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      Ihm stockte der Atem, denn vor ihm stand die schönste Frau, die er je gesehen hatte. Sie wirkte alterslos – sowohl alt als auch jung, ihre Haut war makellos, ihr Gesicht strahlte. Sie lächelte ihn liebevoll an. Ihr langes, blondes Haar reichte ihr bis zur Taille, sie hatte große, graue Augen und ihre Wangenknochen und ihr Kiefer ähnelten seinem. Was Thor am meisten überraschte, war die Tatsache, dass er seine Züge in ihrem Gesicht wiedererkennen konnte – nicht nur die Augen, Wangen und der Kiefer, sondern auch ihre Lippen, der Schwung ihrer Brauen und ihre Stirn. In gewisser Weise war es so, als würde er sich selbst ins Gesicht sehen – oder Alistair. Sie ähnelte Alistair fast wie ein Ei dem anderen.

      Thors Mutter trug eine weiße Seidenrobe und einen Umhang, dessen Kapuze zurückgeschlagen war. Sie trug keinen Schmuck, und hatte ihre Hände zur Seite ausgestreckt. Thor konnte eine intensive Energie spüren, die von ihr ausging, intensiver als er es je zuvor gespürt hatte. Es fühlte sich an, als würde die Sonne ihn umschließen. Als er vor ihr stand und in ihrer Energie badete, spürte er Wellen der Liebe, die von ihr ausgingen. Nie zuvor hatte er eine derart bedingungslose Liebe und Akzeptanz gespürt. Er war zu Hause.

      Als er hier vor ihr stand, fühlte Thor sich ganz, gerade so, als ob auf der Welt alles in Ordnung war.

      „Thorgrin, mein Sohn“, sagte sie.

      Es war die schönste Stimme, die er je gehört hatte. Sanft hallte sie vom uralten Gemäuer des Schlosses wider und klang, als käme sie direkt vom Himmel. Thor stand wie angewurzelt da, wusste nicht, was er tun oder sagen sollte. War das real? Einen Moment lang fragte er sich, ob nicht auch das hier eine Kreation des Lands der Druiden war, nur ein weiterer Traum, sein Geist, der ihm wieder einen Streich spielte. Er hatte sich so lange danach gesehnt, seine Mutter in den Arm zu nehmen. Er machte einen Schritt auf sie zu, entschlossen herauszufinden, ob es wieder nur ein Trugbild war.

      Thor streckte die Arme nach ihr aus, auch wenn er befürchtete, ins Leere zu greifen. Doch dann spürte er sie – die warme Umarmung seiner Mutter, die ihn umfing. Es war das schönste Gefühl der Welt.

      Sie hielt ihn fest, und Thor war überglücklich zu wissen, dass sie real war. Dass alles real war. Dass er eine Mutter hatte, dass sie wirklich existierte, dass sie in Fleisch und Blut vor ihm stand, in diesem Land der Illusion und Phantasie – und dass sie ihn wirklich liebte.

      Nach einer langen Weile sah Thor sie mit feuchten Augen an, und entdeckte, dass auch ihr Tränen in den Augen standen.

      „Ich bin so stolz auf dich, mein Sohn“, sagte sie.

      Er starrte sie sprachlos an.

      „Du bist am Ziel deiner Reise angekommen“, fügte sie hinzu. „Du hast dich als würdig erwiesen hier zu sein. Du bist zu dem Mann herangewachsen, den ich immer in dir gesehen habe.“

      Thor sah sie an, nahm ihren Anblick in sich auf, immer noch erstaunt darüber, dass sie real war, und wusste nicht, was er sagen sollte. Sein ganzes Leben lang war er so voller Fragen gewesen. Doch nun, da er wirklich vor ihr stand, fehlten ihm die Worte. Er wusste nicht einmal, wo er anfangen sollte.

      „Komm mit mir“, sagte sie, und drehte sich um. „Ich will dir diesen Ort zeigen. Den Ort, an dem du das Licht der Welt erblickt hast.“

      Sie lächelte und streckte ihm eine Hand entgegen, die er dankbar ergriff.

      Seite an Seite gingen sie ins Schloss hinein. Von seiner Mutter schien ein Leuchten auszugehen, das von den Mauern des Schlosses zurückgeworfen wurde. Thor betrachtete alles staunend: Dies war der prachtvollste Ort, den er je gesehen hatte. Die Wände waren aus glitzerndem Gold, alles glänzte, perfekt, surreal. Er fühlte sich, als hätte er ein magisches Schloss im Himmel betreten.

      Sie gingen einen langen Flur mit einer hohen, gewölbten Decke entlang. Der Boden schimmerte im Licht, als bestünde er aus unzähligen Diamanten.

      „Warum hast du mich verlassen?“, fragte Thor plötzlich.

