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vermag zu leisten, was Politik nicht kann: Antworten, mitunter auch unfertige, auf die Fragen zu geben, mittels derer der Künstler Paul Gauguin die gesamte Krisis menschlicher Existenz einfing: ‚Woher kommen wir? Wer sind wir? Wohin gehen wir?‘ Diesen auszuweichen auf Lebenszeit, das ist schlicht und einfach unmöglich. Die Welt bleibt verzaubert, weil irdische Existenz ohne transzendente Referenz an der Welt zerbricht.

      Andererseits aber verhext Religion, oder vielmehr deren Perversion, die Welt. Eine religiös plurale Gesellschaft in einem weltanschaulich neutralen Staat birgt von sich aus ein gewisses Spannungspotential. Vermengt sich dieses mit fundamentalistischen Strömungen, zeigt sich die schreckliche Fratze des religiösen Irrationalismus, die einen jeden erschaudern lässt. Berlin, London, Nizza, Paris: mitten ins Herz des europäischen Leibes, immer wieder, immer öfter. Und das Schlimme: kein Ende in Sicht. Ein leidiges Thema. Ein trauriger Höhepunkt aus christlicher Sicht sind Märtyrer mitten in Frankreich. Nicht die verdorbene Blutzeugenschaft islamistischer Attentäter, sondern die des wahrscheinlich bald seligen Priesters Jacques Hamel, dem bei einem Anschlag zweier Islamisten im Jahr 2016 die Kehle durchgeschnitten wurde, als er im kleinen, in der Normandie gelegenen Städtchen Saint-Étienne-du-Rouvray die heilige Messe feierte.

      Das beeinflusst die politische Diskussion, keine Frage. Schon deshalb ist, anders als hin und wieder behauptet wird, Religion keine Privatsache und kann es, anders als der Glaube des Einzelnen, auch nie sein. Deutschland hatte eine Schonfrist. Vielleicht haben die deutschen Politiker gedacht, der bittere Kelch des Rechtspopulismus würde an der Bundesrepublik vorübergehen, gehofft haben sie es allemal. Weit gefehlt. Wunschdenken. Rassemblement National in Frankreich, Partij voor de Vrijheid in den Niederlanden, Lega Nord in Italien, um von den Nachbarländern Deutschlands im Osten ganz zu schweigen. Alternativen auch für Deutschland?

      Doch nicht nur die Parteienlandschaft verändert sich. Mit ihr verschieben sich die Grenzen des Sagbaren, verändert sich auch die Sprache. Das ist die eigentliche Gefahr. Aufschlussreich sind Victor Klemperers Tagebuchnotizen zur Sprache des Dritten Reichs, der Lingua Tertii Imperii. Eine erschreckende Lektion über die Kraft der Sprache und die Macht dessen, der sie beherrscht. Denn sobald sich die Grenzen der Sprache verschieben, verändert sich auch die Realität. Es wird salonfähig, was noch undenkbar scheint, zuerst im Salon, dann auch auf der Straße. Zusehends verroht die Sprache in Teilen der Gesellschaft, leider auch an den politischen Rändern der parlamentarischen Demokratie. Und mit der Sprache verroht der Umgang mit- und untereinander. