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hatte, erinnerte sie sich an etwas Besonderes. Sie war mit der Mutter in eine andere Stadt gefahren, um Mutters Freundin zu besuchen. Die Freundin war nicht zu Hause, also spazierten sie durch die Stadt, liefen durch den Uferpark und am Strand entlang, dann wieder zurück, aber immer noch machte niemand auf.

      In der Nähe gab es ein Internat, und sie setzten sich auf eine Bank im Schulhof. Kinder liefen herum. Sie spielten ein Spiel. Nadja kannte es nicht. Die Kinder bestimmten einen, der dran war[44]. Sie sammelten Zweige im Hof zusammen. Legten ein kleines Brett schräg auf einen Ziegelstein. An dem einen Ende des Brettes häuften sie die Zweige auf. Ein Kind trat auf das Brett, und während der, der dran war, die rundum verstreuten Ästchen einsammelte, rannten die anderen in alle Richtungen davon. Als der Junge endlich alle Stöckchen wieder auf das Brett gelegt hatte, ging er los, um die anderen abzuschlagen. Allerdings konnte derjenige, hinter dem er her war, zum Brett rennen, drauftreten und wieder weglaufen, und dann musste er aufs Neue alle Stöckchen einsammeln. Kurz, das Spiel war für den, der dran war, die reinste Folter: Er musste das Holzbrett nach allen Seiten verteidigen. Nadja tat er leid – ein dicker, keuchender Junge, dessen Lippen sich beim Rennen vorwölbten, die Backen schlackerten, das Gesicht war verzerrt, als würde er weinen – ihr tat der Kopf weh.

      Über dem Schulhof stieg Staub auf und legte sich langsam zu ihren Füßen nieder. Oben, in der Krone einer Akazie, gurrte eine Turteltaube. Ein Borkenkäfer, lackiert und gesprenkelt wie ein Stückchen Sternenhimmel, plumpste vom Baum herunter und zappelte jetzt heftig und kitzelig in Nadjas Hand.

      Zwei Mädchen rannten dem Dicken davon und versteckten sich neben ihnen. Sie schnauften und greinten, kamen mal hinter der Bank hervor, liefen dann kreischend wieder zurück. Eines der Mädchen sah mehrmals zu Nadja hin, achtete dann aber, vom Spiel gebannt, wieder auf den Jungen.

      Die Mutter sagte:

      »Diese Kinder haben keine Eltern. Niemand achtet darauf, dass sie nach dem Unterricht die Schulkleidung ausziehen, sie tragen sie auch beim Spielen.«

      »Mama, wo sind denn ihre Eltern?«

      In diesem Moment kam das Mädchen hinter der Bank hervor und sah Nadja direkt ins Gesicht.

      »Du bist bekloppt, stimmts?«

      Der Dicke kam angerannt, schlug dem Mädchen auf die Schulter, das andere Mädchen kreischte auf, genau über Nadjas Ohr.

      Alle stürmten davon.

      Nadja verließ mit der Mutter den Schulhof. Es war an der Zeit, nachzusehen, ob Tante Alja nicht zurück war.

      Am Tor stand ein kleiner Junge in der prallen Sonne. Er weinte und wischte sich mit den kleinen Fäusten die Tränen ab.

      Die Mutter fragte ihn:

      »Kindchen, warum weinst du denn?«

      Der Junge sah sie an und heulte noch lauter.

      Die Mutter hockte sich vor ihn.

      »Willst du mir nicht sagen, warum du weinst?«

      Er sagte schluchzend:

      »Gestern sollte mich meine Mama besuchen kommen. Ich warte auf sie. Sie hat versprochen, dass sie mir Buntstifte kauft.«

      Die Mutter stand auf und nahm den Jungen bei der Hand.

      »Komm, mein Junge, wir gehen. Deine Mama hat mir gesagt, dass ich dir Buntstifte kaufen soll. Komm.«

      Sie gingen zusammen zur Buchhandlung.

      Im Laden waren die Fenster mit schweren Samtgardinen verhangen, deshalb war es kühl. Es roch nach Buchrücken, Holzleim und Gouachefarben. Ein greller, satter Lichtstreifen voller herumwirbelnder Staubteilchen bahnte sich seinen Weg durch die Vorhänge, lief keilförmig über den Boden, warf eine Linie quer über das Gesicht des Jungen.

      Er starrte stur vor sich auf den Boden.

      Die Mutter erstand in der Schreibwarenabteilung drei Filzstifte, eine Packung Buntstifte, ein Lineal, einen Radiergummi und ein Malbuch.

      Nadja sah die ganze Zeit den Jungen an.

      Draußen kaufte die Mutter beiden ein Glas Sprudelwasser mit einer doppelten Portion Sirup.

