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er geschrieben hat, passte – jedenfalls zur Zeit vor März 2020. Dann begann unsere Welt eine andere zu werden. Es gibt nun eine Welt vor Corona, und es wird – so hoffen wir – eine Welt nach Corona geben. Dummerweise befinden wir uns derzeit in einer Welt mit Corona. Was gilt in dieser Welt (noch)? Was nicht (mehr)? Von heute auf morgen wurde aus dem hoch aktuellen Thema Bildung ein höchst aktuelles – ausgelöst durch die Schließung sämtlicher Bildungseinrichtungen im März 2020. Statt Präsenzunterricht gab es Distanzunterricht für alle, für den Erstklässler ebenso wie für die Informatikstudentin im letzten Semester. Und mit dem Distanzunterricht gelangte ein Thema, das bislang nur eins von vielen war, wenn es um Bildung ging, auf die Pole Position: die Digitalisierung der Bildung.

      Hätten wir da nicht passen müssen? Auf welcher Basis sollte Whitehead, ein Vertreter einer durch und durch analogen Welt, die gerade mal Telefon und Radio kannte, da mitreden können? Ob wir einfach so tun, als sei Corona nur ein Intermezzo, nach dem wir die Dinge wieder so sehen können wie davor? Nach dem wir Bücher wieder so lesen können wie davor? Also für eine Neuauflage nichts verändern und auf Beständigkeit hoffen? Das wäre schön – und einfach. Aber so ist die Welt nicht! Nichts, was in der Welt geschieht – und es geschieht ständig etwas –, bleibt ohne Folgen: Das ist die eigentliche Kernaussage von Whiteheads »Philosophie von allem und jedem«. Kurz, eine neue Auflage unseres Buches muss aktuelle Erfahrungen aufgreifen, sonst dürften wir uns gar nicht anmaßen, im Sinne Whiteheads sprechen zu wollen. Muss also ein zusätzlicher Dialog mit Whitehead über Homeschooling, Digitalisierung etc. pp. her? Aber wohin damit? Vornedran, hintendran, mittenrein? Egal wo, es wäre Flickwerk geworden und hätte die ursprünglichen Dialoge entstellt und entwertet. Denn – das sehen wir immer noch so – sie sind zeitlos, also »corona-unabhängig«. Wir haben uns daher dafür entscheiden, sie einzubetten in ein neues Vor- und Nachwort.

      Aufgreifen wollten wir auch die unterschiedlichen Reaktionen auf die erste Auflage: »Ja, schon irgendwie gut, aber doch längst Mainstream, eben das gute alte humanistische Bildungsideal.« Aber auch: »Das sollte Pflichtlektüre für alle Lehrerinnen und Lehrer werden.« Oder »Oh, hätte ich Alfred White-head nur schon zu meiner Schulzeit gekannt! Ich hätte ihn mit Freuden zitiert!«3

      Ja, was denn nun? »Längst Mainstream!« oder »Warum nicht so?« Oder gar beides? Haben wir es womöglich mit Wissen über das Wie und Warum von Bildung zu tun, das wenigstens hundert Jahre alt, im Jahr 2020 durchaus Allgemeingut, aber immer noch nicht umgesetzt ist? Schon der erste Teil der Frage bringt neue Fragen: Ist das, was wir zusammen mit Whitehead in unserem Buch vertreten, denn wirklich Allgemeingut? Gilt es unabhängig vom philosophischen Hintergrund und vom humanistischen Menschenbild? Ist es mehr als ein schönes Ideal? Wie viel Realität steckt darin?

      An dieser Stelle sind wir Whitehead tatsächlich ein Stück voraus, denn wir haben etwas, das es zu seiner Zeit so noch nicht gab: die Bildungsforschung. Eine vergleichsweise junge Disziplin, die aber bereits eine unüberblickbare Menge an Einzelstudien hervorgebracht hat – leider nur zu oft mit widersprüchlichen Ergebnissen. Je nach Fragestellung und Stichprobe lässt sich scheinbar fast jede Aussage zur Bildung rechtfertigen. So sieht das offenbar auch John Hattie4.

      Im Dialog mit der Bildungsforschung

      Den neuseeländischen Bildungsforscher John Hattie treibt seit über 25 Jahren die Frage um, was Lernenden wirklich hilft. Seither sammelt er Studien zur Bildung, analysiert diese und arbeitet unterschiedlichste Einflussfaktoren heraus. Seine Forschung umfasst derzeit mehr als 1.600 Meta-Analysen, die ihrerseits auf knapp 100.000 Einzelstudien mit weltweit über 300 Millionen Schülerinnen und Schülern basieren.5 Mittlerweile hat er 277 Faktoren gefunden, denen unterschiedliche Effekte auf die Leistungen der Lernenden zugeordnet werden können: vom hohen positiven Einfluss, über wenig bis kaum nachweisbaren Einfluss, bis hin zum negativen Einfluss. Eine Studie mit solch breiter Datenbasis schien uns geeignet zu sein, um zu prüfen, ob Whiteheads Ansatz für gelingende Bildung mehr ist als ein schönes Ideal, nämlich wissenschaftlich belegbar.

