkte, was Lysanders Vater misstrauisch hätte machen können. Es war ein wunderschöner Morgen. Die Sonne schien sanft auf die Blumenbeete vor dem Haus und ließ den Fluss in der Ferne glitzern. Das Anwesen der Familie Diomedes hatte eine der besten Aussichten in der ganzen Stadt, die angeblich nur von der des Königspalastes übertroffen wurde, wie sein Vater gerne erwähnte, doch Lysander kam alles blass und eintönig vor.

      Er versuchte, den grauen Bleistiftstaub von seinen Knöcheln zu reiben. Wenn doch nur Alexos Archimedos, sein bester Freund, hier wäre. Aber Alexos war mit ihrer beider Notizen über die Begegnung mit dem Minotaurus sowie Lysanders Zeichnungen geflohen, um sie in Sicherheit zu bringen. Lysander hatte keine Ahnung, wo Alexos jetzt war oder ob er ihn jemals wiedersehen würde. Er hatte versucht, mit Alexos’ Mutter zu reden, die die Große Bibliothek im Zentrum von Coropolis leitete. Vielleicht hatte sie ja von ihrem Sohn gehört? Doch sie war gerade auf dem Weg zu einem Treffen mit dem Rat gewesen und hatte sich nur laut vernehmlich für sein Kommen bedankt und erwidert, dass Alexos den Besuch bei seiner Tante in der Tat sehr genoss. Dann war sie davongeeilt. Was auch immer hier vorging: Lady Archimedos wollte offenbar nicht, dass irgendjemand Alexos’ Verschwinden bemerkte.

      Danach hatte Lysander sie mehrmals in ihrem Haus in der Nähe des Turms der Chronisten aufgesucht, aber sie war immer zu beschäftigt gewesen, um ihn zu empfangen.

      Die Botschaft war eindeutig: Lysander war auf sich gestellt.

      Er stellte sich vor, dass Alexos hier auf dem Balkon neben ihm stand und die Ellbogen aufs Geländer stützte, während sein ordentlich frisiertes goldenes Haar in der Morgensonne schimmerte. Du weißt immer, was zu tun ist, sagte Lysander in Gedanken zu ihm. Ich sollte nicht mal Chronist sein – Vater hat mein Zeugnis gefälscht. Du hättest den Posten bekommen sollen.

      Das hier ist wichtiger, erwiderte Alexos. Was liegt dir mehr am Herzen: die Königswahrheit oder die echte Wahrheit?

      Aber wusste der König überhaupt von dem Minotaurus? Immerhin war König Orsino schon lange krank und seit fast einem Jahr nicht mehr öffentlich aufgetreten. Dennoch war er überall für seine bescheidene, freundliche Art und Weisheit bekannt. Lysander konnte sich nicht vorstellen, dass König Orsino wissentlich daran beteiligt war, Menschen an einen Minotaurus zu verfüttern. Er wird dem Ganzen

Скачать книгу