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… Dieses Wasser fließt in das Meer, in das Meer mit dem salzigen Wasser. So wird das salzige Wasser gesund. Wohin der Fluss gelangt, da werden alle Lebewesen, alles, was sich regt, leben können und sehr viele Fische wird es geben. Wohin der Fluss kommt, dort bleibt alles am Leben.

      An beiden Ufern des Flusses wachsen alle Arten von Obstbäumen. Ihr Laub wird nicht welken und sie werden nie ohne Frucht sein. Jeden Monat tragen sie frische Früchte; denn das Wasser des Flusses kommt aus dem Heiligtum.

      Aus Ezechiel 47

       Die zweite Bekehrung

      Tertiat – das ist die dritte Probezeit im Jesuitenorden.1 Tertiat macht der Jesuit, der nun schon einige Jahre berufstätig ist, um seine letzten Gelübde ablegen zu können.

      Ich erhoffte mir zunächst nicht viel von diesem Tertiat, absolvierte es in den USA, um nebenher zu erfahren, wie sie dort das sterbende Ordensleben und die sterbende katholische Kirche organisieren. Das entsprach meiner damaligen Situation durchaus: Beruflich in der Fortbildung von Ordensleuten engagiert, war ich mit dem Problem der Überalterung der Orden konfrontiert. Aber ich fühlte auch mein eigenes (geistliches) Leben stagnieren – trotz aller Mühe, die ich mir gab. Ich wollte Jesus nachfolgen, hatte eine Ahnung, was das bedeutet, und war doch nicht in der Lage, das Kreuz in meinem Leben anzunehmen. Heftige Teamkonflikte zwangen mich zum Ausscheiden, obwohl ich die Arbeit liebte. Ich pflegte die geistlichen Übungen meines Ordens (Schriftbetrachtung, Heilige Messe, Jahresexerzitien, aktives Mitleben in der Kommunität, deren Oberer ich überdies war) und praktizierte Meditation, meist in Form des Jesusgebets. Gleichwohl waren meine Lebensprobleme nicht gelöst: Meine Einsamkeit. Der Kampf mit dem Zölibat. Mein Verlangen nach nahen Beziehungen … . Vieles hatte ich unternommen, um besser damit zurechtzukommen. Würde ich mit diesem Stand bis zu meinem Lebensende auskommen müssen?

      Und nun hatte ich mein Tertiat angetreten. Ich hatte keine Ahnung, dass es zu einer wesentlichen Zäsur in meinem Leben werden sollte. Es schenkte mir eine „zweite“ Bekehrung. Neben der Arbeit an der eigenen Biografie und den Geistlichen Übungen der dreißig Tage2 enthält diese geistliche Sabbatzeit auch ein sogenanntes Experiment, einen praktischen Einsatz, um mit der inneren Erneuerung in der Alltagspraxis zu experimentieren. Bei der Wahl des Experiments wurde mir, der ich zunächst einen Einsatz in den USA im Sinn hatte, allmählich ganz und unbezweifelbar klar, dass ich nach Indien gehen sollte, nach Kolkata, um dort den „armen und demütigen Jesus“ zu suchen und zu finden. Dort arbeitete ich zunächst in Mutter Teresas Sterbehaus für die Ärmsten mit. Aber ich fand ihn nicht, den ich suchte. Sollte ich vielleicht aufs Land gehen, um mich stärker auszusetzen? Um diese Frage zu entscheiden, verbrachte ich die Tage zwischen Weihnachten und Neujahr südlich von Kolkata im Ashram eines Jesuiten. Dort geschah etwas mit mir, was mir Hoffnung gab: Von meinem Herzen schien etwas wie eine eiserne Klammer abzufallen, die es eingeengt hatte. Ich empfand Trost. Sollte ich auf die Spur zu der Erfüllung gestoßen sein, die ich ersehnte? Also entschied ich, länger an diesem Ort zu bleiben, an dem es „nichts“ gab: kein bequemes Bett, keinen Strom und damit kein Radio und kein Fernsehen, weder Internet noch Licht – es wurde morgens gegen sieben Uhr hell und nachmittags gegen sechs Uhr dunkel –, natürlich weder Zeitung noch Zeitschriften – allerdings eine kleine Bibliothek und ringsherum nur ärmlichste Fischerdörfchen: Shopping unmöglich.

      Statt „mehr von Trost und guten Gefühlen“ erlebte ich in den folgenden acht Wochen jedoch geradezu das Gegenteil: Langeweile, Trockenheit und Leere, Unruhe und viel Ablenkung in Gebet und Meditation – und ich betete und meditierte viel, auch nachts, da ich es vor Rückenschmerzen auf der harten Pritsche nicht lange aushalten konnte. Meiner Unerfülltheit konnte ich allerdings nicht ausweichen. Sie war mein Begleiter bei allem, was ich tat. Und doch muss sich dabei im Hintergrund, von mir unbemerkt, etwas verändert haben. Denn eines Tages gingen mir die Augen auf und ich „sah“, dass ich in der Einheit mit allem und mit Gott lebte. Dass alles von Gott erfüllt war. Einfach so. Die natürlichste Sache der Welt, die weitergeht, wie sie immer weitergeht, weil sie nie anders war als von Gott erfüllt. Eine Tatsache, die vollkommen nüchtern lässt. Ein Faktum jenseits aller Gefühle. Nur war ich bisher blind dafür gewesen.

      Und nun saß ich am Howgli, einem Mündungsarm des Ganges zwischen Kolkata und Diamond Harbour, und dachte darüber nach, wie ich nach diesen Erfahrungen meines Ashram-Aufenthaltes in Zukunft beten und leben könne. Wie betet man zu einem Gott, der einen umgibt und durchdringt wie die Luft? „In dem wir leben uns bewegen und sind, ja, von dessen Art wir sind“? (Apg 17,28). Wohin das Herz erheben, wenn Gott alles erfüllt? Was ihm sagen, was er nicht wüsste, der ich vor ihm bin wie ein offenes Buch?

      Ich hatte in den zwei Monaten im Ashram intensiv Meditation geübt, dabei meine Atmung kontrolliert, um den Atem zu verlangsamen und doppelt so lange aus- wie einzuatmen, mich auf ein Chakra und ein Mantra konzentriert, das mein Mitbruder mir gegeben hatte. Das erschien mir nun so unbedeutend und künstlich, wie einen Eimer Wasser in den Howgli zu schütten, der hier, nicht weit vor seiner Mündung, bereits mehrere Kilometer breit war und das unendliche Meer erahnen ließ. Ozeanriesen schipperten auf ihm nordwärts nach Kolkata. Die Wellen plätscherten müde ans Ufer. Die Fischer rollten ihre Netze ein mit magerem Fang. Wozu diese Plackerei?, dachte ich. Wozu ‚gut‘ meditieren? Wozu perfekte Meditationstechnik? Wozu Konzentration auf ein Chakra oder ein Mantra? Ausgefeilte Meditationstechnik: das hat etwas von Überheblichkeit! Als könne man durch Perfektion Erleuchtung herstellen, quasi Gott zum Erscheinen zwingen und festnageln, ihn in einer Falle fangen wie ein seltenes Tier. Der Mensch bliebe der Herr dabei, nach dessen Pfeife Gott tanzt. Wenn alles von Gott erfüllt, alles mit Ihm verbunden ist, ganz gleich, worauf die Aufmerksamkeit trifft, ist dann nicht vielmehr Offenheit des Empfangens angebracht? Nehmen und Verweilen bei dem, was die eigene Aufmerksamkeit auf sich zieht? Es gibt nichts als Gott und seine Sphäre, in der auch der Mensch lebt, „denn in allem ist dein [Gottes] unvergänglicher Geist“ (Weish 12,1). Für das Gebet bedeutet dies, dass das Empfangen an erster Stelle zu stehen hat – und alles weitere Gott überlassen wird:

      – Wenn ich bete und ich bin müde, gelangweilt, unruhig, unlustig, unandächtig, so gestatte ich mir, so da zu sein. Wenn Er es anders haben will, dann möge Er mein Gebet verändern.

      – Wenn ich da bin im Gebet in Wut, Schuld, Scham, verlassen, ungeduldig, voller Empörung, voller Abwehr, dann bin ich da in Wut, Schuld, Scham, verlassen und ungeduldig, voller Empörung, voller Abwehr. Das ist der Mensch, den Er gerade im Dasein hält voll Liebe – wieso sollte ich diesen Menschen zurückweisen?

      – Wenn ich im Gebet Angst oder Schmerzen habe, dann empfange ich mich in meiner Angst und meinen Schmerzen; beides gehört zum Leben, ist, zumindest jetzt und hier, Teil meiner Wirklichkeit.

      Ich muss nichts verbessern, Unangenehmes nicht abkürzen oder wegschaffen. In der Zeit, in der ich bete, nehme ich mich so, wie Gott mich mir jetzt und hier gibt. „Ich nehme mich so“ – d. h. so, wie ich mich nehmen kann. Ich muss mir zubilligen, manches nicht nehmen zu können oder zu wollen; dann ist es das Abweisenmüssen oder -wollen, das ich da sein zu lassen habe: jeweils dasjenige, was bei mir jetzt und hier der Fall ist, was meine Wirklichkeit ist – soweit sie sich mir eben offenbart. Wenn Gott mein Herz zu sich erheben will, so soll er das tun ; geschieht es nicht, so ist das jetzt wohl nicht nötig oder nicht dran. Erzwingen brauche ich es nicht. Denn ich kann nicht kontrollieren, den zu finden, „den meine Seele liebt“ (Hld 3,1). Es geht nur darum, zu sein und sich komplett Gott zu überlassen. Ich höre auf zu beten wie gewohnt. Soll Er in mir beten! Ich muss gar nicht wissen, wie ich richtig bete; soll der Geist für mich eintreten (vgl. Röm 8,26).

      Es war mir klar, dass dies mein zukünftiger Weg sein müsse. Und zugleich war mir himmelangst. Ich fühlte mich, als wenn ich nackt den Rubikon überschritten und den Boden rein diesseitiger Realität ohne Religion betreten hätte. Doch das Vaterunser machte mir Mut. Auf den ersten Blick steht der Beter als Akteur quasi in der Mitte, der von ihm angesprochene Vater ihm gegenüber. Wenn aber der Beter vom Geist des Vaterunsers durchdrungen wird, wandeln sich Schauplatz und Aufstellung: Der Beter findet sich dann am Rande eines Raums vor, der vor ihm existiert und ohne ihn fortwährt; der restlos aufgespannt und vollkommen erfüllt

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