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wir aber böse, so werden wir verflucht und verzaubert in Werwölfe. Die Wurzeln von Märchen und Volkslied gehen bis tief in die heidnische Vorzeit zurück, da des Menschen Frömmigkeit vom Diesseits, seine Augen von Sonne, Himmel und der weiten, weiten Welt ganz erfüllt waren. Ihm war der Tod nur eine andere Art des Lebens. Verwandlung. Eine Tür fällt ins Schloß, und eine andere geht auf. Auf Tag folgt Nacht, aber wieder Tag. Er war nicht zerrissen in Leib und Seele. Die waren eins. Die Märchen und Lieder sind so bunt wie die Natur selbst. Wie die Sonne über Gerechte und Ungerechte scheint, so fühlt der Dichter mit allen seinen Kreaturen, auch den erbärmlichsten. Irgendein armseliger Straßenräuber (der arme Schwartenhals) steht ihm so nahe wie die zwei Königskinder, die zueinander nicht kommen konnten, »das Wasser war viel zu tief«. Goethe ist ohne das deutsche Volkslied, Volksmärchen, Volksepos nicht zu denken. Er steht auf den Schultern von tausend anonymen Autoren, die kommen mußten, damit er kommen konnte. Im 15. und 16. Jahrhundert wurde der Grundstock gelegt zu jenem Gebäude des 18. Jahrhunderts voll vollendeter Klassizität, das den Namen Goethe tragen sollte. Aber auch Matthias Claudius, Clemens Brentano, Eichendorff, Heine haben mit den Bausteinen gearbeitet, die jene bescheidenen Männer schichteten. Vielleicht sind ihre Werke der lauterste Ausdruck des deutschen Kunstwillens und des deutschen Geistes, der dann am tiefsten ist, wenn er aus dem Unbewußten steigt, dann am reinsten, wenn er aus den dunkelsten Quellen schöpft. Diese Dichter ohne Namen tragen den Himmel in ihren Händen, aber sie stehen mit beiden Beinen fest auf der Erde.

      Die Entwicklung des Menschengeschlechtes geht in Wellenbewegungen vor sich, wobei Wellenberg und Wellental einander folgen und der Scheitelpunkt des Wellenberges sich nur langsam erhöht. Mit Walter von der Vogelweide, Gottfried von Straßburg, Wolfram von Eschenbach und dem Nibelungenliede hatte die junge deutsche Dichtung eine Höhe erreicht, von der sie bald kläglich wieder abstürzen sollte. Das Rittertum zerfiel und mit dem Rittertum die Ritterpoesie. Teils artete sie in allegorische Spielerei, teils in aufgeblasene Geckigkeit aus. Die Dichtung floh barfüßig und barhäuptig auf die Landstraße und fristete im Munde der Fahrenden von Dorf zu Dorf, von Haus zu Haus ihr Leben. Ins 15. und 16. Jahrhundert fällt die Blütezeit des deutschen Volksliedes. Zuweilen nahm sie ein Kloster auf, Dann sangen die Nonnen ein Lied, wie das geistliche Trinklied der Nonnen am Niederrhein. Zuweilen fand sie Unterschlupf bei braven Bürgersleuten. Das Bürgertum war im Aufstieg begriffen. Es gab wohlhabende Bürger, deren Söhne sich das Dichten leisten konnten. Sie meinten, die Dichtung würde sich hinter dem Ofen, in der Wärme, in dem Dunst satter Behäbigkeit recht wohl fühlen. Sie stopften ihr den Magen mit allerlei guten Dingen, aber sie taten des Guten zuviel, daß sie erbrach. Von der graziösen Handhabung der Sprache durch Meister wie Gottfried oder Walter blieb nicht viel übrig. Der Rhythmus fiel auseinander – was Hebung, was Senkung –, man zählte einfach die Silben zusammen. Aus dem Minnesang erwuchs der Meistergesang. Der Tiroler Oswald v. Wolkenstein († 1445) versuchte noch einmal den ritterlichen Pegasus aufzuzäumen. Er brach unter ihm zusammen; seine Zeitgenossen nahmen das Zaumzeug und schnitten die Flügel von dem verendenden Tier. Sie klebten sie ihren plumpen Dorf- und Stadtgäulen an und bildeten sich nun ein, sie würden fliegen. Die ritterliche Rüstung schepperte als viel zu groß um ihre dürren Glieder. Auch wagten sie, ihrer Unzulänglichkeit irgendwie bewußt, schon nicht mehr einzeln als Individualisten aufzutreten. Sie dichteten kollektiv gleich in ganzen Gruppen, Gilden und Vereinen. Sie imitierten die Form ohne den Geist. Diese Form ist lehr- und lernbar. Man wird, wie beim Handwerk, erst Dichterlehrling, dann Dichtergeselle, dann Dichtermeister. Wobei Dichter- und Bäckermeister oft dasselbe sind. Aber die Brote geraten ihnen besser als die Gedichte. In den Meistersingerschulen wurde nach der Tabulatur das Dichter-Abc gelehrt. Um 1450 wurde die erste Meistersingerschule in Augsburg gegründet. Wenige Jahre später finden sie sich in fast allen größeren Städten. Sie fechten Wettkämpfe miteinander aus. Sie überbieten sich in der Erfindung verschrobener und gekünstelter Versmaße. Der Vollender und Überwinder des Meistersanges ist Hans Sachs, geboren 1494 in Nürnberg, das eine der berühmtesten Meistersingerschulen sein eigen nannte. Hans Sachs war Schuhmacherlehrling, als ihm der Weber Nunnenbeck die Anfangsgründe der Meistersingerkunst beibrachte. Er ging wie ein rechter Schuster auf die Wanderschaft, kehrte, nachdem er so viele Erfahrungen gesammelt als er Schuhe besohlt hatte, 1519 in seine Heimat zurück, die durch Peter Vischer und Albrecht Dürer zu einem Haupt- und Vorort deutscher Kultur geworden war. Seine eigentlichen Meistergesänge (über 4000) sind unbedeutend, da und dort überraschen sie durch ein originelles Bild oder eine witzige Wendung. Freier entfaltet sich sein Talent schon in seinen Sprüchen (etwa 1800), die in ihren kurzen Reimpaaren klingen, als wären sie mit dem Schusterhammer zusammengeklopft. Hans Sachs war einer der ersten, die sich in Nürnberg zu Luther bekannten. Einzigartig zeigt er sich in seinen (über 1000) Schwänken und Fastnachtsspielen. Sein Humor ist der Humor der deutschen Seele. Seinen Witz hat er aus seiner Handwerksburschenzeit bis in sein 82. Jahr hinübergerettet. Er hat es in seinen Schwänken auf moralische Wirkung abgesehen, aber diese moralische Wirkung erstickt in einem Gelächter oder tritt zurück hinter dem Wie der Darstellung. Wir nehmen die Menschen aus seiner Hand entgegen wie aus Gottes Hand: so wie sie sind: gut und böse. Wie langweilig wäre die Welt, wenn alle Menschen brav wären und alle eine moralische, einheitliche graue Tugenduniform trügen. (Gott selber würde sich zu Tode langweilen und kurz vor seinem Tode noch den Teufel neu erschaffen.) Wenn es nur noch Hasen auf der Welt gäbe und keinen Fuchs mehr, der den Hasen frißt, und keinen Jäger, der sie beide schießt und sich den Hasen braten läßt! Dies nur nebenbei zu Hans Sachs.

