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      Thorsten Giersch

      Mitglied der Chefredaktion Handelsblatt Online

       1. KAPITEL

       Wie leben wir morgen?

       Wir sind Familie Janssen – Personen und Orte der Zukunftserzählung

      In den folgenden Kapiteln begleiten wir Familie Janssen durch den Spätsommer 2050. Vier Generationen betrachten die Situation im Jahre 2050 aus ihrer eigenen, durch ihre persönlichen Lebens- und Alltagserfahrungen geprägten Perspektive. Freunde und Bekannte runden mit ihren Ansichten das Bild vom Leben zur Jahrhundertmitte ab.

       Das regionale und gesellschaftliche Umfeld

      Die Zukunftserzählung ist im Nordwesten Deutschlands angesiedelt. Urbane Lebensräume wie die Großstadt Hamburg ziehen unverändert viele Menschen an. Hier lebt Keno mit seinen Eltern Frauke und Joost. In der ostfriesischen Region um die mittelgroße Stadt Leer, wo Kenos Großeltern und sein Urgroßvater zu Hause sind, geht es beschaulicher zu. Die Küstenregion Niedersachsens hat es geschafft, dem demografischen Wandel in der ersten Hälfte des 21. Jahrhunderts etwas entgegenzusetzen: Mit ihrer langen Tradition in der Windenergienutzung hat die Region von der Energiewende profitiert und seit den 2010er-Jahren neue Industrien ansiedeln können. Die starke Windindustrie und die maritime Wirtschaft haben sich als Zugpferde für weitere Branchen erwiesen. Die reizvolle Landschaft bietet hohe Lebensqualität, und attraktive touristische Angebote ziehen Naherholungssuchende an.

       Die Personen

      Zentrale Figur ist Keno Janssen (geb. 2039), ein Hamburger Stadtkind, das mit den Vorzügen moderner Informationstechnik, intelligenter Gebäude und einer effizient organisierten Mobilität aufgewachsen ist. Vieles, was er von seinen Großeltern Hanna und Jan oder seinem Urgroßvater Martin über die Zeit um die Jahrtausendwende hört, erscheint ihm wahrlich vorsintflutlich, wie auf Papier gedruckte Schulbücher.

      Kenos Vater Joost (geb. 2012) ist Ingenieur und Mediator. Sein Arbeitsschwerpunkt ist es, im Auftrag von Firmen und Institutionen die öffentliche Akzeptanz für neue Infrastruktur-, Energieerzeugungsoder Industrieprojekte zu fördern. Kenos Mutter Frauke (geb. 2013) vermittelt in Hamburg als Lehrkraft die Themen Wirtschaft, Energie und Nachhaltigkeit, kurz: „WEN“.

      Kenos Großeltern Hanna (geb. 1986) und Jan Janssen (geb. 1985) zählen 2050 zur mittleren Generation einer deutlich älteren Bevölkerung. Sie haben die Höhen und Tiefen der Energiewende sehr bewusst miterlebt und konsequent in eine sparsame und langfristig kostengünstige Energieversorgung ihres alten Friesenhauses investiert. Hanna arbeitet unter anderem im Restaurant „Friesenstube“, Jan ist IT-Spezialist.

      Kenos Urgroßvater Martin Janssen (geb. 1960) feiert 2050 seinen 90. Geburtstag. Er lebt im Wohncampus, einer Vorzeigeeinrichtung der Stadt Leer. Seine Berufserfahrungen als ehemaliger Mitarbeiter eines Energieversorgungsunternehmens spiegeln den Stand der Energieversorgung in Deutschland Mitte der 2010er-Jahre wieder.

       Samstag, 20. August 2050: Friesenhaus auf Fitnesskur

      06.00 Uhr. Aus den Lautsprechern des Nachttischs erklingt leise Mozarts kleine Nachtmusik. Die Melodie schleicht sich in Jan Janssens Träume, während das Schlafzimmer langsam in rötliches, dann in helleres Licht getaucht wird. Jan hat die Zimmerdecke mit einer hauchdünnen Schicht organischer Leuchtdioden überziehen lassen, die ihm pünktlich zur Weckzeit einen gefühlten Sonnenaufgang bescheren. Jan blinzelt kurz und dreht sich noch einmal um. Doch nicht nur die zunehmende Helligkeit stört seinen Schlummer, sondern auch das Streichorchester meint es ernst. Unerbittlich steigert sich die Lautstärke der Musik mit einer unüberhörbaren Botschaft: aufstehen! Jan gähnt und reibt sich die Augen. Die andere Hälfte des Doppelbettes ist verlassen, stellt er fest, Hanna ist bereits aufgestanden. Sie ist eine echte Frühaufsteherin – ganz im Gegensatz zu Jan. Er klatscht kurz in die Hände, die Streicher verstummen. Dann überlegt er es sich noch einmal anders, schnippt mit den Fingern und sagt: „Beatles“. Aus den Lautsprechern schallt ein aktueller Remix von „Good Day Sunshine“. Den Hit aus dem Jahr 1966 kennt Jan in- und auswendig, es ist ein Lieblingssong seines Vaters Martin Janssen – allerdings nur in der Ursprungsversion. Martin blieb sogar seinen Beatles- und Rolling-Stones-Schallplatten noch lange treu, als die Plattenspieler andernorts CD-Playern und USB-Sticks wichen. Für Jan sind die Hits als Kindheitserinnerungen fest verbunden mit seinem Elternhaus, das er vor Jahren übernommen und grundlegend modernisiert hat.