      Es waren die ersten Worte, die er zu ihr sagte, und sie überraschten selbst ihn. Von all den Dingen, die er sie fragen wollte, war aus irgendeinem Grund diese Frage zuerst aus seinem Mund gekommen, und er schämte sich dafür, dass er nichts Netteres gesagt hatte. Er hatte nicht so barsch sein wollen.

      Doch das mitfühlende Lächeln seiner Mutter verließ ihr Gesicht nicht. Sie ging neben ihm her und sah ihn voller Liebe an, und er konnte spüren, dass sie ihn niemals verurteilen würde, egal, was er sagte.

      „Du hast Recht, böse auf mich zu sein“, sagte sie. „Ich muss dich um Vergebung bitten. Du und deine Schwester bedeuten mir alles auf der Welt. Ich wollte euch so gerne hier großziehen – doch ich konnte es nicht. Weil ihr beide etwas Besonderes seid.“

      Sie bogen in einen anderen Flur ab, wo seine Mutter stehen blieb und ihn ansah.

      „Du bist mehr als nur ein Druide, Thorgrin – mehr als nur ein Krieger. Du bist der größte Krieger den es jemals gab und der jemals sein wird – und ebenso der stärkste Druide. Du hast ein ganz besonderes Schicksal; Dein Leben ist dazu bestimmt grösser, viel grösser zu sein, als dieser Ort. Es ist ein Leben und ein Schicksal, das dazu bestimmt ist, mit der Welt geteilt zu werden. Darum habe ich dich in die Welt der Menschen geschickt. Ich musste dich gehen lassen, damit du der Mann werden konntest, der du jetzt bist; damit du die Erfahrungen machen konntest, die du gemacht hast, um der Krieger zu werden, der dir zu sein bestimmt ist.“

      Sie holte tief Luft.

      „Thorgrin, du musst verstehen, dass Abgeschiedenheit und Privilegien keine Krieger hervorbringen – nur Mühe, Leid und Schmerz. Vor allem Leid. Es hat mir das Herz gebrochen, dich leiden zu sehen – und doch, so paradox es auch scheinen mag – das war genau das, was du brauchtest, um zu werden, wer du bist. Kannst du das verstehen, Thorgrin?“

      Zum ersten Mal in seinem Leben verstand er es wirklich. Zum ersten Mal ergab alles einen Sinn. Er dachte an all das Leid, dass ihm in seinem Leben begegnet war: wie er ohne Mutter als Lakai seiner Brüder aufgewachsen war, bei einem Ziehvater, der ihn hasste, in einem kleinen, erdrückenden Dorf, wo er ein Niemand war. Seine Erziehung hatte aus einer Demütigung nach der anderen bestanden.

      Doch nun begann er zu sehen, dass er all das gebraucht hatte; dass all das so vorherbestimmt gewesen war.

      „All dein Leid, deine Unabhängigkeit, dein Kampf, deinen Weg zu finden“, fügte seine Mutter hinzu. „Das war mein Geschenk an dich. Mein Geschenk, um dich stärker zu machen.“

      Ein Geschenk, dachte Thor bei sich. Er hatte nie zuvor so darüber gedacht. Damals war es ihm wie das Gegenteil vorgekommen – doch nun, rückblickend, wusste er, dass es genau das gewesen war. Als sie die Worte aussprach, wusste er, dass sie Recht hatte. All die Widrigkeiten, denen er in seinem Leben begegnet war – sie alle waren ein Geschenk gewesen, das dabei geholfen hatte, ihn zu dem zu machen, was er geworden war.

      Sie gingen weiter durch das Schloss. In Thors Kopf schwirrten unendlich viele Fragen an sie herum.

      „Bist du real?“, fragte er.

      Wieder schämte er sich für seine direkte Frage, und ertappte sich bei Stellen einer Frage, mit der er selbst nicht gerechnet hatte. Doch er verspürte ein brennendes Verlangen, es zu erfahren.

      „Ist dieser Ort hier real?“, fügte er hinzu. „Oder ist all das nur eine Illusion, eine Schöpfung meiner eigenen Vorstellungskraft, wie der Rest dieses Landes?“

      Seine Mutter lächelte ihn an.

      „Ich bin so real wie du“, antwortete sie.

      Thor nickte zufrieden.

      „Du hast Recht, wenn du sagst, das Land der Druiden ist ein Land der Illusion, ein magisches Land in dir selbst“, fügte sie hinzu. „Ich bin sehr real – doch zur gleichen Zeit bin ich, genau wie du, ein Druide. Wir sind nicht so sehr an physische Orte gebunden wie die Menschen. Was bedeutete, dass ein Teil von mir hier lebt, während ein anderer Teil von mir an einem anderen Ort lebt. Darum bin ich immer bei dir, auch wenn du mich nicht

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