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ich nicht verstehen konnte. Stattdessen nickte ich nur bedeutungsvoll und startete am darauf folgenden Montag eine neue berufliche Offensive.

      Die letzte Mahnung dieser Art bekam ich durch einen Unfall mit meinem Hund Arthur, einem überaus dynamischen Labrador in der Hundepubertät, mit dem ich am späteren Abend »noch ein bisschen« joggen wollte. Meine Tochter war dabei. Wie gesagt, ich war überzeugt, dass meine entsetzliche Dauermüdigkeit auf meiner angeborenen Faulheit basierte, die ich nur mit Aktivitäten aller Art bekämpfen könnte. Arthur freute sich über den unerwarteten Lauf so sehr, dass er mit seinen vierzig Kilogramm und einer Extraportion jugendlichen Übermuts einen riesigen Satz nach vorne machte. Leider hielt ich seine Leine fest in der Hand, so musste ich, ob ich wollte oder nicht, völlig unvorbereitet den Sprung nach vorn zusammen mit ihm durchführen. Der Flug ins Unbekannte endete für mich äußerst unsanft. Ich landete mit meinem Gesicht auf der harten Asphaltstraße; bremsen konnte ich nur mit meinem Kinn.

      Von heftigen Schmerzen übermannt, blieb ich regungslos liegen. Nach einigen Schrecksekunden fing meine arme Tochter an, in Panik nach mir zu rufen. Auch diesmal war sie es, die alles ausbaden durfte. Ich weiß nicht mehr, wie ich die hundert Meter nach Hause schaffte. Der Weg fühlte sich an wie eine Überquerung des Himalaya. Ich zitterte am ganzen Körper, das Blut floss von meinem Kinn, der Kopf fühlte sich an, als ob ich mit einem Mähdrescher traktiert worden wäre. Mein Kreislauf drohte definitiv zu versagen. Endlich im Bett, verbat ich meiner Tochter ausdrücklich, den Papa anzurufen, der in Wien gerade einen Nachtdienst absolvierte. (Es gehört zu den ungeschriebenen Gesetzen, dass der Arzt in der Familie nie anwesend ist, wenn man ihn braucht.) Ich wollte meinen Mann nicht unnötig beunruhigen und dachte, auch ohne ihn zurechtzukommen. Meine Tochter achtete jedoch nicht darauf und tat, was notwendig war. Als mein Mann – wieder einmal – mitten in der Nacht von Wien nach F. eilte, war ich ihr unendlich dankbar dafür, dass sie so klug und selbstständig das einzig Richtige getan hatte.

      Am nächsten Tag also wieder einmal das Badener Krankenhaus, Röntgen, schmerzhafte Reinigung und Zusammenkleben der Wunde (fürs Nähen war es bereits zu spät) und eine Halskrause. Summa summarum brachte mir der Unfall zwei Wochen Krankenstand, in denen ich aufgrund der Kieferverletzung kaum feste Nahrung zu mir nehmen konnte, außerdem eine tiefe Schnittwunde am Kinn, eine leichte Gehirnerschütterung und heftiges Kopfschütteln über die Ursachen von so vielen Missgeschicken. Heute verstehe ich es. Heute lebe ich unfallfrei.

      Sie werden sich jetzt wahrscheinlich denken, dass ich nicht ganz bei Sinnen war und Sie haben recht. Das wahre Problem ist nur, dass die meisten Menschen in vergleichbarer Situation längst jedes Gefühl für sich selbst und ihren Körper verloren haben. Wenn ich noch Gespür für mich gehabt hätte, wäre ich niemals in eine solche Lebenslage gekommen. Sprechen Sie mit einem Workaholic nach einem gerade überstandenen Zusammenbruch. Er wird mit allen Mitteln versuchen, Sie zu überzeugen, dass es ihm bestens gehe und alle anderen maßlos übertreiben – obwohl genau hier die Chance zur Genesung liegt: gegen ALLE UMSTÄNDE Stopp zu sagen und sich am besten sofort in eine Therapie zu begeben. Leider schaffen es nur die wenigsten, ins Rad des Schicksals rechtzeitig einzugreifen. Meist muss es erst zu einer lebensbedrohlichen Krankheit oder einem schweren Unfall kommen, die entweder das Leben des Betroffenen auf eine mehr oder minder gewaltsame Weise beenden oder – wenn man Glück hat und überlebt – eine radikale Lebensveränderung erzwingen.

      Musikforschung brutal

      Auch ich spürte irgendwann, dass ich mein Leben nicht mehr allein bewältigen konnte. Meine Seele schrie nach Hilfe. Ich fühlte, dass mir mein Kummer längst über den Kopf hinausgewachsen war. Zu den gesundheitlichen und familiären Problemen – vor allem mit meinen Eltern, deren Ansichten bezüglich der zwei Waisenkinder meines Bruders sich komplett von meinen unterschieden – kamen auch berufliche Schwierigkeiten dazu. Ich interessierte mich sehr für die Geschichte der Musik, insbesondere für die Musik der Barockzeit, war aber gleichzeitig sehr verunsichert in Hinsicht darauf, ob ich mir mein Interesse überhaupt gestatten durfte. »Mach doch was Gescheites!«, war der Tenor in meinem Hinterkopf, der mich in regelmäßigen Abständen mahnte.

