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      Im vergangenen Jahr, als der Sommer vom Herbst abgelöst wurde und sich die Arbeit an Unter Ultras dem Ende zuneigte, beschäftigte mich vor allem eine Frage: Wie sieht die Zukunft der Ultras aus? Wie sieht die Zukunft einer Subkultur aus, die sich in einer Zeit der Konformität und des Überwachungskapitalismus ihres Widerspruchsgeists und ihrer Anonymität rühmt? Letzten Endes war ich optimistisch. Bei allen Problemen, auf die ich gestoßen war – insbesondere die Nähe der Ultras zur rechtsextremen Szene und zum organisierten Verbrechen in manchen Teilen der Welt –,gab die Bewegung Hunderttausenden, wenn nicht sogar Millionen Menschen auf allen Kontinenten ein Gefühl der Heimat und der Identität. Die Szene besaß politische Macht und sorgte im Idealfall für Veränderungen zum Guten. Natürlich passt die anarchische Freiheit der Ultras nicht zu dem Geschäftsmodell des globalisierten Fußballs, der ein keimfreies Unterhaltungsprodukt erschaffen und verkaufen will. Doch wie mir ein deutscher Ultra bei den Recherchen zu dem Buch erzählte, hat die Szene für sich selbst und ihr Überleben »zu Kämpfen gelernt«.

      Und dann kam Corona.

      Die letzten Spiele vor dem Lockdown sah ich in England. Ich war für ein Wochenende nach Hause geflogen, wo ich mit drei befreundeten Fans von Roter Stern Belgrad – zwei von ihnen Mitglieder der Delije – bei empfindlicher Kälte einem trostlosen 0:0 zwischen Millwall und Birmingham beiwohnte. In Serbien ist die britische Sitcom »Only Fools and Horses«, die in Südostlondon unweit der Heimstätte von Millwall spielt, äußerst populär, und so hatten die drei unbedingt fahren wollen und sich auch nicht von meinem Einwand beirren lassen, dass überhaupt nicht klar sei, ob Del Boy nun eigentlich für Millwall oder für Charlton Athletic war. Tags darauf machten wir uns in den Londoner Norden auf, wo Arsenal in der Europa League gegen Olympiakos spielte. Die Ultras von Roter Stern und Olympiakos verbindet eine innige Freundschaft, die vor allem auf dem gemeinsamen christlich-orthodoxen Glauben gründet. Die zahlreich anwesenden Gate-7-Ultras empfingen ihre serbischen Gäste mit offenen Armen, mir dagegen begegneten sie eher misstrauisch.

      Das Spiel endete auf spektakuläre Weise mit dem Siegtreffer durch Youssef El-Arabi in der letzten Minute der Verlängerung. Doch im Rückblick ist nicht das der erinnerungswürdigste Moment des Abends. Stattdessen geht mir nun nicht mehr das Bild des rundlichen Olympiakos-Eigners Evangelos Marinakis aus dem Sinn, wie er über das Spielfeld watschelte und die Fans seiner Mannschaft abklatschte. Zehn Tage darauf wurde bei ihm das neuartige Coronavirus festgestellt. Für mich war das der Moment, in dem eine weit entfernt scheinende globale Pandemie vor meiner Haustür ankam.

      Innerhalb weniger Wochen verschwand der Fußball. Weltweit wurde der Spielbetrieb der Ligen eingestellt. Bei der Rückkehr nach einigen Monate wurde hinter verschlossenen Toren gespielt. Allerdings gab es mehrere bemerkenswerte Ausnahmen. Belarus machte weiter, als wäre nichts geschehen. In Bulgarien kehrten die Ultras zu den Spielen zurück. Im Juni ließ Serbien beim Pokal-Halbfinale zwischen Roter Stern und Partizan 16.000 Zuschauer zu, allerdings wurden auch dort die Fans wieder ausgeschlossen, als die Infektionszahlen durch die Decke schossen. Doch der überwiegende Teil der Stadien blieb leer. Ein verbreiteter, ursprünglich dem legendären Celtics-Coach Jock Stein zugeschriebener Spruch unter Ultras und sonstigen organisierten Fangruppierungen lautet: »Ohne die Fans ist der Fußball nichts.« Diese Weisheit wurde nun einer ultimativen Prüfung unterzogen. Mehr als das: Das Ganze war eine existenzielle Krise. Stimmt es? Ist der Fußball ohne Fans tatsächlich nichts? Und falls der Sport auch ohne sie überleben sollte, würde dann bei einer Rückkehr der Fans in die Stadien die gesamte Subkultur strengen Regeln unterworfen, die sie schließlich zum Verschwinden bringen würden, wie es in den 1990er-Jahren in England geschehen ist?