      Die Zähne des Jungen schlugen ans Glas. Hin und wieder schüttelte ihn ein Seufzer.

      Sie brachten ihn zurück.

      Er lief über den Schulhof – klein, schmächtig, verheult.

      Die Stifte trug er behutsam auf dem Malbuch.

      Einmal blickte sich der Junge um.

      Nadja sah sein vom Weinen verzerrtes Gesicht.

      Zoologischer Garten

      XXVIII

      Nadja setzte sich manchmal einfach nur auf einen Stuhl oder auf die bloße Kante – brav, würdevoll, aufrecht, legte die Hände auf die Knie, von Zeit zu Zeit seufzte sie, schaute nach oben, lächelte ein wenig, mit strahlenden Augen, rutschte, ruckelte wieder und wieder auf dem Stuhl herum, holte tief Luft und war von stiller, erwartungsvoller Freude durchdrungen. So saß sie manchmal stundenlang da, die weit geöffneten Augen auf ein unsichtbares Glück gerichtet.

      Nadja war nicht von der feigen Sorte, aber ungeschickt. Machte vieles nicht so, wie sie wollte, und wenn sie etwas sagte, dann war es irgendwie komisch oder nicht das Richtige. So liebte sie auch Wadja – unbeholfen: Sagen kann sie nichts, stattdessen bespringt sie ihn, fällt im Spiel über ihn her, spielt, kitzelt: Liebt, lacht und fängt dann plötzlich an zu weinen, weint aus Scham, brummt, lächelt, wimmert, streichelt Wadja – und hat auch Mitleid mit ihm.

      Eine Zeit lang träumte Nadja davon, wie sie ein Zimmer mieten, dass sie einen eigenen Haushalt, eine elektrische Herdplatte haben würden; dass sie sich ein Kätzchen zulegen und ihm aus dem abgeschnittenen Boden einer Milchpackung zu fressen geben würde. Die Krönung des Alltags bestand für Nadja im Besitz einer elektrischen Herdplatte.

      In Pskow hatten Mama und sie eine besessen: Zwei Schamottesteine mit einer geschlängelten Rille, durch die sich die Heizspirale wand. Über der Platte, ganz verzückt von dem durchsichtigen Glühen, wärmte sich Nadja die Hände und röstete Brot. An frischem Brot würgte die Mutter, an geröstetem zu lutschen, fiel ihr leichter.

      Wadja wollte nichts von einem Zimmer wissen, ihm war unklar, warum man für einen leeren Raum Geld zahlen sollte. Er war vollauf zufrieden mit trocken Brot (ihre Verpflegung bestand vornehmlich aus Brot und Kondensmilch) und einem Nachtlager auf Dachböden oder in verlassenen Waggons.

      Zwar gab es immer weniger zugängliche Treppenhäuser, aber bis zum Winter würden sie schon etwas finden: Die Presnja war groß, es gab das Strelbischtschenski-Viertel, die alten Arbeiterbaracken am Schmitowski Projezd. Und schlussendlich die warme Toilette auf dem Georgischen Platz, zu deren Aufseherin, Sejnab, Wadja einen besonders guten Draht hatte[45]. Dort lungerte er gern herum, goss sich im Dienstkabuff Heißwasser ein, manchmal auch Kaffee, und hockte unter der Heizung im Warmen (kleine, gut beheizte Räume wurden von den Obdachlosen immer geschätzt).

      Nur krank werden durfte man nicht. Krankheit verdammte einen zum Tod; die Straße duldet keine Kranken – man wird verlassen, vergessen.

      Trotzdem sparte Nadja heimlich, und damit Wadja ihr das Geld nicht abnahm, trug sie es nicht bei sich, sondern versteckte es. An einem unzugänglichen Ort, bei der Bärin. Dorthin brachte sie auch den Kunstband von Matisse.

      XXIX

      Ihr Leben in der Presnja war in vielerlei Hinsicht mit dem Zoo verbunden. Angefangen hatte es damit, dass Nadja eines Sonntags bei Sonnenaufgang vom Dachboden heruntergestiegen und zum Platz des Aufstandes geschlendert war.

      Sie verpasste keinen Sonntagmorgen. Führte ständig einen Kalender, trug auf einem Block Reihen mit Buchstaben und Zahlen ein.

      Sie klammerte sich an die Kalendermarken wie ans Leben, und wenn sie einen Tag verpasste – oder nicht sicher war, ob sie einen verpasst hatte oder nicht – war es für sie eine wahre Pein, so sehr quälte sie die Ungewissheit. Die Bindung an die Tage war

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<p>44</p>

j-d ist dran (разг.) – подошла чья-либо очередь, чей-либо черёд

<p>45</p>

einen guten Draht zu j-m haben – быть в хороших отношениях с кем-либо, хорошо относиться к кому-либо