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weiche und prall gepolsterte. Am hinteren Ende des Raums hing ein weißer Vorhang, dessen Rand von lauter kleinen Glöckchen gesäumt war. Zwei Schritte vor dem Vorhang stand ein ausgestopfter Tiger. Er stand parallel zum Vorhang. Den Kopf aber hatte er dem Besucher zugewandt und sah ihn mit seinen grünen, starren Augen bedrohlich an. Neben dem Tiger standen mehrere Schüsselchen, Fläschchen und Schachteln auf dem Boden. Durch den weißen Vorhang schien ein seltsames, milchiges Licht. Es wurde von den zahlreichen Mobiles reflektiert, die von der tiefen Decke hingen und leise klimperten.

      Obwohl draußen auf dem Jahrmarkt die Sonne schien, kam sich jeder Besucher des Orakulum Spektakulum wie in Tausendundeiner Nacht vor. Die Zeit schien stillzustehen. Die Luft flimmerte vor Geheimnissen.

      So ging es auch Daka und Silvania Tepes. Auf Drängen von Helene hatten sie sich eine Eintrittskarte gekauft. Jetzt standen sie auf dem flauschigen Teppich dicht beieinander und sahen sich um, ohne sich von der Stelle zu rühren. Zum ausgestopften Tiger hielten sie gebührenden Abstand.

      „Was machen wir jetzt?“, flüsterte Silvania.

      „Klingeln“, meinte Daka.

      Silvania sah sich um. „Keine Klingel da.“

      Daka stieß an ein Mobile. Es klimperte. „Hallo?“, rief sie laut.

      „Hallo! Ist da wer?“, rief Silvania.

      „Herr Orakulum?“, rief Daka.

      „Oder Frau Spektakulum?“, rief Silvania.

      Bis auf die leise Musik und das Geklimper der Mobiles blieb es still im Raum.

      „Vielleicht hat uns das Spektakulum Orakulum nichts zu sagen“, meinte Daka.

      Silvania nickte ernst. „Wir sind ein zu schwieriger Fall.“

      Plötzlich bimmelten die Glöckchen am weißen Vorhang und ein Mann trat hindurch, beziehungsweise schwebte er – so sah es zumindest aus. Er war etwas rundlich und trug eine weite cremefarbene Stoffhose, die am Bauch und an den Fußfesseln mit breiten roten Bändern zusammengebunden war. Die Füße waren nackt. Die Zehennägel rot lackiert. Den Oberkörper schmückte ein leichtes weißes Hemd, das nur am Bauch mit einem Knoten zusammengebunden war. Auf der Brust baumelte eine Kette aus bunten Steinen. Die Kette reichte bis zum Bauch, der sich wie bei einer Schwangeren wölbte. Auf der Brust war eine Narbe zu erkennen. Seine Haare waren von einem turbanähnlichen roten Knäuel bedeckt. Der Mann trug eine Nickelbrille, hatte eine kleine runde Nase und einen schönen Mund mit vollen Lippen. Die kleinen Augen hinter der Nickelbrille funkelten neugierig, als er die Zwillinge erblickte.

      „Tretet näher, tretet näher, verehrte Lebenshungrige und Sinnsuchende“, sagte der Mann und machte dabei drei kleine Balletthopser.

      Silvania und Daka musterten den Mann.

      Silvania musste bei dem Anblick an den großen Gymnastikball denken, auf dem Tante Karpa immer durchs Wohnzimmer rollte.

      Daka erinnerte der Mann an ein Wildschwein. Vielleicht lag es an den Brusthaaren.

      Die Schwestern warfen sich einen fragenden Blick zu. Schließlich zuckte Daka mit den Schultern. Gemeinsam traten sie vor.

      „Mein Name ist Ali Bin Schick.“ Der Mann verbeugte sich. Dabei hielt er mit einer Hand den Turban fest und beschrieb mit der anderen einen weiten Bogen.

      „Daka Tepes“, sagte Daka und holte aus, um Ali Bin Schick eine Kopfnuss zu geben. Silvania hielt sie in letzter Sekunde zurück.

      „Silvania Tepes“, sagte sie und machte einen Knicks.

      Ali Bin Schick lächelte und deutete auf zwei Kissen, die vor dem ausgestopften Tiger lagen. „Nehmet Platz!“

      Daka und Silvania setzten sich.

      Ali Bin Schick kniete sich hinter den Tiger. Er legte die Hände mit gespreizten Fingern aneinander. Die Nickelbrille war ihm auf die Nasenspitze gerutscht und er musterte seine beiden neuen Kundinnen. Erst Daka Tepes. Ganz langsam. Von der obersten dunklen Haarspitze bis zu den Sohlen der Gummistiefel. Dann Silvania Tepes. Ganz langsam. Vom oberen Hutrand bis zum Absatz der Stiefeletten. Dabei nickte er und brummte „hm, hm, hm“.