      Während er ins Bad schlurft, sinniert Jan darüber, warum wohl gerade die Beatles bei Jugendlichen aktuell wieder so angesagt sind. Schließlich stammen die Hits aus dem vergangenen Jahrhundert, sind also schon fast klassische Musik … Aus dem Spiegel schaut ihm ein verschlafener Mann entgegen, gut 60, unrasiert, die Haare zerzaust. „Kriech doch noch mal unter die Decke, nur ein Viertelstündchen …“, scheint sein Spiegelbild ihm anzuraten. Jan hadert kurz mit sich, bis sein Blick auf das Display am rechten Spiegelrand fällt: „Schulwechsel Keno, Beginn: 10 Uhr“, leuchtet es dort kurz und knapp. Sein Enkelsohn Keno besucht ab heute die weiterführende Zweitschule. Im Geiste sieht er den elfjährigen Blondschopf vor sich. Sein Spiegelbild beginnt, breit zu lächeln, und sieht jetzt tatsächlich fast wach aus. Jan freut sich darüber, dass sein Sohn Joost und seine Schwiegertochter Frauke ihrem Kind ebenfalls einen alten ostfriesischen Namen gegeben haben. Regionaltypisches liegt 2050 voll im Trend – von traditionellen Namen bis zu regionalen Gerichten und Bräuchen. Jan findet diese anhaltende „Retrowelle“ einerseits gut, andererseits verwunderlich, da doch zumindest virtuell jedem die ganze Welt nahezu grenzenlos offensteht. Aber vielleicht ist eben das der tiefere Grund für die Rückbesinnung auf – im wahrsten Sinne des Wortes – Naheliegendes.

       Spieglein, Spieglein an der Wand …

       Wie werden wir wohnen und leben?

      Jans Blick fällt auf die im Spiegel eingeblendeten Wetterdaten. Wie selbstverständlich stehen sie dort zur Verfügung, frisch eingespielt aus dem Internet, ebenso wie sein privater Terminkalender für heute. Aktiviert wird der Spiegel über den Bewegungsmelder, der beim Betreten des Badezimmers auch für Licht sorgt. Die Wettervorhersage meldet Sonnenschein, den ganzen Tag! Offensichtlich werden die Beatles recht behalten, konstatiert er zufrieden. Um sich wie gewohnt beim Rasieren die aktuelle Energieversorgung des Hauses anzeigen zu lassen, tippt Jan mit dem Finger auf das Spiegeldisplay. Es erscheint eine einfache Grafik aus zwei Kurven: Eine Kurve steigt sichtbar an – sie stellt den aktuellen Stromverbrauch des Hauses dar. Die zweite Kurve zeigt, wie viel Strom die Photovoltaikanlage aktuell produziert. Noch befindet sich diese zweite Kurve nahe dem Nullpunkt, doch voraussichtlich wird sie schon am frühen Vormittag die Verbrauchskurve kreuzen. Dann produziert das Haus mehr Strom, als Hanna und Jan gerade benötigen. Bevor Strommengen ins öffentliche Netz eingespeist werden, wird zunächst die Hausbatterie im Wirtschaftsraum aufgeladen. Deren Kapazität reicht aus, um einige Tage lang ohne Strom aus dem öffentlichen Netz auszukommen.

      „1902“ ist in gusseisernen Ziffern an der Stirnseite des alten Friesenhauses zu lesen. Es ist Jans Elternhaus. Zusammen mit Hanna hatte er sich 2030 entschieden, das Wohnhaus am Rand der ostfriesischen Küstenstadt Leer von seinem Vater zu übernehmen. Martin Janssen lebte damals bereits seit zehn Jahren allein. Zwar liebte Martin den schönen, mit einer dichten Buchenhecke umgebenen Garten, den Anblick der alten Bäume, Blumen- und Gemüsebeete. „Aber im Grunde“, hatte er Jan in seiner praktisch-nüchternen Art erklärt, „ist das Ganze hier für mich allein eine Nummer zu groß.“ In der Nähe entstand zu der Zeit ein moderner Wohncampus. Das städtische Vorzeigeprojekt warb um zukünftige Bewohner mit dem Versprechen,

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