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sie seien. Wie stark wir sind. Mehr als eineinhalb Milliarden Muslime gebe es. Viele müssten erst für die Sache überzeugt werden. Doch dann. Und all jene, die sich gegen sie stellten, seien Verräter und würden die Konsequenzen ihres Verrates bitterlich zu tragen haben.

      Längst ist da sein Entschluss herangereift. Ja, auch Musa will der richtigen Seite, der Seite der Gerechten angehören, will sein Teil beitragen, das weltweite Unrecht gegen Muslime auszurotten. Wo immer. Ihn jedoch zieht es ins Kernland des IS-Kampfes, von wo aus das neu errichtete Kalifat seinen Siegeszug um den Globus antreten wird: Syrien. Und vielleicht, später dann, Europa, um dort die ihm von Allah auferlegte Pflicht fortsetzen.

      Angst vor dem Sterben glaubt Musa da schon lange keine mehr zu kennen. Der Tod, hat der Prediger ihm wieder und wieder eingetrichtert, sei bloß die heiß ersehnte Schwelle hinüber ins Paradies. Und Syrien, hat er angefügt, sei nichts als der Vorhof dieses Schlaraffenlandes. Die Männer dort seien tot oder geflohen, und die Frauen würden ihm und Seinesgleichen gehören. Desgleichen die unzähligen Villen im Land, die nun verwaist leer stünden, neuer Herren harrten. Syrien also, hat Musa befunden. Und als es dann acht Monate später in Paris zu Charlie Hebdo mit insgesamt zwölf Todesopfern kommt, den späteren Tod der beiden Attentäter nicht eingerechnet, ist er längst hier.

      Musa schaudert auf. Die Heilsversprechen des Predigers von damals schießen ihm durch den Kopf. Jetzt auf einmal wie Giftpfeile. Und jedes Gegenserum erscheint wirkungslos, die Verheißungen am Horizont seiner Hoffnungen und Erwartungen in Trug und Rauch auflöst, verpufft zu einer diffusen Wolke aus Lügen und Propaganda. Das glorreiche Wissen, welches er einmal zu besitzen geglaubt hat, ist gänzlich verflogen. Was er noch hat, ist allein sein Instinkt als Mensch, der ihm verbietet, seinen Schutz aufzugeben. Zitternd vor Angst und Erschöpfung bleibt er noch geraume Zeit in Deckung. Das hier, weiß er, ist nicht ein Funke vom Paradies. Es ist die Entität des Feuers, das aus der Hölle zu ihm emporschlägt.

      Irgendwann, im Schutz dieser bewölkten, ausnahmsweise sternenlosen arabischen Nacht, gelingt Musa der Ausbruch aus dieser Hölle. Unbemerkt kommt er davon, stolpert wie in Trance dem entgegen, was er einmal als Leben gekannt hat. Über die Türkei und den Balkan schlägt er sich durch bis Wien, steht, physisch und psychisch am Ende aller Kräfte, an Mutters Maryams Tür, die ihn längst verloren gegeben hat. Hier taucht er unter. Bei ihr und den Schwestern Aisha und Hatija. Kurze Zeit nach seiner Heimkehr, an einem verregnet kühlen Morgen, läutet es an der Tür. Beamte des Verfassungsschutzes. Erst jetzt hat Musas Flucht ihr tatsächliches Ende gefunden.

      *

      Das Gesicht des Häftlings ist schmal, fast eingefallen, und die markanten, hoch abstehenden Wangenknochen erwecken den Eindruck, als wollten sie einen Rest von Stolz hochhalten, Relikte aus verlorenen Tagen, vom übrigen Antlitz des jungen Mannes wie auch seinem Körper längst verworfen. Sein loser Händedruck fügt sich da ins Bild, ist wie der Griff in einen angefeuchteten Schwamm. Er ist von mittelgroßer, beinahe schmächtiger Statur, trägt das Haar kurz und wirr, und seine Augen sind ermattet dunkel, ein schales Schwarz, wie gebrochen. Ein alles in allem hageres Männchen ohne Kontur, das da vor mir steht, ohne Halt, und auch ohne Ziel, wie es scheint.

      Die Wege sind verschlungen und weit, um einen wie Musa erstmals allein zu Gesicht zu bekommen. Unter vier Augen. Und nur im Fall des Falles ist ein weiteres Augenpaar zur Stelle. Endlos lange, endlos trostlose Korridore und Treppen haben mich hierher ins vierte Stockwerk geführt. Abteilung C. Ab und an ein Bild an der Wand, eine Bleistiftzeichnung, die meisten erstaunlicherweise von gar nicht ungelenkem Strich.

      Erstaunlicherweise?

      Irgendwo, mittendrin in diesem Nichts aus bezuglosen Längen und Etagen, ein nüchterner Aufenthaltsraum mit zerschlissener Gymnastikmatte. Ein Hometrainer. Ein Tischtennis-Tisch. Und weiter. Viele der Korridore sind mit gräulich marmorierten Kunststoffplatten ausgelegt. Andere mit Bahnen aus beigem Linoleum. Da wie dort durchwebt ein diffuser, grüngelblicher Schimmer die Gänge. Das Zusammenspiel von kaltem Deckenlicht und schmutzig weißen Wänden mit ebenso schmutzig weißen Türen macht es aus, sage ich mir. Manche Türen sind lindgrün umrahmt, manche paprikarot, über Kopf bis auf Hüfthöhe, andernorts auch Türblätter, die wie ihre Fassungen in durchgängigem, sattem Tannennadelgrün schimmern.