      Die Welt krachte damals in allen Fugen. Die ersten Wehen der Reformation kündeten eine neue Ära an. Sebastian Brant aus Straßburg (1458–1521) hatte als Sohn eines Gastwirtes früh offene Augen für die Lächerlichkeiten und Laster seiner Mitmenschen bekommen. In Übergangszeiten, wo die Begriffe schwanken und wie Karten eines Kartenspieles durcheinandergemischt werden, pflegen sich alle närrischen Eitelkeiten der Menschheit wie in einem konkaven Spiegel noch ins Breite zu verzerren und zu vergröbern. Sebastian Brant studierte Recht – ohne es irgendwo zu finden. Er promovierte an der Universität Basel. 1494 erschien sein »Narrenschiff«. Auf dieses hatte er alle Narren zu Gast gebeten, die er nur auftreiben konnte. Aber das Schiff erwies sich als zu klein. Die Säufer, die Gecken, die Spieler, die Kirchenschänder, die Geizhälse, Wucherer, Studenten, Ehebrecher, Huren füllten es bis an den Rand. Auch du, lieber Leser, und ich, wenn wir nur ein wenig in uns gehen und nachdenken: wir befinden uns unter jenen Narren. Sebastian Brant hat uns, fünfhundert Jahre, bevor wir geboren wurden, trefflich abkonterfeit. Aber es ist ein Bild, das wir uns nicht hinter den Spiegel stecken oder unserer Base zum Geburtstag schenken werden. – Zwanzig Jahre nach dem Narrenschiff legte Knecht Rupprecht 1519 den Deutschen die erste Ausgabe des Volksbuches von Tyll Eulenspiegel auf den Weihnachtstisch. Die hatten eine Freude wie wohl seit hundert Jahren nicht über ein Buch. Noch im 16. Jahrhundert erschienen achtzehn deutsche Ausgaben; es wurde sofort ins Vlämische, Niederländische, Englische und Französische übersetzt. Woher dieser spontane Erfolg? Brants Narrenschiff war eine mehr oder weniger literarische Angelegenheit gewesen, im Eulenspiegel sah und lachte das Volk sich wieder einmal selber ins Gesicht. In allen Fastnachtskomödien war er ja schon als Kasperle oder Hanswurst figürlich aufgetreten, hier hatte man seine in wohlgesetzte Worte gebrachte Biographie des komischen Heldenlebens. Eulenspiegel, der ernsthafte Schalk, ist die Typisierung der einen Seite des deutschen Ideals, dessen andere Seite (ob Rück- oder Vorderseite der Medaille bleibe dahingestellt) den Doktor Faust, titanischen Ringer um die letzten Probleme, zeigt. Eulenspiegel tritt auf als Richter der Menschheit: er richtet sie mit einem schiefen Zucken seines Mundes, mit der sofortigen Realisierung ihrer Ideen, deren Wert und Möglichkeit dadurch ad absurdum geführt werden. Er ist zugleich leicht- und tiefsinnig. Seine Späße exemplifizieren das Chaos. Sie dozieren bis zur Brutalität das Bibelwort: Der Mensch ist aus Dreck gemacht. Das Urbild des Tyll Eulenspiegel hat wirklich gelebt. Chroniken berichten von seinem 1350 zu Mölln erfolgten Tode, wo noch heute sein Grabstein gezeigt wird. Vorher waren schon Schwankbücher wie Jörg Wickrams »Rollwagenbüchlein« oder des Bruders Johannes Pauli »Schimpf und Ernst« (1522) Mode geworden: Bücher, die heitere oder moralische Anekdoten erzählten, die sich nicht um einen einzelnen Narren gruppierten: die damalige Reiselektüre, auf den Rollwagen mitzunehmen. Wobei zu bemerken ist, daß diese Reiselektüre unendlich gehaltvoller war als die heute verbreitete. Bruder Johannes Pauli ist ein belesener und witziger Mann, der ausgezeichnet zu erzählen vermag und unsere Stratz und Höcker

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