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Münchhausen. Karl Immermann
Читать онлайн.Название Münchhausen
Год выпуска 0
isbn
Автор произведения Karl Immermann
Жанр Зарубежная классика
Издательство Public Domain
»Und rauchte dazu seine Pfeife Tobak...«, fiel der alte Baron mit Wärme ein.
»... ginge dann zwischen Gemüsebeeten auf und nieder spazieren!...« rief der Freiherr.
»Und hörte nichts, als: Alle neun! oder Sandhase! von der benachbarten Kegelbahn —« seufzte der alte Baron.
»Dann wäre Germanien wahrhaft restauriert!« schloß der Gast mit Emphase.
»Aber um der Götter willen«, rief ein hagrer Mann, welcher während dieser Gespräche eingetreten war, »wir erfahren ja noch immer das Wort der Wahrheit nicht, wodurch Ihr Ahnherr dreihundert Menschen vom Leben zum Tode brachte!«
Der Freiherr sah auf seine Uhr, und sagte mit dem Tone geistiger Überlegenheit, welcher ihm eigen war: »Es möchte dazu heute zu spät sein. Auf morgen also, wenn Sie vergönnen.« Er stand auf, nahm eine Kerze, und verließ, allen eine gute Nacht wünschend, das Zimmer.
»Warum fielt Ihr ihm in die Rede, Schulmeister?« sagte der alte Baron verdrießlich zu dem Hagern. »Einen solchen Mann, mit einem so weltumfassenden Gesichtskreis muß man nie im Flusse des Wortes stören, es kommt immer dabei etwas zum Vorschein, was unterhält und belehrt, und am Ende wären wir doch wohl noch zu dem Worte der Wahrheit seines Ahnherrn gediehen, wenn Ihr ihn nicht unterbrochen hättet.«
»Schelten Sie mich nicht, mein Gönner, um diesen Freiherrn von Münchhausen, der uns da so unversehens in das Schloß geworfen ist«; erwiderte der Hagre. »Er kann den an Kürze und Lakonismus Gewohnten schon ungeduldig machen, dieser endlose Redner und Erzähler, denn er verfällt immer aus dem Hundertsten in das Tausendste. Kürze aber, die körnige Kürze der Sparter, ist wie ein Köcher, darin gar viele Pfeile stecken; indem erstens...«
»Es ist schon gut, Schulmeister«, fiel ihm der Alte in die Rede, indem er ihn mit einem zweideutigen Blicke maß. »Warum kommt Ihr heute so spät? Wir haben alles aufgespeist.«
Der Schulmeister Agesilaus ließ seine Augen in die Ecke des Zimmers dringen, worin ein kleiner Tisch stand, ärmlich gedeckt. Die Knochen eines verzehrten Huhns lagen auf den Tellern verstreut. »Es wollte sich in der Eile nicht des Schilfes genug für mein Nachtlager schneiden lassen«, versetzte er. »So bin ich denn hier nach dem Mahle erschienen, und werde mich zu Hause mit schwarzer Suppe verköstigen müssen.« Er zündete seine Blendlaterne an, schlug den groben, zerrißnen Mantelkragen, den er statt des Rockes trug, fester um sich, und entfernte sich nach höflicher Verbeugung gegen den Baron und das Fräulein.
Der Alte sah sich um und murrte: »Kein zweiter Leuchter mehr hier?« Er nahm aus dem Wandschranke ein Lichtstümpfchen, steckte es in den Hals einer Flasche, und ging mit dieser Vorrichtung aus dem Stegreife davon, in tiefen Gedanken über die Erzählungen des Gastes, ohne der Tochter weiter zu achten.
Diese hatte von allen seitherigen Verhandlungen nichts bemerkt, weil sich nach der Schilderung jenes glückseligen Bergplateaus die romantische Träumerei ihrer bemächtigt hatte, in die sie nicht selten versinken konnte. Jetzt fuhr sie aus diesen Entzückungen der Abwesenheit empor, und rief: »Großes, ungeheures Naturbild! Das Smaragdgrün der Wiesen am Abhange der Piks, vermischt mit dem Pfirsichrot der Kühe und dem Goldgelb der Kälber, sich abhebend von dem Schneeweiß der Cordillerasgipfel im Hintergrunde! O wäre ich auf Apapur... auf Apapur... auf der Bergebene mit dem unaussprechlichen Namen!«
Ein Windstoß warf das Fenster auf, dessen einer Flügel, nur noch morsch in seinen Nägeln hangend, zu Boden fiel, und klirrend zertrümmerte. Das Fräulein aber achtete dieses Umstandes nicht sonderlich, sondern hob eine Tischplatte ab, stellte sie gegen die Lücke, und begab sich dann, gleich den übrigen Personen, zur Ruhe, um von der Bergebne, mit deren langem Namen ich meine Zuhörer schon so oft habe behelligen müssen, weiterzuträumen.
