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Geschäft misslang allerdings: Stinnes wollte den jungen rheinischen Braunkohlekönig Paul Silverberg in seinen Einflussbereich locken. Doch der Gründer und Chef der Rheinischen Aktiengesellschaft für Braunkohlebergbau und Brikettfabrikation, kurz Rheinbraun, baute lieber ein eigenes Großkraftwerk neben seinen Gruben und nahm Stinnes beim Rennen um Stromlieferverträge die Städte Köln und Mühlheim/Rhein ab. Zwar hatten die Kölner Stadtwerke sich das Recht ausbedungen, den von Silverberg gelieferten Strom auf eigene Rechnung an die umliegenden Landkreise weiterzuverkaufen. Doch dort war nichts zu machen: „Die vom RWE“ hatten die Landräte längst auf ihre Seite gezogen, und zwar nicht nur mit – wie geschildert – günstigen Strompreisen und hohen Konzessionsabgaben. Vielmehr hatten die Landräte, nunmehr im Aufsichtsrat des RWE oder seinem Beirat, plötzlich alle ein Auto, für damalige Verhältnisse ein Millionärsgefährt. Köln war umzingelt und die Truppen frei für einen neuen Einsatz: „Zu Beginn des Jahres 1911 erstreckte sich der Tätigkeitsbereich des RWE von der holländischen Grenze bis südlich von Bonn, sein Einfluss machte sich durch Beteiligungen bis nach Westfalen, Hessen, Thüringen und Baden geltend“, heißt es bei Asriel.3 Trotz der enormen Absatzerfolge waren allerdings 1913 erst 15 % der deutschen Haushalte und nur jede fünfte Kommune an das Stromnetz angeschlossen.

      Das Reich verlor den ersten Weltkrieg. Jedoch konnte das RWE dank der Belieferung der Rüstungsindustrie seinen Stromverkauf von 290 auf 800 Mio. Kilowattstunden steigern. Stinnes wurde nicht nur Reichstagsabgeordneter, sondern nutzte die schon vor Kriegsende gewonnene Einsicht, dass es zu einer katastrophalen Inflation kommen würde. Sein System war einfach: Er kaufte Sachwerte – Firmen, Aktien oder Rohstoffe – zu niedrigen Zinsen auf Kredit und hielt alle Guthaben seiner Konzerne in Devisen. Der Wertverlust der Mark eliminierte die Kreditforderungen und steigerte umgekehrt proportional den Wert der Devisen auf dem Inlandsmarkt. Keine Woche verging, in der Stinnes nicht irgendwo im Reich ein Unternehmen gekauft hatte; insgesamt 1.535 mit 2.888 Fabriken und 600.000 Arbeitern. Das machte ihn zum größten Inflationsgewinnler und zum verhasstesten Kapitalisten des Deutschen Reiches. Stinnes kam auch an das – nach Rheinbraun – zweitgrößte Braunkohleunternehmen, die Roddergrube. Als deren Aktionäre auf dem Höhepunkt der Inflation feststellten, dass ihre Braunkohleaktien nur noch wertloses Papiergeld einbrachten, ließen sie sich von Stinnes überreden, eine Roddergruben-Aktie gegen zwei frisch gedruckte RWE-Aktien einzutauschen. Stinnes stand jetzt an der Spitze eines auf der Welt einmaligen Supermischkonzerns. Ihm gehörten neben den eigenen Montanbetrieben noch die Gelsenkirchener Bergwerks AG, der Bochumer Verein (Stahl). Selbst der Siemens-Konzern geriet unter den Einfluss von Stinnes, und zwar in der „Siemens-Rheinelbe-Schuckert-Union“. Nie hatte es einen mächtigeren Unternehmer gegeben. Aber im Jahr 1924 wurde er schwer krank und starb im Alter von erst 54 Jahren. Noch auf dem Sterbebett schärfte er seinen Söhnen ein: „Denkt daran: Was für mich Kredit ist, sind für Euch Schulden. Eure vornehmste Aufgabe wird sein: Schulden bezahlen, Schulden bezahlen, Schulden bezahlen.“ Aber seine noch nicht 30 Jahre alten Söhne deckten nicht alte Schulden ab, sondern machten neue. Ein Jahr nach dem Tod des Vaters zerfiel das Stinnesreich. Aber das RWE überlebte.

      Seine Nachfolger, insbesondere der geniale Arthur Koepchen, nutzen besonders eine seiner Akquisitionen aus der Vorkriegszeit: Den Erwerb des Lahmeyer-Konzerns. Lahmeyer hatte nämlich RWE den Weg nach Süden geöffnet. Die Frankfurter hatten vier reizvolle Tochterunternehmen: Die Mainkraftwerke in Höchst versorgten das rechtsrheinische Gebiet im Norden bis in den Westerwald und mainaufwärts bis Aschaffenburg. Das Kraftwerk Altwürttemberg in Ludwigsburg und das Großkraftwerk Württemberg in Heilbronn waren Stromlieferanten der schwäbischen Kernlande. Die Lech-Elektrizitätswerke besaßen Wasser- und Dampfkraftwerke samt Netz in Bayern. Außerdem hatte Stinnes die AG für Energiewirtschaft in Berlin erworben, eine Holding mit den süddeutschen Töchtern Überlandwerke Niederbayern in Landshut, Bayerische AG für Energiewirtschaft in Bamberg, Ostbayerische Stromversorgung, München und Überlandwerke Oberfranken.

