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oder gar bei einem Gewitter in die Klamm einzudringen, um den Heimlichen Grund aufzusuchen! Der Alte legte die Stirn in Falten. Ging das Gewitter vor Nacht nieder, dann würde sich der Klammbach in ein gischtendes Wildwasser verwandeln, das die schmale Schlucht hoch anfüllte; kam es in der Nacht, während sie in der Klamm waren, so brachte es ihnen den sicheren Tod. Im offenen Gelände aber durften sie nicht vordringen. Jeder, der ihnen auf die Spur kam, konnte sie dem Gericht ausliefern. Erst im Dunkeln durften sie den Abstieg wagen.

      Der alte Köhler bangte um die Kinder, die noch das Leben vor sich hatten, und um seine Schwester, die ihnen als Pflegemutter unentbehrlich war. Eilig nestelte er seinen Rucksack auf, in dem er neben dem Feuerzeug und den notwendigsten Werkzeugen den Alraun versteckt hatte. Er öffnete das Kästchen des Schutzgeistes, um sich von ihm Rat zu holen. Da rollten einige Erzstücke, die beim Tragen ihre Lage verändert hatten, dem Alraun auf die verbogenen Füße. Er richtete sich von seinem Lager auf und blieb dann ruhig sitzen, das Gesicht der Klamm zugekehrt. Jetzt gab's für den Alten keinen Zweifel mehr: Der Alraun wies nach der Klamm!

      In der Mittagssonne des überheißen Sommertages überkam den alten Mann eine große Mattigkeit; er wäre eingeschlafen, wenn der Durst ihn nicht so gepeinigt hätte. Rasch weckte er die Schwester.

      Sie rüttelte die Kinder wach und teilte vom geringen Rest an Brot, Speck und Käse aus ihrem Rucksack jedem sein Mittagsmahl zu. Die Kinder schliefen wieder ein.

      Am Spätnachmittag wurden sie unruhig. Zuerst wachte Eva auf, rieb sich die Augen und klagte über Hunger und Durst. Dann erhob sich Peter, holte sein Messer aus der Joppe und begann nach Hirtenbubenbrauch Eberwurzen und Sauerklee in seinen Hut zu sammeln. Hier und dort fand er auch eine Schwarzwurzel. Er selbst kaute während der Arbeit mit vollen Backen, dann bewirtete er mit den flüchtig ausgeschälten Blütenböden der Eberwurzdistel, den noch recht mageren Schwarzwurzeln und dem Sauerklee die anderen.

      Das Gewitter schien den Flüchtenden noch so weit entfernt, daß sie vor seinem Ausbruch durch die Klamm zu kommen hofften. In abergläubischem Vertrauen zum Alraun begannen sie den Abstieg. Als sie bei den Zirbelkiefern des Talgrundes anlangten, ließ ein Knistern im Bodenreisig sie vor Schreck zusammenfahren. Gott sei Dank, es waren keine Verfolger! Zwei Stück Rehwild brachen durch das Jungholz und verschwanden im dunklen Wald. Endlich standen die Flüchtlinge im Bett des Klammbachs, dem einzigen Weg durch die Klamm. Im kühlen Wasser watend, drangen sie durch die Schlucht aufwärts, zwischen den Felswänden durch, die das Murmeln des Baches zum Getöse anwachsen ließen. Gegen das strömende Wasser, das ihnen über die Knöchel, manchmal sogar bis zu den Knien reichte, gingen sie mühsam an. Langsam schritt der Alte voran; seine Rechte tastete die Felsblöcke ab, mit der Linken zog er Peter nach sich, der Eva führte. Die Ahnl folgte als letzte.

      Solange der Widerschein des Mondlichtes auf dem unruhigen Wasserlauf lag, bewegte sich der Alte sicher vorwärts. Als es aber völlig finster wurde und er nicht wußte, ob ein überhängender Fels oder eine Wolke das Licht verdeckte, begann er zu stolpern, so daß er sich wiederholt die Schienbeine blutig schlug. Dann kamen Stellen, wo der Bach über Felsblöcke niedersprühte, die überklettert werden mußten. Das Getöse des stürzenden Wassers schwoll an solchen Stellen betäubend an und machte jedes Wort unverständlich. Als der erste Blitz die Finsternis erhellte und ein lang nachrollender Donner das Losbrechen des Gewitters anzeigte, wurde dem Alten bewußt, daß von der Schnelligkeit ihrer aller Leben abhing. Je höher sie in der Klamm emporkamen, desto schwieriger wurde das Vordringen. Stärker rauschte das Wasser, das nun steiler fiel. Dazu gesellte sich das Scheuern und Anschlagen des vom Bach geschobenen Gerölls; von den nahen und fernen Felswänden kam der Schall tausendfach gebrochen als Nachhall und Widerhall zurück.

      Plötzlich flammte wieder grellweißes Licht auf und zerriß für einen Augenblick die schwarze Nacht. Unmittelbar darauf erzitterte die Luft von einem Donnerschlag. Ihm folgte ein scharfes Knattern und grollendes Rollen. Das Gewitter war da. Blitz folgte auf Blitz, ein Donnerschlag löste den anderen ab.

