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nicht wußte, was das Wort zu bedeuten habe, legte er es in der für seine Einbildung günstigsten Weise aus und schmückte sich damit.

      Seine Mutter konnte den Hirngespinsten wenig entgegensetzen, denn ihre zurückhaltende und geschehenlassende Natur war überhaupt nicht geeignet, gegen so bestimmte und absurde Neigungen anzukämpfen. Frau Agathe verkehrte selten mit andern Frauen, sie war viel allein und wurde von schlimmen Ahnungen geplagt. Sie hatte etwas Fernhaltendes für Menschen, sei es durch ihre Schönheit – man nannte sie die schönste Frau von Franken –, sei es durch eine angeborene Traurigkeit des Herzens. Herr Ratgeber konnte sich nur in seinen Ausruhestunden lebhafter des Sohnes annehmen. Er war über den größten Teil des Jahres auf Reisen, die Mühseligkeit der Geschäfte stumpfte ihn ab. Er war noch immer von ungeheuern Hoffnungen für die Zukunft erfüllt, obwohl ihm nichts Rechtes gelingen wollte. Er war immer voll von Plänen, Pläne und Entwürfe besaßen eine außerordentliche Macht über sein Gemüt, aber etwas verkettete, verstrickte ihn, er blieb im Kleinen stecken und kam nicht vom Pfennig los. Der beständig sich erneuernde Kummer darüber trug dazu bei, die Stimmung zwischen ihm und seinem Weibe zu verdunkeln, der Ehrgeiz hielt ihn ab, sich mit völliger Offenheit zu geben, und jenes edlere, der gröbsten Notdurft abgewandte Dasein, von dem sie beide vielleicht geträumt, blieb eben ein Traum. Frau Agathe ließ sich nichts merken, alles Leiden preßte sie in ihr dämmerndes Innere zurück, nur bisweilen, etwa in einem Brief an ihre Geschwister, brach es wie ein fahler Blitz hervor, gegen ihren Willen und sie selbst erschreckend.

      Zweites Kapitel

      Noch war der Knabe im Schlaf, im tiefen Schlaf des Unbewußtseins, und höchstens ein Traum ließ ihn Leben ahnen. Spiel war ihm alles, Spieltrieb erfüllte ihn ganz. Abends, wenn er schon im Bette war, die Mutter saß bei der Lampe und nähte, spielte er mit Stahlfedern, gebrauchten Zündhölzern und einigen Bleisoldaten folgendes Spiel. Er hielt die Knie unter dem Deckkissen so gespreizt, daß dieses allerlei Erhöhungen, Falten und Mulden bildete, und darin sah er ein unheimlich zerklüftetes Gebirge mit finsteren Schluchten und schroffen Gipfeln. Die Söldnerscharen begingen die Höhen und Tiefen und kämpften mit Zwergen und wilden Tieren; vom gespensterhaften Schein der Lampe bestrahlt, schwebten Feen über das Bettgebirge, und den Schluß bildete ein gewaltiges Erdbeben, die Geister und Soldaten flehten um Gnade, aber Engelhart war gesonnen, die Rolle des Weltenschöpfers folgerichtig zu vollenden, mitleidlos fielen seine Knie nieder, und das malerische Felsenland ward zur öden Ebene, Weltennacht brach ein. Oft ermahnte die Mutter zum Schlaf, oder Ketti kam und warf eine moralische Bemerkung hin, während sie mit der Herrin die Ausgaben verrechnete. Bevor Frau Agathe in ihr Schlafzimmer ging, pflegte sie eine Weile zu ruhen und zu denken, ihr Kopf mit der hohen Haarkrone beugte sich herab und ein Seufzer war das Ende ihres Sinnens. Woran mochte sie denken? An ihre Einsamkeit? An den frühen Tod?

      Bald wurde an Engelhart eine übergroße Begehrlichkeit bemerkbar, und er glaubte nur in die Welt gesetzt zu sein, um ihre Schätze an seine Brust zu drücken, liebend oder hassend. Wo hätte er auch Grenzen finden sollen? Das Auge ist unersättlich. Einmal hing er seine Lust an eine Orange. Orangen waren teuer, man konnte sie nur beim Konditor haben, aber Engelhart wußte Rat. Er ging um jene Zeit schon in die öffentliche Schule und erhielt jeden Morgen von der Mutter drei Pfennige zum Vesperbrot. Er berechnete, daß er siebenmal kein Brot kaufen dürfe, um in den Besitz der Orange zu gelangen. Das Geld versteckte er in einem heimlichen Winkel, und als die Frist verstrichen war, schlich er aufgeregt und eilig zum Konditor. Es gab ein vielfaches Geklapper, als er seine Kupfermünzen auf den Steintisch legte. Nun geschah es, daß plötzlich sein Vater vor ihm stand, als er den Laden verließ. Herr Ratgeber sagte nichts und Engelhart auch nichts; jeder merkte an des andern Schweigen, wie die Sache stand. Herr Ratgeber löste die mühsam erworbene Frucht aus der umklammernden Hand des Knaben; vom Hause gegenüber sah der Major Friedlein zu, der Tag für Tag von morgens bis abends aus dem Fenster lehnte, eine lange Pfeife rauchte und in seinem pechschwarzen Bart aussah finster wie das Gewissen der ganzen Stadt. Zuhause gab es ein scharfes Verhör und Vorwürfe, auch von der Mutter. Das wäre in Ordnung gewesen, aber von seiner Orange bekam er nichts mehr zu sehen, und es ritzte ihn wie ein giftiger Stachel das Gefühl erlittener Ungerechtigkeit.