      Doch zunächst standen dringlichere Probleme an. Die Ultra-Kultur reicht weit über die Stadien hinaus und engagiert sich seit Langem in Krisenzeiten in den Gemeinden vor Ort. In Deutschland wurden die Ultra-Gruppen besonders aktiv. Laut dem Journalisten Felix Tamsut, der in seiner Twitter-Timeline (@ftamsut) die Ultra-Aktionen in der Corona-Krise zusammentrug, sammelte bei Borussia Dortmund The Unity (ebenso wie die Desperados und Jubos) Lebensmittel und verteilte sie an Bedürftige der Stadt. Bei Hansa Rostock organisierten die Suptras (ein Kofferwort aus »Supporters« und »Ultras«) eine Blutspendeaktion. Die Ultras Frankfurt sammelten Geld für die örtliche Tafel. Die Weekend Brothers beim VfL Wolfsburg gründeten eine eigene Tafel. Darüber hinaus gab es Solidaritätsaktionen für andere curve, etwa durch die Ultras Nürnberg, die knapp 16.000 Euro an die Curva Nord Brescia im europäischen Corona-Hotspot Lombardei spendeten. Die womöglich beeindruckendste Aktion starteten die Ultras von Brescias Erzrivalen Atalanta aus Bergamo, die halfen, ein Feldlazarett für die unzähligen Infizierten der Stadt zu errichten. In Kroatien, Marokko, Spanien, Frankreich, Israel und anderen Ländern gab es zahllose weitere Aktionen. Und die Liste wird bis heute länger.

      Als der Fußball nach drei Monaten ohne Fans zurückkehrte, erschienen die Spiele derart leblos, dass Zuschauergeräusche eingespielt wurden, um die von den Ultras geschaffene Atmosphäre zu imitieren. Manche Vereine füllten die Tribünen mit Pappfiguren der Anhänger. Die Fernsehsender erkannten, dass ihr Produkt nunmehr weniger wert war, und so machten sie überall in Europa Abstriche an ihren TV-Deals mit den Ligen. Corona tötete nicht etwa die Fankultur, sondern demonstrierte die Bedeutung der Ultras für das Spiel und die lokale Gemeinschaft.

      Doch selbstverständlich gab es auch weniger selbstlose Tendenzen. Die organisierte Kampfszene machte auch in der Krise anscheinend unverändert weiter. So fand etwa im August ein berühmt-berüchtigt gewordenes nächtliches Match 100 gegen 120 zwischen den Firms von Darmstadt 98 und Eintracht Frankfurt statt (zwei Minuten, 30 Sekunden, Sieg für Frankfurt).

      Corona wird nicht so bald verschwinden. Bisher hat die globale Pandemie vor allem gezeigt, wie wichtig die organisierte Fankultur ist. Doch so kann es nicht auf ewig weitergehen. Die Bewegung muss wiederbelebt werden durch die Erfahrung, der sie ihre Lebenskraft verdankt: das kollektive Erlebnis, seine Mannschaft 90 Minuten im Stadion spielen zu sehen. Wie sieht also die Zukunft der Ultras aus? Wie die übrige Gesellschaft werden sie sich an die Situation anpassen müssen. Doch die Szene hat sich als bemerkenswert widerstandsfähig erwiesen. Sie weiß, um ihr eigenes Überleben zu kämpfen.

       James Montague Istanbul, September 2020

       »Ich bin dir nicht böse wegen dem, was du über mich geschrieben hast. Du musstest dich auf andere Geschichten verlassen, und ich weiß nicht, ob überhaupt irgendjemand irgendetwas Gutes über mich für wahr halten würde.«

       Billy the Kid

       Kroatien

      SPLIT

      Zuerst kam das Feuer, dann brach die Hölle los. Dichte, ätzende Rauchschwaden verschlangen uns, bissen in den Augen und brannten mit ihrem unverkennbaren metallischen Aroma auf der Zunge. Einige Momente lang sah man kaum die eigene Hand vor Augen, zugleich hallten ohrenbetäubende Schlachtrufe durch den Dunst. Tausende Fans brannten rote Bengalos ab, warfen Rauchbomben und hüpften im Gleichtakt auf und ab. Die Nordtribüne des Poljud-Stadions, Heimat der Torcida-Ultras bei Hajduk Split, bebte. Zu unseren Füßen trennte ein schmaler Spalt zwei mächtige Tribünenteile, und die Betonstufen schwangen wie bei einem Erdbeben.

      Langsam zog die Dunstwolke von der Nordtribüne hinab auf das Spielfeld. Junge, mit Sturmhauben maskierte Männer enterten den Metallzaun und warfen ihre Bengalos Richtung Rasen. Die Fackeln zeichneten einen verblassenden Bogen an den dämmrigen Abendhimmel, um sodann am Rand des Spielfelds zu landen, auf dem das heißblütigste Derby des kroatischen Fußballs, das Ewige Duell zwischen Hajduk Split und Dinamo Zagreb, bereits in vollem Gange war. Mehrere Bengalos loderten auf den Sitzen der Nordtribüne weiter und entzündeten ein Feuer, ohne dass Panik ausgebrochen wäre. Die Menge wich lediglich ein paar Meter zurück, ohne die um sich greifenden Flammen und die schmelzenden Sitze weiter zu beachten. Ein Löschwagen jagte um den Platz, und zwei Feuerwehrleute kletterten mit einem Schlauch auf die Tribüne, um die Gefahr zu beseitigen.

      Dem Schiedsrichter blieb nichts anderes übrig, als die Partie zu unterbrechen. Das Spiel war ohnehin nur Nebensache, und das nicht nur, weil Dinamo den Titel in der Saison 2018/19 bereits so gut wie in der

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