Zwölftes Kapitel
Münchhausen hob am folgenden Abende ohne Vorrede also an: »Der südamerikanische Indianerstamm, welcher uns gestern beschäftigte, bringt es bei seiner sauren Milchnahrung meistens zu einem sehr hohen Alter. Es ist unter ihnen gar nicht selten, daß Männer und Frauen das hundertste Jahr zurücklegen. Weil ihre Sinne und Säfte nun immer in der unmittelbarsten Gemeinschaft mit der Natur verblieben, so wissen sie auch durch ein richtiges Gefühl, wenn die Natur sich ihr Ziel gesetzt hat. Ein solcher Sterbegreis sagt daher ganz genau Stunde, Minute und Augenblick seines Todes voraus, flicht sich die Strohflasche, worin er sich zu bestatten gedenkt...«
»Die Strohflasche?« fragte der Schulmeister Agesilaus.
»Die Strohflasche«, erwiderte der Freiherr kaltblütig. »Wenn man mir von Anfang an zugehört hätte, so würde manche Frage zu sparen sein. Holz haben sie nicht, das sagte ich schon gestern, Särge können sie folglich nicht zimmern, sie müssen sich mit getrocknetem Grase oder Stroh helfen, um ihre Leichenfutterale zu fertigen. Ein solches Futteral hat die Form desjenigen Geflechts, worin der Maraschino von Triest verschickt wird, länglicht-viereckicht, oben mit einem kurzen, etwas engeren Halse. Dahinein kriecht nun der Sterbegreis, nachdem er von seinen Angehörigen Abschied genommen hat, und endet pünktlich in dem vorhergesagten Augenblicke. Sobald er verschieden ist, binden sie eine Blase über die Mündung, und dann setzt sich die ganze Familie im Kreise um das Sterbefutteral her und ißt zum Gedächtnis des Verewigten saure Milch. Hierauf tragen sie die Strohflasche nach der Felsenbank Pipirilipi, dem allgemeinen Begräbnisorte des Volks. Dort wird sie zu den übrigen gestellt. Ich habe jene Ruhestatt selbst gesehen; sie gewährt einen schönen Anblick. Wie auf Rayolen in einem wohlversehenen Keller stehen dort auf der Felsenbank viele tausend Flaschen nebeneinander, die Vorzeit des Volks ist sozusagen auf Stroh abgezogen.«
»Sie waren auch auf dem smaragdgrünen Plateau?« fragte das Fräulein einigermaßen befremdet.
»Liebe Seele, wo wäre ich nicht gewesen!« antwortete lächelnd der Freiherr. »Ich war vor einigen Jahren europamüde, warum? weiß ich selbst nicht, denn es hatte mir niemand etwas zuleide getan, aber ich war europamüde, wie man gegen eilf Uhr abends schlafmüde wird. Beschloß also, zu reisen, so weit weg, wie möglich. Weil aber heutzutage jeder Mensch, der in Betrachtung kommen will, absonderlich unterweges, interessant sein und den Spleen haben muß, reiste ich erst nach Berlin und ließ mich dort im Interessantsein unterrichten; dafür zahlte ich zwei Friedrichsd‘or Honorar. Dann ging ich nach London, und lernte dort bei einem Master den Spleen; der Tausendsassa war aber teuer, ich mußte ihm, Sie mögen es mir glauben, oder nicht, zwanzig Guineen entrichten, und außerdem schwören, das Geheimnis nicht verraten zu wollen.
Nachdem ich so das Interessante und den Spleen weg hatte, glückte es mir überall recht sehr. Ich trug mich bald als Engländer, bald als Neugrieche, zuweilen lag ich als Dame auf dem Sofa und hatte Migräne; dabei redete ich ein Kauderwelsch von Französisch und Deutsch, wie es zu Anfang des achtzehnten Jahrhunderts während der großen Sprachverderbnis Mode war. In jenen wechselnden Kostümen, und in diesem Deutsch, gorge-de-pigeon, bestand das Interessante; was aber den Spleen angeht, so führte ich immer Kampfer bei mir, um das Geheimnis frisch zu erhalten. Davon bekommt man nämlich eine blasse Couleur; ich sah bald aus, als hätte ich schon zehn Jahre im Grabe gelegen. Als ich mich eines Tages in meinem Toilettenspiegel, deren ich damals, wo ich der Eitelkeit frönte, stets mehrere besaß, zu Gesichte bekam, und meine bleiche Farbe erblickte, ging mir ein lichter Gedanke im Kopfe auf. »Sehe ich nicht wie eine Leiche aus?« sagte ich zu mir selber. »Ich will mich den Verstorbenen nennen.« Gesagt, getan! Dieser Einfall hat Wunder gewirkt. Einen Verstorbenen hatten die Deutschen noch nicht gehabt. Und nun gar ein Verstorbener, der so traulich mit ihnen zu plaudern wußte, und ihnen tausend Geschichtchen erzählte,