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statt die Tür zu benützen. Sie öffnete das Fenster und verspürte fast Lust, auch heute wieder hinauszuspringen und auf dem Hof spazierenzugehen. Am liebsten wäre sie die ganze Nacht mit Ole umhergestreift; aber so etwas verstand er nicht. Vielleicht hatte sie ihn bloß deswegen schon oben verabschiedet, weil er es nicht vorgeschlagen hatte.

      Bei näherem Überlegen getraute sie sich aber doch nicht auf den Hof hinaus. Es geschah nicht selten, daß junge Leute, wenn sie von einer Land- oder Bootpartie oder aus einer Gesellschaft heimkehrten und dabei an dem alten Schulhof vorbeikamen, auf den Einfall gerieten, den alten Spielplatz ihrer Knabenjahre wieder aufzusuchen und sich ein paarmal am Reck zu schwingen; und von halbbetrunkenen jungen Leuten gesehen werden – das wollte sie nicht. Sie nahm ihren Hut ab und blieb – vornübergebeugt – am offenen Fenster stehen – — sah vor sich, was eben geschehen war, und was auch jetzt sie noch hinauszog.

      Da hörte sie draußen Schritte – erst auf der Treppe, dann auf dem Sandweg, der hierherführte. Sollte das Ole sein —? War er so sentimental, daß es ihn trieb, unter ihrem Fenster zu schmachten? Wenn er es wirklich wäre! Gott gnade ihm, wenn er's war! – Sie lauschte in höchster Spannung. Nein – die Schritte waren zu rasch. Das war – — sie fühlte es – — dort stand – — ihr Bruder …

      Ja, es war Edvard. Er war gar nicht verwundert, sie zu sehen; er kam direkt auf sie zu. Als er unter dem offenen Fenster angelangt war, streckte er seine rechte Hand hinauf; und sie nahm sie. Seine Augen schielten ein bißchen – das sicherste Zeichen, daß er erregt war. "Gut, daß Du noch wach bist; ich hätte sonst geklopft." Forschend suchte sein Blick den ihren; er ließ ihre Hand nicht los. "Bist Du eben erst gekommen?" – "Ja, eben erst," – Sie war plötzlich ganz in seiner Gewalt; und hätte er sie um das Unmöglichste befragt – sie hätte antworten müssen, solange diese Augen so in die ihren schauten. "Wie ich Dich unter den Letzten nicht gefunden habe, dachte ich mir, Du wärst zurückgegangen zu Ole." – "Ja." – Er hielt inne; seine Stimme zitterte. "Ich war ein rechter Narr! Ihr seid wohl verlobt jetzt?" – Es dauerte eine Weile, obwohl die Antwort sofort in ihren Augen aufsprühte. "Ich glaube!" sagte sie.

      Voll Liebe, aber auch voll Kummer sah er sie an. Sie hätte am liebsten laut hinausgeweint. War es so töricht, was sie getan hatte? Eine entsetzliche Angst überfiel sie. Da faßte er mit beiden Händen ihren Kopf, zog ihn zu sich nieder und küßte sie auf die Stirn. Sie brach in Tränen aus und legte beide Arme fest um seinen Hals. So lagen sie – Wange an Wange.

      "Na ja – wenn es nun einmal so ist – so wünsch' ich Dir alles Gute, Josefine, liebe Josefine!" Sie umschlangen sich noch fester. Dann ließen sie einander los.

      "Ich geh' heute fort!" flüsterte er und ergriff ihre Hand. Sie reichte ihm alle beide. – "Heut, Edvard?" – " – Ich war ein Narr! Leb' wohl, Josefine!" Sie machte ihre Hände frei, um ihr Taschentuch herauszuziehen und an die Augen zu pressen. "Ich komm' noch und sag' Dir Adieu!" schluchzte sie. "Nein, nein! Du mußt nicht!… Noch einmal!" – Und um ein Ende zu machen, preßte er sie wieder in seine Arme, küßte sie und ging davon, ohne sich umzusehen.

      2

Zweites Paar vor!

      Im März des folgenden Jahres, just als Edvard Kallem vor seinem zweiten medizinischen Examen stand, kamen plötzlich Dinge, die ihn auf ganz andere Art in Anspruch nahmen.

      Und das müssen wir jetzt berichten.

      In der Zeit, als seine zusammenhangslosen naturgeschichtlichen Studien mehr und mehr sich um die Physiologie kristallisierten, war unter allen Physiologen der tüchtigste ein junger Student der exakten Wissenschaften, Tomas Rendalen. Er war etwas älter als Edvard Kallem, und weil es an und für sich merkwürdig war, daß ein Nicht-Mediziner in diesem Fach Hervorragendes leistete, fiel er allen auf, und somit auch Edvard Kallem, ohne daß dieser sich darum näher an ihn angeschlossen hätte. Rendalen gehörte auch keineswegs zu denen, die für den ersten besten zu haben sind.

      Erst später, eigentlich erst jetzt, nach Neujahr, als sie mit demselben Dampfer aus den Weihnachtsferien nach Kristiania zurückfuhren, kam es zu einer Art Annäherung. Aber das erstemal, als Kallem Tomas Rendalen in seiner Wohnung aufsuchte, blieb er auch gleich die Nacht über. Und ein paar Abende darauf, als Rendalen ihn besuchte, wanderten sie zwischen ihren beiden Wohnungen, die übrigens ganz nah beieinanderlagen, auf und ab, bis morgens gegen drei oder vier. Ein so genialer Mensch war Edvard Kallem seiner Lebtag noch nicht unter die Finger gekommen; und Rendalen seinerseits kam eines Morgens, noch ehe Kallem nach der Klinik gegangen war, dahergestürzt, bloß um zu erklären, von all seinen Freunden und Bekannten sei Kallem ihm der liebste.

      Rendalen war eine ursprünglichere, kraftvollere Natur als Kallem; er war eine Mischung von Zahm und Wild, von Leidenschaft, Schwermut, Musik, voll hoher Mitteilungsfähigkeit, aber mit verschlossenen Kammern, die sich selten oder nie öffneten. Eine grenzenlose Energie – und dabei manchmal so von aller Kraft verlassen, daß er überhaupt nicht mehr weiter konnte; die ganze Maschinerie in Unordnung, als wenn ein Rad gesprungen wäre. In der ganzen Charakterlandschaft nicht eine gerade Linie – lauter Unebenheiten, und doch über allem das Licht eines großen Geistes. So unberechenbar die Schwankungen waren, so unangenehm die Enttäuschungen – die ganze Persönlichkeit war in ihrer Unmittelbarkeit, ihrer Geradheit so gewinnend, daß man ihn lieben mußte.

      Sein ganzes Denken ging auf Schulwesen und Erziehung, und darin wiederum auf den einen Kern: jedes Kind über das "gefährliche Alter" wegzubringen, das auf so ganz ungleiche Art sich äußere. Manche gingen daran zugrunde; manche trügen Wunden davon, die erst spät heilten; die mit gesundem Geblüt, unter besseren Verhältnissen Aufgewachsenen, könnten heil ausgehen; aber jedenfalls seien sie in der Minderzahl. Alle Erziehung, aller Unterricht müsse sich auf das eine Ziel konzentrieren: einen sittlichen Menschen zu schaffen. Das war sein A und O.

      Unermüdlich war er im Vortrag seines Unterrichtplans, seiner Behandlungsweise; im Beschreiben der Schuleinrichtung und des Zusammenarbeitens mit der Familie. Seine Mutter war Vorsteherin einer weithin bekannten Mädchenschule an der Westküste, und die wollte er übernehmen, um seine Pläne ins Werk zu setzen. Sein großes Ziel war die Simultanschule – Knaben und Mädchen zusammen. Aber erst hieß es, den Unterricht in allen Hauptfächern reformieren, und zwar so, daß die Fächer leichter gemacht wurden, und nicht bloß zugänglich für die Begabtesten. Und das wollte er an der Mädchenschule ausprobieren.

      Er besaß eine nicht unbedeutende Sammlung von Schulmaterial aus Amerika und vielen europäischen Ländern, einen Schatz, den er unablässig vermehrte. Auch eine ganze Bibliothek von Schulliteratur nannte er sein eigen. Er wohnte mit einem Kandidaten der Theologie, Vangen, zusammen, der zu Weihnachten fertig geworden war und sich jetzt auf das praktische Examen vorbereitete. Alle drei Zimmer, die sie gemeinsam bewohnten, waren angefüllt mit Rendalens Sammlungen und Bibliothek.

      Sein Äußeres war auffallend. Rotes, ins Blonde hinüberspielendes Haar, das starr in die Höhe stand, Sommersprossen, blinzelnde graue Augen unter weißen, kurzhaarigen Brauen, die kaum zu sehen waren, die Nase breit und leise aufwärts strebend, der Mund zusammengekniffen; kurze, sommersprossige Hände, jeder Finger voll Energie; nicht groß, aber vorzüglich gebaut; sein Gang, auf auswärts gerichteten Füßen, war leicht, als gehe er auf Tasten. Er war der erste Turner, wohin er auch kam, und bei jeder Gelegenheit hing er an den Turnseilen. Auch Edvard, der immer gern geturnt hatte, wurde durch ihn zu dreifachem Eifer angespornt; denn Rendalen besaß, wie kein zweiter, die Fähigkeit, andere für das, was er selbst liebte, zu gewinnen. Seine Hauptleidenschaft in dieser Zeit war, auf den Händen zu gehen; und gerade das konnte Kallem zum Entzücken; dies setzte vielleicht der Achtung, die Rendalen vor ihm hatte, die Krone auf.

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