      Kurz danach war Weihnachten, und Engelhart begab sich mit Bruder und Schwester auf die Christbaumbesuche. Da sie Juden waren, hatten sie keinen Baum zu Hause, aber mitten unter protestantischen Christen lebend, blitzte die fremde Festtagslust in ihre öden Zimmer, und Sehnsucht trieb sie fort. Wie Bettelkinder gingen sie von Tür zu Tür, wurden überall wohl aufgenommen und mit Lebkuchen und Nüssen beschenkt. Am liebsten verweilte Engelhart dann bei Webers unten im Haus. Da waren zwei Schwestern, Thekla und Selma. Sie waren Waisen und wohnten allein bei der Großmutter. Die Mutter hatte sie unehelichen Standes geboren und hatte ein abenteuerndes Leben durch Selbstmord geendet. Die alte Frau Weber war wunderlich; sie war sehr dick und haßte die Menschen. Daß sie Engelhart und seine Geschwister an den Weihnachtstagen zu sich lud, geschah aus einer Vorliebe, die sie für Frau Ratgeber hegte. Aber sie ließ nicht alle drei zu gleicher Zeit ein; eins mußte nach dem andern kommen und durfte nicht länger als eine Stunde bleiben. In den Zimmern hatte alles ein geheimnisvolles Aussehen. Die Schwestern spielten still vor sich hin, die Großmutter saß auf einem erhöhten Tritt beim Fenster und las in einem dicken Buch, auf dem Weihnachtsbaum strahlten die Kerzenflammen wie zuckende Sternchen.

      Thekla war ein robustes Geschöpf, das den ganzen Tag arbeitete, kochte, Wasser schleppte und die Böden fegte. Die sechsjährige Selma war dagegen zart und fein. Stirn, Wangen und Hände waren weiß an ihr, auch die Haare waren beinahe weiß. Ihr Anblick erschreckte Engelhart. Ähnliches spürte er in der Nacht, wenn er aufwachend die Ruhe der Welt bis ins Herz empfand und hinaushorchend in ihrer Grenzenlosigkeit sich nie zurechtzufinden fürchtete. Einmal kam er an einem Winternachmittag von der Schule zurück und fand niemand daheim. Er läutete mehrmals, die Glocke schrillte wie Gebell durchs Haus, schließlich schritt er langsam besinnend die Treppe hinab, und da er das Gatter bei Webers offen stehen sah, ging er hinein, um zu fragen, wo seine Leute seien. Er hatte Hunger. Er öffnete die Türe der fremden Wohnung und sah nun Selma nackt vor einem Badetrog stehen; ihre Kleider, von Schnee und Schmutz bedeckt, lagen daneben. Engelhart war erstaunt und ergriffen; das Menschenbild gefiel ihm, Selma wandte ihm das Gesicht zu, ihre Augen blickten träg und mißmutig, plötzlich lief sie unhörbar ins Nebenzimmer. Die alte Frau Weber drehte sich auf ihrem Stuhl beim Fenster um, und als sie das demütig bestürzte Gesicht des Knaben gewahrte, lachte sie mit tiefen männlichen Tönen.

      Als es Frühling wurde, durfte Engelhart an Sonntagnachmittagen mit seinem Vater nach Altenberg gehen, einem kleinen Dorf zwischen Nürnberg und Kadolzburg, wo Herrn Ratgebers Vater wohnte. Der alte Ratgeber war Seiler, und oft schaute Engelhart zu, wenn der Greis im steingepflasterten Hof tappend, auf und ab schreitend, seine Stricke drehte. Auf ihm lasteten die Zeit und die Sorge sichtbar. Er war gewöhnlich still und müde, aber ein höherer Glanz ging von ihm aus, wenn er von seiner Gesellen- und Wanderzeit erzählte. Er hatte die Welt gesehen und sprach mit scheuer Verehrung davon. »Als ich im Jahr dreißig nach Wien kam,« sagte er und berichtete, bei welchem Tor er eingezogen und durch welche Straßen er gegangen war. Er meinte, damals sei das Leben noch lebenswert gewesen. ›Im Jahre dreißig,‹ dachte Engelhart; er wußte nicht, daß achtzehnhundertdreißig gemeint sei, und er sah im Großvater eine Figur von mythisch gotthaftem Alter.

      Bisweilen war auch der Bruder des Herrn Ratgeber anwesend. Die beiden Brüder hatten gemeinschaftlich das Geschäft in der Stadt, aber sie waren feindselig gegeneinander gestimmt. Herrn Ratgebers Bruder Hermann war ein Mann, der nichts in der Welt liebte außer seine eigne Person, die aber gründlich. Er pflegte mit selbstzufriedenem Schmunzeln von seiner Geschicklichkeit im Sparen zu sprechen, von seiner trockenen Geschäftspraxis; für die geistig überschauende Art des älteren Bruders hatte er kein Verständnis, er bezeichnete diese Art als phantastisch und ging insgeheim mit dem Plane um, die Firma ganz an sich zu bringen. Er hatte den siebziger Krieg als Trompeter mitgemacht; es war auch in seiner Stimme etwas Trompeterhaftes, aber wenn er schwieg, sah er schlau und schläfrig aus.

      Einmal erzählte Frau Agathe auch von ihren verstorbenen Eltern. Es war an einem schönen Tag im Mai, und Engelhart ging mit der Mutter über die Wiesen jenseits der Maxbrücke gegen die Wolfschlucht. Dort setzten sie sich unter einem Kastanienbaum nieder, Frau Ratgeber nahm ihre Handarbeit, und dann begann sie kameradschaftlich mit dem Knaben zu sprechen;

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