      Die Zwillinge saßen stocksteif auf den Kissen. Daka wagte nicht zu zwinkern und Silvania nicht zu schlucken.

      Auf einmal klatschte Ali Bin Schick in die Hände.

      Daka zwinkerte dreimal hintereinander.

      Silvania verschluckte sich.

      „Beginnen wir mit den Weissagungen“, sagte Ali Bin Schick. „Wagen wir den Blick in die Zukunft. Lüften wir den Schleier des Schicksals.“ Ali Bin Schick zeigte auf Dakas und Silvanias Füße. „Bitte frei machen.“

      Daka sah den Wahrsager mit großen Augen an. Meinte er, sie sollten sich eine Briefmarke auf die Füße kleben, oder …

      „Wir sollen unsere Schuhe ausziehen?“, fragte Silvania.

      Ali Bin Schick nickte und machte ein ernstes Gesicht.

      „Warum?“, fragte Daka.

      „Heidewitzka! Damit ich Fußlesen kann, selbstverständlich.“

      „Fußlesen?“ Silvania zog die Augenbrauen hoch.

      „Verwechseln Sie da vielleicht etwas?“, fragte Daka.

      Ali Bin Schick warf Daka einen tadelnden Blick zu. „Ich? Etwas verwechseln? Tze! Ich bin ein absoluter Profi, was Wahrsagungen und Wünsche betrifft.“

      Daka nickte schnell. „Klar. Ich meine ja nur, jeder kann doch mal etwas verwechseln … Ich habe zum Beispiel schon einmal einen Stein mit einem Stück Blutwurst verwechselt und mir beinahe einen Zahn ausgebissen.“ Allerdings hatte Daka noch nie ihre Füße mit ihren Händen verwechselt.

      Ali Bin Schick stand auf und tänzelte zu den Schüsselchen, die neben dem Tiger standen. „Die Fußlesekunst ist eine der ältesten Künste der Menschheit. Da sie sehr komplex und anspruchsvoll ist, ist sie zugunsten der viel einfacheren Handlesekunst mehr und mehr zurückgedrängt worden. Dabei verraten die Füße eines Menschen viel mehr über seinen Charakter und sein Schicksal. Die Füße sind bei jedem Menschen ganz individuell ausgeprägt. Sie dokumentieren seinen Lebensweg. Welches Körperteil, wenn nicht die Füße, sollte bloßlegen, wohin ein Mensch in Zukunft geht, welche Schritte er wagt, welche Stolpersteine auf ihn zukommen, welche Berge er erklimmen wird?“ Ali Bin Schick stemmte die Hände in die breite Hüfte. Er sah die Zwillinge herausfordernd an.

      Die Zwillinge starrten den Wahrsager an und nickten gleichzeitig.

      „Hände sind trügerisch. Sie werden viel zu oft gewaschen, eingeseift und eingecremt“, fuhr Ali Bin Schick fort. Er stellte zwei kleine Schüsseln mit Wasser vor die Schwestern. Neben die Schüsseln legte er zwei Handtücher. „Füße dagegen lügen nie. Sie spüren jeden Schritt im Leben. Manche bekommen Hornhaut, Warzen oder Hühneraugen. Es gibt schöne Füße, Plattfüße, Knickfüße, Schweißfüße …“

      Silvania rümpfte die Nase.

      Daka beugte sich vor und versuchte, in ihre Gummistiefel zu riechen.

      „… aber alle Füße sagen die Wahrheit. Sie können gar nicht anders.“ Ali Bin Schick zuckte mit den Schultern und lächelte. „Also“, sagte er und deutete auf die Füße der Zwillinge. „Frei machen, säubern, abtrocknen und auf den Tigerrücken legen, bitte sehr.“

      Daka und Silvania zögerten. Sie hatten noch nie von Fußlesen gehört. Vielleicht war es in Transsilvanien einfach nicht so verbreitet wie in Deutschland. Obwohl dort sehr auf die Pflege und Bewahrung alter Traditionen und Künste geachtet wurde. Aber das Fußlesen – eine der ältesten Künste der Menschheit – schien in Transsilvanien in Vergessenheit geraten zu sein.

      Silvania streifte schließlich als Erste die schwarzen Halbstiefel ab und zog die langen roten Kniestrümpfe aus. Wenn man in Deutschland die Füße las, dann wollte sie sich auch die Füße lesen lassen. Sie wusch die Füße in dem lauwarmen Wasser. Es roch angenehm fruchtig. Dann trocknete sie die Füße ab und legte sie auf den Tigerrücken.

      Ali Bin Schick kniete sich von der anderen

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