      Ich träumte von einer sicheren Stelle in der Forschung oder besser gesagt von einer konkreten Stelle in einer bestimmten Institution, die noch dazu noch gar nicht ausgeschrieben, also noch nicht vakant war. Also entschied ich mich zu warten, arbeitete wie eine Besessene und ruinierte sukzessive meine Gesundheit mit unzähligen, in Summe betrachtet und auf die tatsächlichen Arbeitsstunden umgerechnet aber miserabel bezahlten Aufträgen. Nach mehrjähriger Wartezeit kam endlich der lang ersehnte Moment: Die Forschungsstelle in der auserwählten Institution wurde ausgeschrieben und ich bewarb mich dafür. Mittlerweile war ich für diese Stelle zwar eindeutig überqualifiziert, entschied mich aber in einem Anflug von Großzügigkeit, diese Tatsache zu ignorieren. Nicht aber so meine »Kollegen«, die in mir offenbar eine ernsthafte Bedrohung witterten. Da sollte jetzt jemand Neuer kommen, noch dazu eine Frau, die über eine höhere Qualifikation verfügt?

      Da ich dort seit Jahren verlässlich auf freiberuflicher Basis ausgezeichnete Arbeit leistete – so zumindest das Feedback, das ich regelmäßig bekam –, erwartete ich, wie ich meine nicht ganz ohne Grund, dass die Belegschaft sich bei der Abstimmung für mich einsetzen würde. Meine damalige Naivität war grenzenlos. Die beiden Vorgesetzten hatten ihre viel jüngeren, dafür aber nicht überqualifizierten, Wunschkandidaten und ich war nicht darunter. Über das Ergebnis sollten jedoch nicht sie, sondern die Mitarbeiter entscheiden. Im Nachhinein erfuhr ich, dass die Kollegen 10:0 für einen anderen Kandidaten gestimmt hatten. Erst da wurde mir bewusst, dass dieses »Wahlergebnis« nur das Tüpfelchen auf dem »i« war, denn schon im Vorfeld gab es genug Aktionen und Anzeichen, die dieses Fiasko ahnen ließen, die ich aber standhaft ignorierte.

      Meine Welt brach wieder einmal zusammen. Wie ein Puzzle fügten sich einzelne Erlebnisse vor meinem geistigen Auge zusammen. Ich begriff, dass all jene Menschen, die ich als meine Kollegen betrachtete und mit denen ich zusammenarbeiten wollte, bereits im Vorfeld sukzessive daran arbeiteten, mich offenbar ein für alle Mal loszuwerden. Auch das Vorstellungsgespräch verlief seltsam. Alle kannten mich, eine Vorstellung meiner Person und die Hervorhebung meiner Qualitäten und Qualifikationen schien also überflüssig zu sein – so dachte ich zumindest. Stattdessen wurde mir die Frage gestellt, ob ich die Frage der Kinderbetreuung verlässlich gelöst hätte. Heute könnte ich brüllen vor Lachen. Man fragte mich, eine habilitierte(!) Musikhistorikerin mit zwei Kindern (10 und 20 Jahre alt!), ob ich meine Kinderbetreuung organisieren konnte(!). Wie sonst hätte ich es geschafft, eine fünfhundert Seiten umfassende Dissertation, eine mehr als achthundert Seiten lange und von allen Begutachtern als ausgezeichnet bewertete Habilitationsschrift, fast einhundert – zum Teil sehr umfangreiche und anspruchsvolle – Lexikonartikel, zahlreiche weitere Aufsätze, mehrere Noteneditionen und Kinderbücher – das alles ohne Großeltern in der Nähe – zu produzieren?

      Es war die bitterste Enttäuschung meines Lebens, ausgehend von Menschen, die ich mochte und beruflich schätzte. Man hätte mich zwar gebraucht, mein Wissen und durch jahrelange intensive Forschungsarbeit gewonnenen Kenntnisse wären für jene Institution von Bedeutung gewesen; die Zusammenarbeit sollte sich aber nach wie vor nur auf zeitlich aufwendige und unterbezahlte Werkverträge beschränken. Nach der elektronischen Absage auf meine Bewerbung (ich habe diese E-Mail gar nicht gelesen, schon während des Vorstellungsgesprächs fühlte ich, dass das Ganze eine Farce war) und einem weiteren, zu nichts führenden Gespräch mit einem meiner Fast-Vorgesetzten entschied ich mich endlich zum ersten notwendigen Schritt: Auf weitere Bewerbungen und Hoffnungen hinsichtlich jener Institution für immer zu verzichten. Meine Toleranzfähigkeit bezüglich einer weiteren Absage war unwiderruflich auf null gesunken.

      Heute frage ich mich, warum ich mich damals überhaupt derartigen Situationen ausgesetzt habe. Finanziell wäre es nicht notwendig gewesen. Mein Mann war in der Lage, die Familie allein zu versorgen. Ich wollte aber unbedingt meinen Beitrag leisten und merkte dabei nicht, dass ich alles, was ich sonst noch neben meiner beruflichen Arbeit erledigte, komplett unterbewertet hatte. In meinen Augen zählte nur der berufliche Erfolg. Die Tatsache, dass ich für meine Familie mit ungeheurem Einsatz ein schönes Zuhause mit einem gut organisierten Haushalt und zwei bis drei warmen, frisch zubereiteten Mahlzeiten am Tag geschaffen hatte, zählte für mich gar nicht.

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