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nächsten Morgen im Bus fühlte ich mich unbehaglich. »Wir müssen reden«, hatte Shird noch gesagt, ehe ich zu Franzi aufgebrochen war. Ein Satz, der wegen meines stets latent schlechten Gewissens bei mir schon immer unangenehme Erwartungen ausgelöst hatte.

      Und wer war dieser Christopher?

      Das hatte mir Shird nicht mehr verraten. Er war doch hoffentlich nicht wieder einer dieser Gurus, die Ordnung ins Leben zu bringen versprachen. Shird hatte keine Ahnung, wie viele Bücher solcher Gurus ich in meinem Leben schon geschenkt bekommen hatte, von wohlmeinenden oder genervten Freundinnen, Ex-Freunden, Arbeitskollegen und Verwandten.

      Denn im Prinzip waren schon immer alle gegen mich gewesen. Unter den Menschen, die mich etwas näher kennengelernt hatten, gab es kaum welche, die mich nicht chaotisch oder zumindest schlampig gefunden hätten, und die das nicht irgendwann auch mehr oder weniger freundlich angemerkt hätten.

      Ich hatte diese Ratgeber tatsächlich alle gelesen. Von »Magic Cleaning«, über »Minimalismus« bis »Simplify your life« kannte ich sie alle. Ich kannte ihre Powertipps, wie ich durch Aufräumen und Entrümpeln mit weniger leben und dabei Zeit und Geld sparen konnte, wie ich meinen Konsum kontrollieren und dabei gelassener und entspannter, freier und glücklicher werden konnte.

      Fast wie eine Sekte kam mir diese Aufräumfraktion inzwischen vor, die ewiges Glück durch Ordnung versprach. Bloß hatte sie mir nie wirklich geholfen. Ich verstand zwar die Botschaft und fand sie theoretisch auch richtig, aber letztendlich schien sie mir für Streber und penible Listenschreiber gemacht zu sein, nicht für mich. Ich war einfach die Falsche dafür.

      Unseren Ambulanzoberarzt Shird mochte ich eigentlich. Er war kompetent und gut darin, sein Wissen weiterzugeben. Dabei war er nie überheblich, sondern einfühlsam und verständnisvoll. Keine menschliche Schwäche schien ihm fremd zu sein, und er schien alle Schwächen weniger als Makel, sondern vielmehr als Macken zu betrachten, die Menschen immer auch zu etwas Besonderem machten.

      Heute hatten wir miteinander Nachtdienst und wie immer bei solchen Gelegenheiten trafen wir einander vor der Dienstübergabe zum Mittagessen in der Kantine unseres Krankenhauses, die in dem geschichtsträchtigen Jugendstilgebäude am westlichen Rand Wiens eingerichtet war und mit Terrasse samt Blick auf Magnolien und Birken punktete.

      Wir nahmen beide das Wiener Schnitzel, das hier jeden Tag auf der Speisekarte stand. »Wer ist dieser Christopher, den du gestern erwähnt hast?«, fragte ich Shird, als wir uns in die Sonne setzten. Ich fragte das weniger aus Interesse, sondern eher um ihm zuvorzukommen. Ich wollte diese Neuauflage eines Gesprächs, das ich schon oft genug geführt hatte, so rasch wie möglich hinter mich bringen.

      Shird erzählte mir, dass er vor vielen Jahren als Assistenzarzt an der Wiener Universitätsklinik einen Neurologen namens Christopher kennengelernt hatte. Christopher war fachlich brillant. Er wusste immer alles bis ins letzte Detail, konnte bei seinen Patienten mehr Differentialdiagnosen aufzählen, als in den neurologischen Lehrbüchern standen, bemerkte die kleinste Lähmung des winzigsten Augenmuskels, kannte sämtliche Befunde seiner Patienten auswendig und spürte selbst in kilometerlangen EEG-Kurven noch eine auffällige Zacke auf.

      Dieser Christopher suchte vor jeder Diagnose so lange und so genau nach Symptomen, bis er ganz sicher die richtige gefunden hatte, und er war dabei ein ruhiger, besonnener und verlässlicher Mensch, der immer von allem in feinsäuberlicher Schrift Tabellen führte. Das war ihm besonders wichtig. Wenn am Abend sein Tagesverlauf mit all seinen Ereignissen nicht in diverse Tabellen eingeflossen war, konnte er angeblich nicht schlafen.

      Shird hatte Christopher bewundert und ihn für sich zu einem lebenslangen Vorbild gemacht. »Kommt dir dieser Typ Mensch aus deinem Studium bekannt vor?«, fragte er mich.

      Ich dachte nach. Pflichtbewusst, zielstrebig, zuverlässig und eventuell etwas pedantisch, was für einen diagnostizierenden Arzt ja durchaus günstig war. »Christopher ist eine klassische zwanghafte Persönlichkeit«, antwortete ich. »Und mit dem soll ich mich jetzt anfreunden? Warum? Damit etwas von ihm auf mich überspringt? Worum geht es hier?«

      »Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust«, antwortete Shird. »Kennst du dieses Zitat aus Goethes ,Faust‘? Darum geht es hier, bloß dass auch das nur die halbe Wahrheit ist. In Wirklichkeit wohnen vier Seelen in der Brust von jedem von uns. Jeder von uns birgt vier Persönlichkeiten in sich. Nicht irgendwelche Persönlichkeiten, sondern ganz bestimmte. Es sind bei jedem von uns die gleichen vier, bloß sind sie bei jedem unterschiedlich stark ausgeprägt. Kennst du den Psychologen und Psychoanalytiker Fritz Riemann? Er hat das bereits 1961 dokumentiert.«

      »Riemann sagt mir natürlich etwas«, log ich. »Aber was hat das mit deinem Christopher zu tun?«

      »Christopher steht für mich für eine dieser vier Persönlichkeiten, die wir in uns vereinen«, sagte er. »Für die zwanghafte, wie du ganz richtig bemerkt hast. Sie hat wie jede dieser Persönlichkeiten Vor- und Nachteile. Sie sorgt für Ordnung, aber sie kann auch pedantisch sein. Sie ist genau, aber sie kann auch übergenau sein. Ist die zwanghafte Persönlichkeit bei dir zu stark ausgeprägt, wirkst du pedantisch und übergenau. Ist sie zu schwach ausgeprägt, wirkst du wie eine Chaotin.

      Ich würde sagen, wie der Fall bei dir liegt, ist ziemlich eindeutig. Würdest du dich mit dem Christopher in dir anfreunden und mehr von ihm zulassen, käme schnell Ordnung in dein Chaos.«

      »Wow«, sagte ich. »Plötzlich Patientin.«

      »Ach was«, sagte Shird. »Die vier Persönlichkeiten, die jeder von uns in sich vereint, sind bei den wenigsten von uns im Gleichgewicht. Denk nur an unsere Kolleginnen und Kollegen. Da fallen dir bestimmt welche ein, die eher zu viel Christopher haben.«

      »Du meinst Therese, diese Spinnerin«, sagte ich. »Sie ist heute wieder wegen meiner Mäntel und Bücher auf mich losgegangen.«

      Shird winkte ab. »Ich nenne keine Namen, aber es tut jedem von uns gut, am Gleichgewicht zwischen den vier Persönlichkeiten in uns zu arbeiten. Es ist immerhin eine Voraussetzung dafür, glücklich oder zumindest zufrieden leben zu können. Denke an ein vierköpfiges Team. Jeder der vier in diesem Team hat bestimmte Stärken und bietet in Krisensituationen bestimmte Lösungsmöglichkeiten an. Dominiert ein Mitglied des Teams oder fällt eines ganz aus, haben alle ein Problem.«

      »Ehrlich gesagt habe ich noch nie von diesem Riemann gehört«, gab ich jetzt zu. »Aber deine Geschichte erklärt wirklich manches. Wo finde ich den Psychiater, der den Christopher in mir mit meinen anderen drei Persönlichkeiten in Einklang bringt, damit ich nie wieder Patienten gleichzeitig bestelle und immer pünktlich bin, wenn ich mit meiner Nichte in den Zirkus will?«

      »Du brauchst keinen Psychiater«, sagte Shird. »Das Schöne an der Sache ist, dass die vier Teile unserer Seele beziehungsweise die Verhältnisse zwischen ihnen unser Leben lang wandelbar bleiben. Wir haben jederzeit die Möglichkeit, schwächere Anteile zu stärken und dominante etwas in den Hintergrund zu drängen, und wir können das selbst.«

      »Ich bin also kein hoffnungsloser Fall?«

      Als ich Shird lächeln sah, fragte ich mich, wie oft er diese Geschichte wohl schon Patienten erzählt hatte. Aber egal, dachte ich. War ich eben die mit dem unterentwickelten Christopher.

      »Du bist weder ein hoffnungsloser noch ein schlimmer Fall«, sagte er.

      Während Shird für uns Apfelstrudel und zwei Espressi holte, fiel mir ein, dass auch ich einen ziemlich lupenreinen Christopher kannte. Ich hatte ihn vor einigen Monaten kennengelernt, nachdem mir ein Freund, angesichts des Chaos in meinen Finanzen, den Steuerberater seines Vertrauens empfohlen hatte. In dessen Kanzlei war ich mit einer Reisetasche voller Ordner und Zettel aufgekreuzt.

      Als in seinem Besprechungszimmer mit den säuberlich geordneten Büchern und Ordnern der Inhalt meiner Tasche auf einen großen, leeren Glastisch gequollen war, war mir mein Chaos richtig peinlich gewesen. Um die Peinlichkeit noch zu steigern, begleiteten ein paar Federn, Tannenzapfen und Gräser vom letzten Waldspaziergang mit Franzi, meiner jüngsten Tochter und meinem Hund die Unterlagen.

      Ich kam mir erbärmlich wie eine Obdachlose vor, die bei einer Polizeikontrolle ihr Hab und Gut auf

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