      Die Zimmer hinter der Armada von Türen sind von weitgehend einheitlicher Größe und Grundausstattung. Kleinigkeiten machen den Unterschied aus. Persönliche Präferenzen wie auch Möglichkeiten. Die Fenster blicken zum Hof, einige sehen den Fußballplatz. Und wären die Zugänge nicht durch und durch aus Metall, und stünden die an ihrem Ende zu kleinen Bällen abgerundeten Türschnallen nicht auf seltsame Weise senkrecht nach oben ab, und fehlten ihre Gegenstücke nicht an den Türinnenseiten überhaupt, man könnte meinen, in einem aus der Zeit gefallenen Sanatorium gelandet zu sein. Oder einem aufgelassenen Provinzkrankenhaus aus den späten Sechzigern. Nur der markante, leicht süßliche Geruch von Chloroform fehlt. Doch hier ist nichts aufgelassen, nichts aus der Zeit gefallen, sieht man von den Gästen ab. Hier herrscht Vollbetrieb im 21. Jahrhundert. Von morgens bis abends. Montags bis sonntags. Ausgebucht bis aufs letzte Stahlrohrbett von Jänner bis Dezember, Tendenz: überbelegt. Ein Hotel mit Vollpension wider Willen.

      Knapp 1100 Häftlinge sitzen hier ein, in der Justizanstalt (JA) Josefstadt in Wien, Österreichs größtem Gefängnis. Beinahe jeder dritte Insasse ist Muslim. Es ist Freitag, kurz nach dreizehn Uhr. Der Geruch vom Bratensaft liegt immer noch in der Luft. Instantware. Gulasch, wie ich mutmaße. An der Pinnwand, scharf neben der Türe, sehe ich den Aushang, dass ich zurzeit keine Zeit habe. Soll heißen, dass meine Kapazitäten für Gespräche wie das folgende restlos erschöpft sind. Keiner weiß das besser als ich. Musa hat Glück gehabt, gepaart mit einem Mix aus Eindringlichkeit und Aufdringlichkeit, die er im Vorfeld an den Tag gelegt hat, und wie ich rasch bemerke, weiß er sein Privileg auch zu schätzen. Handshake. Wir nicken einander stumm zu, dann erst betreten wir den Besprechungsraum. Die umfunktionierte Zelle, in die Musa und ich uns begeben, ist anders als die übrigen. Noch spartanischer. Zwei Stahlrohrsessel mit Holzauflage empfangen uns. Ein kleines Tischchen, das von der Türe aus jederzeit einsehbar ist und gerade ausreichend groß für zwei Paare gefalteter Hände ist. Bei Bedarf eine Gebetskette. Ein Koran. Mehr nicht. Einzig im legendären Café Hawelka in der Wiener Innenstadt fänden an solch minimalistischem Ort vier, vielleicht fünf Menschen Platz, die Schlichterqualitäten des alten, längst verstorbenen Ehepaars vorausgesetzt.

      Tatsächlich sind zwei fast schon zu viel, und der knappest bemessene Raum ringsum führt die Sprache maximaler Reduktion beharrlich fort. Eine bessere Briefmarke mit Zu- und Abgang. Am hinteren Ende des Zimmerschlauchs zwei schmale, übereinander angeordnete Fenster, in dunklem Grün gerahmt. Jedes so groß wie ein Kopf. Das war’s.

      Doch um ausschweifenden Raum oder heimelige Atmosphäre dreht es sich hier nicht. Hier geht es ausnahmslos um Lebensgeschichten. Um Welten und ihre subjektive Wahrnehmung und Darstellung. Und so habe ich fest im Sinn, auch Musas Geschichten – jene über Morde und Plünderungen und all die anderen Schreckenstaten während der langen Monate in Syrien – vielleicht nicht immer kommentarlos, doch auf jeden Fall frei von Wertung hinzunehmen als das, was sie sind: Erinnerungen, oftmals zu eigenen, befremdlichen Wahrheiten getrübt, die jäh, bisweilen auch im Zuge ein und desselben Gesprächs in völlig andere Wahrheiten kippen können. Manchmal schwingen sich da Beobachter in der Wiedergabe zu Tätern auf, dann wieder bezeugen sie eigene Untaten wie aus dritter Hand. Manchmal sind es bei Männern wie Musa offenkundige Prahlereien, die mir zu Ohren kommen, dann wieder Beschwichtigungen, stark herabgespielte Versionen tatsächlicher Gräuel, dazu angetan, ein mögliches Strafausmaß im Vorfeld zu lindern. Oder sei es, dass ihr Eigner sie in der Rückbeschau nicht anders zu ertragen wüsste.

      Für mich spielt es keine Rolle. Denn weder bin ich Ankläger, noch Richter. Weder urteile ich darüber, was mir zugetragen wird, noch prüfe ich es auf seinen Wahrheitsgehalt, noch trage ich es weiter. Ich bewahre es bei mir. Und wenn ich es nun hier wiedergebe, so geschieht es in einer anonymisierter Form. Die Berichte sind allesamt echt. Die Menschen sind es auch. Wie auch die Bezüge zueinander. Nur nicht die Namen. Und doch stehen sie paradigmatisch für die vielen Gesichter von Radikalisierung und Terror, aber auch für die vielen Gesichter, die das Leben an Möglichkeiten zur Läuterung bereithält. Schweigen darüber, was jedem Einzelnen im Detail widerfahren ist, insbesondere aber,

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