      Dann setzte ein Platzregen ein. Lange, lange strömte es herab. Die Ahnl warf den Rucksack und die regenschweren Überkleider ab; die Kinder folgten ihrem Beispiel. Es galt, das nackte Leben zu retten.

      Gegen die anschwellende Ache ankämpfend, dachten die Alten an nichts anderes als an das steigende Wasser und an die unausbleiblichen Steinschläge.

      Da — ein Knattern, das Gepolter stürzender Felsblöcke und ein Aufklatschen im Wasser, das hoch aufspritzte. Steinschlag!

      Der Alte drehte sich nach den Kindern um und winkte ihnen zu, sich seitwärts zu halten, wo die vorspringende Felswand den Bach schirmte. Im nächsten Augenblick brach er zusammen, niedergeschlagen von einer schweren Steinplatte, die ihn im Bach begrub. Die Kinder standen wie versteinert da. Die Ahnl aber faßte sie an den Händen und zog sie fort, vorbei am überfluteten Grabstein.

      Die Felsen nahmen in der wachsenden Tageshelle bestimmte Umrisse an; durch den feinen Nebel, der die Schlucht erfüllte, sahen die Überlebenden den nahen Ausgang.

      Was an Kraft noch in ihnen war, boten sie auf. Dort vorne winkte die Rettung: der Heimliche Grund!

      Im Spalt, den oben weit vorhangende Felsen überdachten, nahm das Licht eine grünliche Färbung an. Noch wenige Schritte im Geröll neben dem Bach, und sie atmeten erleichtert auf: Vor ihnen lag der Heimliche Grund — ein weiter Talkessel, rings eingeschlossen von hohen Felswänden, an deren Fuß sich schräge, stellenweise mit Nadelbäumen bewachsene Schutthalden hinzogen! Der schotterige Grund aber, durch den sich der Bach schlängelte, war von hohem Gras, breitblättrigem Huflattich, üppigen Pestwurzen, blühenden Stauden und Jungholz bedeckt.

      Da kniete die Ahnl nieder. Die Kinder folgten ihrem Beispiel. Die gefalteten Hände zum Himmel erhoben, betete sie laut und flehentlich: »Lieber Gott im Himmel, erbarme dich! Behüt mir die Kinder!« Dann stand sie taumelnd auf, und die drei Geretteten setzten ihren Weg in das Tal fort. Aus dem Lärmen des Bachs war nun ein Murmeln geworden, das die Stille im Talkessel kaum störte. Die tief hängenden grauen Wolken und darunter die Nebelschwaden an den Felswänden hatten etwas Einschläferndes.

      Steifbeinig und langsam, aber zielbewußt, ging die Ahnl dahin, immer bachaufwärts; dort in der oberen Wand mochten wohl die Höhlen sein, von denen sie den Kindern oft erzählt hatte; still kam Peter nach und zog Eva, die kaum noch gehen konnte, mit sich.

      Plötzlich änderte die alte Frau die Richtung. Sie bog nach rechts ab, wo ein überhängender Fels ein Dach gewährte. Dort lag eine Schicht braunen Laubes, vom Vorjahre her angeweht und angeschwemmt, halbvermodert. In diesen Laubhaufen vergrub sich die Stoderin, ihre Augen sahen ausdruckslos ins Leere. Peter und Eva kauerten sich zu ihr. Noch im Einschlafen spürten sie die Schauer, die den Körper der Ahnl überliefen.

      In der Klamm aber lag unter einem Felsstück begraben der Ähnl samt Werkzeug und Gerät, das ihnen hätte dienen sollen: Beil und Handsäge, Meißel, Bohrer, Messer, Kochpfanne und Feuerzeug, alles war dahin, alles verloren!

      Verwaist

      Dem Gewitterregen folgte ein sonniger Morgen. Wallende Nebel stiegen von der Talsohle an den Hängen empor. Durch die klare Luft drang der vielstimmige Gesang der Ringdrosseln, Wasserschmätzer, Bergfinken, Girlitze und Grünlinge. Peter erwachte. Er rieb sich die Augen und sah die Sonnenpracht um sich her. Dann fiel sein Blick auf Eva, sie lag noch in tiefem Schlafe, eng hingeschmiegt an die Ahnl. Ein quälendes Hungergefühl trieb den Jungen zum Aufstehen. Seine Blicke prüften den reichen Pflanzenwuchs der Umgebung. Im Talgrunde blühten stachelige Männertreustauden und Wegwarten. Waren die Wurzeln auch mager, genießbar waren sie doch. Schon wollte Peter aufstehen, als er eine Rehgeiß gewahrte, die aus dem Jungholz ins freie Grasland trat. Ihr folgten zwei Kitze, deren hellrotbraunes Fell noch weiß getüpfelt war. Sorglos näherten sie sich dem Beobachter. Jetzt bemerkte auch die Ricke den Jungen; sie äugte neugierig herüber, ohne Angst.

      Peter durchfuhr der Gedanke: Beschleichen, fangen, töten, essen! Ohne zu überlegen, wie das Wild zubereitet werden könnte, ließ er sich auf Hände und Knie nieder und begann sich anzuschleichen. Er hatte Hunger, wütenden Hunger.

      Unter ihm knackte dürres Reisig. Die Ricke sicherte mißtrauisch. Nur ihre nach vorn gerichteten Lauscher verrieten,

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