      Für Koepchen, der ein hervorragender Techniker war, war dieses süddeutsche Standbein der Anlass für die Ergänzung des „schwarzen“ Stroms aus den Kohlekraftwerken mit „weißem“ Strom aus Wasserkraftwerken in Süddeutschland und den Alpenländern. Dafür musste man allerdings erst die Spannung in den Überlandleitungen auf 220.000 Volt steigern. Koepchen studierte zur Lösung dieser Aufgabe Erfahrungen, die man in den USA gemacht hatte. Die erforderlichen Aufgaben stellte er den Firmen Siemens, AEG und Felten & Guilleaume. So konnte Ende 1924 damit begonnen werden, eine Höchstspannungsbrücke zwischen dem Kohlestrom von Rhein und Ruhr und dem weißen Wasserkraftstrom zu verwirklichen. Ein Beispiel konnte das RWE beim gerade fertig gestellten Walchenseekraftwerk des Bayernwerks studieren, das Oskar von Miller entworfen hatte. In den Pumpspeicherkraftwerken der Schluchsee AG, an der RWE beteiligt war, konnte man den zur Nachtzeit billigen Kohlestrom nutzen, um Wasser von niedriger gelegenen in höher gelegene Speicherseen zu pumpen. Tagsüber, zu Zeiten des Spitzenlastbedarfs, stürzte das Wasser dann herab, um den Strom so zu „veredeln“. Dafür war der Bau einer letztlich 800 km langen Trasse quer durch West- und Süddeutschland nötig. Bis zum Jahr 1930 verlegte das RWE insgesamt 4.100 km Höchstspannungsleitungen. Neben dem Bau des Schluchseewerks im Schwarzwald wurden Zubauten in der Schweiz mit zwei Flusskraftwerken am Hochrhein und Aare beendet. Im Jahr 1929 kam es erstmals zu dem geplanten Austausch weißen Stroms in der Spitzenzeit und Rückfluss schwarzen Pumpstroms nachts. Das RWE stand auf der Weltrangliste der Stromverkäufer nach drei US-Konzernen auf Platz 4 und war an Europas Spitze. So wurde die Stromproduktion für das RWE immer billiger, so dass zahlreiche Industrieunternehmen ihre eigene Stromerzeugung einstellten. Diese Expansion des Konzerns wurde allerdings auf längere Sicht von den Tarifkunden bezahlt. Sie subventionierten nämlich mit ihren hohen Strompreisen die niedrigeren Industriestrompreise und damit die Akquisitionen des RWE.

      2 Kurt Pritzkoleit, Männer, Mächte, Monopole. Hinter den Türen der westdeutschen Wirtschaft, 1953. 3 Asriel, Camillo J., Das R. W.E., Rheinisch-westfälisches Elektrizitätswerk Essen a.d. Ruhr. Ein Beitrag zur Erforschung der modernen Elektrizitätswirtschaft, 1930.

      6. Kapitel

      Der Staat greift ein

      Das Wachsen der Stromwirtschaft verlief völlig ungeordnet. Am 1.4.1911 gab es 2.504 Elektrizitätswerke für die allgemeine Versorgung. Davon gehörten 739 der öffentlichen Hand, insbesondere Kommunen und Landkreisen, und 1.765 privaten Besitzern. Aber der Staat hatte bis dahin nicht reglementierend eingegriffen, obwohl etwa Oskar von Miller schon seit den 90er Jahren die Aufstellung eines Generalplans forderte, „um die Zersplitterung der Elektrizitätsversorgung zu verhindern“. Ein solcher Generalplan müsse, so von Miller, „von derjenigen Stelle aufgestellt sein, die – unabhängig von Sonderinteressen der Firmen, Überlandzentralen, Kreise, Städte und Fabriken – das Wohl der Gesamtheit in unparteiischer Weise wahren. Diese Stelle ist im vorliegenden Fall der Staat“.

      Der Preußische Handelsminister Sydow konnte sich freilich für ein Eingreifen des Staates nicht begeistern: „Dazu ist die Industrie noch zu jung. Sie bedarf mehr der persönlichen Initiative, sie kann nur gefördert werden durch die Beweglichkeit, die der Privatindustrie inne wohnt und die ein Reichsbetrieb nie haben kann.“ In Bayern dachte man aber offenbar anders. Denn im Jahr 1908 erhielt Oskar von Miller den Auftrag, einen Generalplan für das heimatliche Königreich Bayern aufzustellen.

      Die erste Initiative für ein Eingreifen des Reiches ging überraschenderweise von der Privatwirtschaft aus. Im Jahr 1909 reichte der Verband deutscher Elektrotechniker (VDE) beim Reichsamt des Inneren den Entwurf eines Starkstromwegegesetzes ein. Der VDE wollte damit das Wegerecht der Kommunen attackieren. Nach dem Gesetzentwurf sollten Stromleitungen in Zukunft in öffentlichen Straßen und Wegen sowie auf privaten Grundstücken unentgeltlich verlegt werden können. Dagegen opponierten natürlich neben alle privaten Grundbesitzern auch die Städte, Gemeinden und Kreise. Auch das Land Preußen war gegen ihn, interessanterweise mit einer „antikapitalistischen“ Begründung: „Der Entwurf stellt sich als einseitige Vertretung kapitalistischer Interessen dar, indem er nur den Wünschen der elektrischen Industrie Rechnung trägt, für Starkstromanlagen ungewöhnliche Vorzugsrechte ohne entsprechende

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