      Auch auf die Frage, welcher Stellenwert digitalem Unterricht zukommt, erhofften wir uns Antworten von Hattie. Denn trotz aller Weitsicht konnte Whitehead unmöglich die Forderung, den Unterricht in kürzester Zeit zu digitalisieren, vorausahnen. Obwohl – Whitehead konnte zwar nichts von Covid-19 wissen, aber dafür erlebte er die Spanischen Grippe, die sich vor knapp hundert Jahren in drei Wellen über die Welt verbreitete und mehr Todesopfer forderte als der eben zu Ende gehende Erste Weltkrieg. Whitehead war damals Professor für angewandte Mathematik in London. Inwieweit er seine Vorlesungen und Kurse im Pandemiejahr 1918/1919 geben konnte, dazu weiß leider keiner von Whiteheads Biographen etwas. Vermutlich nicht im gewohnten Umfang, zumal – anders als an Covid-19 – besonders junge Leute an der Spanischen Grippe starben, mit einiger Wahrscheinlichkeit auch Studierende von Whitehead.

      Was wir dagegen genau wissen: Whitehead war kein Freund des Homeschoolings. Zu viel hatte er davon abbekommen, zu viel lebendiges Miteinander hat er dadurch verpasst. Denn obwohl sein Vater Schulleiter war, wurde er zu Hause unterrichtet bis er fast 15 Jahre alt war. Seine Eltern waren der Meinung, er sei für den regulären Schulbesuch von zu zarter Gesundheit …6 Was wir auch wissen: Whitehead war alles andere als ein Technikskeptiker, von denen es zu seiner Zeit nicht gerade wenige gab – man denke nur an Heidegger. Whitehead hätte digitale Medien neugierig eingesetzt, aber sicher nicht als Ersatz für Präsenzunterricht, sondern um diesen lebendig zu halten – und damit wären wir wieder bei Hattie und seinen Forschungsergebnissen.

      Da Hattie laufend aktuelle Forschungsergebnisse in seine endlose Meta-Studie einbezieht, kommen immer wieder neue Faktoren dazu, während bekannte Faktoren neu gewichtet werden. Hattie ist so stets auf dem neuesten Stand. Die neuesten Entwicklungen im Unterricht haben zweifelsohne mit digitalen Medien zu tun. Entsprechend finden sich bei Hattie inzwischen eine ganze Reihe von Faktoren, die sich auf die Digitalisierung des Unterrichts beziehen, etwa Online- und digitale Hilfsmittel, web-basiertes Lernen, Laptops für jeden Schüler, und ganz aktuell der Einsatz von Technologie im Distanzunterricht. Doch keiner dieser Faktoren schafft es aus dem Mittelfeld heraus. Damit kann ihnen bestenfalls, wenn überhaupt, ein kleiner positiver Einfluss auf das Lernen attestiert werden.

      Welche Faktoren sind es nun aber, die Hatties »Hitliste« anführen? Sein Spitzenreiter heißt: »Teacher estimates of achievement«7. Auf deutsch leider nicht weniger sperrig übersetzt mit »Leistungseinschätzung durch die Lehrperson«8. Was damit gemeint ist, ist sehr nah an Whitehead, denn es geht um das konkrete Handeln von Lehrerinnen und Lehrern9, und um jede einzelne Schülerin und jeden einzelnen Schüler. Es geht darum, dass die Lehrperson jeden einzelnen Lernenden so sieht, wie er ist, mit all seinen Stärken und Schwächen, und das als Grundlage nimmt für eine individuelle Förderung. Zu einer realistischen Einschätzung der Lernenden kann eine Lehrperson aber nur kommen, wenn sie ihre Schülerinnen und Schüler auch kennt; sie muss die Möglichkeit haben, sie zu beobachten, sie zu befragen; muss sehen, wie sie arbeiten und wie sie mit neuen Herausforderungen umgehen; kurz, muss sie in natura erleben. Dazu ist direkter persönlicher Kontakt die Grundvoraussetzung. Kein digitales Medium kann das leisten – zumindest keins, das derzeit auf dem Markt ist.

      Spannend auch der zweite Platz auf Hatties Liste: »Collective teacher efficacy«, damit ist gemeint, dass die Lehrpersonen einer Schule an das glauben, was sie tun; dass sie daran glauben, eine positive Rolle im Leben junger Menschen zu haben. Schließlich der dritte Platz: »Self-reported grades«. Dahinter versteckt sich die Selbsteinschätzung der Lernenden: Wer seine Stärken und Schwächen kennt, kann gezielt daran arbeiten und das ihm Mögliche daraus machen. Auf einem weiteren Spitzenplatz findet sich: »Teacher credibility«, also die Glaubwürdigkeit einer Lehrperson in den Augen der Schülerinnen und Schüler. Sie können dann optimal lernen, wenn sie einen Menschen gegenüber haben, dem sie vertrauen können, an den sie sich wenden können für Feedback, für Hilfe, für Wissen; der sie versteht und sich um sie sorgt. Schülerinnen und Schüler sind dann in ungleich höherem Maße bereit, Aufgaben und Anforderungen zu erfüllen, die von ihnen verlangt werden.

      Was brauchen wir demnach, damit Bildung gelingt? Im Wesentlichen »nur« unser Erleben und Wahrnehmen: die Wahrnehmung

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