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sind die Grundlagen wahrer Moral.

      Wir Menschen sind „nichts“ vom herkömmlichen und trennenden Blickpunkt aus gesehen und „alles“ vom Blickpunkt der Einheit, der Göttlichen Wirklichkeit. Ganzheit ist Vollkommenheit und wir sind ein Teil davon, ein Teil der Schöpfung. Gott gegenüber sind wir „nichts“ oder „alles“, je nach Anschauung. In Bezug auf das Universum sind wir Teil, Teil dieser erschaffenen Vollkommenheit. Die Ganzheit pulsiert in unserer Mitte, ein himmlisch–Göttlicher Kern, dessen äußerste Peripherie das Ego ist.

      Das Ziel der Sufis ist es, sich in der Peripherie des Egos die Göttliche Mitte zu vergegenwärtigen und gleichzeitig nach der eigenen Ganzheit zu suchen. Es ist der Weg vom Exil in die Heimat, zur Mitte, zu meinem wahren Selbst, durch das Erkennen der Ganzheit der Existenz. Weg und Mitte sind hier die Orientierungen.

      Das größte Geschenk an den Menschen ist die Erkenntnisfähigkeit. Der Prophet Muhammad, Allāhs Friede und Heil seien mit ihm, hat gesagt: „Gott hat nichts Edleres als das Erkenntnisvermögen geschaffen, und sein Zorn fällt auf den, der es verachtet“.

      Die Erkenntnisfähigkeit ist dem Menschen gegeben, die Verführung folgt stets auf der Ebene des Willens. Der Wille ist der Wind – verweilt er im Göttlichen Willen, so widerspiegelt er klar den ewig vollkommenen ruhigen See in uns. Ist der Wind durch Turbulenzen des Egos gestört, wird auch der Widerschein der Sonne gestört und die Göttliche Spiegelung verzerrt. Das Böse oder die Disharmonie ist nicht das Gegenteil von Gott, sondern befindet sich im Widerstand zu Allāh. Alles besteht aus und kommt von derselben Quelle. Das Göttliche beinhaltet beides, schwarz und weiß, männlich und weiblich.

      Das Konzept der Dualität existiert, um uns besser in dieser Welt zu orientieren, doch nicht, um darin gefangen zu bleiben. Denn die Dualität besteht in dieser Welt nur, um uns in die Einheit zu führen. Die Dualität ist eine Welt der augenscheinlichen Gegenpole, die sich ergänzen, sie sind keine „wahren“ Gegensätze. Alles ist miteinander verwoben, alles ist ein untrennbares Energiemuster.

      Die Verwendung und Vertiefung in die Göttlichen Namen, vor allem die „Gegenpolnamen“ wie z. B. Aḍ–Ḍār / An–Nāfi‘ „Der Erschaffer des Schadens“ / „Der Erschaffer des Nützlichen“ oder Al–Qābiḍ / Al–Bāsiṭ „Der Zusammenziehende“ / „Der Ausbreitende“, helfen uns, den linearen Verstand zu transzendieren und die Verbundenheit aller Dinge als Realität zu erfassen. Der Sufi sucht Zuflucht im Göttlichen, bis er sowohl bei dem einen wie auch dem anderen Namen, sowohl bei den leicht zu tragenden wie bei verworrenen Situationen, nur mehr „Geliebter“ ausrufen kann, weil alles mit der Weisheit des Herzens erkannt und aufgenommen wird. Je tiefer und weiter unser Bewusstsein wird, je mehr wir uns aus der Abschnürung des Ichs befreien, desto mehr begreifen wir diese Realität.

      Der Weg dorthin besteht in der Annäherung der Peripherie des Ichs an die Mitte des wahren Seins. Die vielfältigen äußeren Manifestationen sollen uns helfen, den Weg zur inneren Dimension anzugehen, wo alles in der Einheit mündet, stirbt und wiedergeboren wird.

      Die ausgewogene Mitte zu finden zwischen den beiden Kräften, die wir in uns tragen, ist der Weg der Sufis. Wir sind einerseits himmlische, andererseits irdische Wesen. Himmlisch wie die Engel, nur zu Gutem fähig, im Lobpreis des Einen verweilend und irdisch wie die Tiere, die ihren Trieben und Bedürfnissen folgen. Für beide – Engel und Tier – ist dieser Weg, sind ihre Gaben bestimmt, und sie beide können nicht anders.

      Wir Menschen aber sind mit dem Erkenntnisvermögen, also mit der Fähigkeit des Verstandes, der Reflexion, beschenkt und sind daher auch mit der Aufgabe und Bürde der freien Wahl beerbt. Wir sind uns unserer selbst und unserer Taten bewusst und tragen daher die Konsequenzen unserer Handlungen. Wenn wir uns zu unserem wahren, tiefen Göttlichen Sein hinwenden, mit all dem Ringen, das damit verbunden ist, steigen wir aufgrund unserer bewussten Entscheidung höher als die Engel, und wenn wir uns für unsere Triebe und eigennützigen Ich–bezogenen Bedürfnisse entscheiden, sinken wir tiefer als tierisches Leben.

      In dieser bewussten Entscheidung und großen Anstrengung liegt die Würde des Menschen. Stetig Schritt für Schritt, Atemzug für Atemzug das Ego einnehmend, verwandelnd und mehr und mehr, tiefer und tiefer mit den Göttlichen Eigenschaften sich einfärbend, gelangt der Mensch zu seiner wahren Bestimmung, zu seiner wahren Natur. Dafür ist es wichtig, sich selbst kennenzulernen, um die richtigen und effizienten Methoden anzuwenden, die uns zu unserem wahren Sein, zur Liebe, zum Sinn unserer Existenz führen, zum Großen Geliebten in und um uns und jenseits von Allem!

      Rumi umschreibt den Menschen so treffend:

      „Ein Wesen mit Engelsflügeln, an den ein Eselsschwanz gebunden ist!“

      Der Mensch vereinigt in sich die Gesamtheit von Allem und wird daher die/der Auserwählte der Schöpfung genannt.

      Sei dir deiner Ewigkeit bewusst und des „zeitlosen Augenblicks“, geschaffen durch dein Gedenken an Allāh! Werde, wie die Sufis sagen, „die Tochter, der Sohn des gegenwärtigen Augenblicks“ und sorge dich nicht um das Morgen! Denn nur im gegenwärtigen unersetzlichen Augenblick im Göttlichen „Jetzt“, gehören wir ganz Gott.

      Stehe auf und beginne zu gehen, öffne dein Herz, lass dich in der Göttlichen Absolutheit drehen und wenden, wissend, dass alles von Ihm kommt und zu Ihm zurückkehrt. Das Endziel der Sufis ist die Erkenntnis des Göttlichen, das Einswerden mit Gott und die Auflösung der Ketten des selbstgefälligen, selbstsüchtigen, ängstlichen Ichs. Die Liebe als vereinende Kraft steht dabei im Zentrum. „Nicht die Furcht vor der Hölle, noch die Aussicht auf das Paradies sind maßgebend, sondern allein die ewige Schönheit Gottes zu erfahren“, sprach Rābi‘a Al–‘Adawiyya so treffend.

      Auf der Suche nach der Erkenntnis des Göttlichen, der Ewigen Realität, sind die Selbstbeobachtung und die spirituelle Reinigung des Herzens wesentlich. Dies ist es, was die Sufis den „großen Djihad (ǧihād)“ oder ğihād un–nafs, „den großen Kampf, die große Anstrengung gegen die Isolationsbestrebungen des verletzten Ichs“ nennen. Folglich bedeutet ǧihād „Anstrengung für das Göttliche“ gegen die selbstsüchtigen Leidenschaften und Schwächen. Djihad kommt vom Verb ğahada und bedeutet „sich bemühen, kämpfen, an sich arbeiten, anstrengen“ und zwar für eine gute Sache und gegen Übel. Das Ego–Nafs mit Mitgefühl und Nächstenliebe zu füllen, mit der Erkenntnis, dass des Nächsten Zustand und Situation sehr wohl mit meinem verbunden ist, erfordert Selbstüberwindung und kann nur erreicht und erkannt werden, wenn ich den Urstoff, den Urgrund, der uns alle verbindet, erfahre. Wenn ich also mein Herz langsam öffne und sage: „Ja, komm Vertrauen, komm Liebe und berühre mich! Ich habe Angst vor den Konsequenzen, ich habe Angst, dass vielleicht auch Schmerz kommen kann, aber ich will ganz werden, ich will den Schritt aus der Isolation wagen und ich werde den notwendigen Kampf und die Achtsamkeit aufnehmen, um heil zu werden!“ In dem Sinne ist Djihad (ğihād) ein „heilender, heiliger Kampf“ bis der Zustand der „Seele im Frieden“ erlangt ist.

      Der arabische Begriff „nafs“ steht für die menschliche „Seele“ und/oder das „Selbst“ in welche Allāh Sein rūḥ (Geist) gehaucht hat. Das Nafs umschließt moralisch höhere sowie niedrigere Eigenschaften wie Hass, Gier, Neid usw. Das Nafs ist im Gegensatz zum Geist rūḥ der Teil im Herzen des Menschen, der unter seine eigene Kontrolle gestellt wurde, sozusagen sein „Ich“. Nun sollen aber die niederen Eigenschaften eines Menschen nicht abgetötet sondern kanalisiert werden, um auf dem Weg zum Göttlichen dienen zu können. Das Umwandeln der niederen Triebe und Eigenschaften der Seele/des Selbst in nützliche Werkzeuge ist eine komplexe Angelegenheit. Es bedeutet, die niedrigen, selbstsüchtigen, egoistischen Aspekte der Seele untertan zu machen, zu verwandeln und auszulöschen. Durch diesen Akt der Anstrengung (ğihād), des sakralen Wirtschaften in einem Selbst, lernt man, nicht vom Nafs beritten zu werden, sondern auf ihm zu reiten wie auf einem gebändigten Löwen. Ziel ist es, das selbstgefällige „Ich“ zu überwinden und zu einem gemeinsamen „Wir“ zu kommen – in der Ergebenheit und Hingabe in Gott.

      Die Praktiken dazu variieren von Gebet, Meditation, Tanz, Musik, halwa („Rückzug“) und dikr („Gottgedenken, Gottesbewusstsein“). Doch stets stehen der Alltag, der Umgang mit den Mitmenschen und die Handlungen im Mittelpunkt. Sie sind die wahre Übungs– und

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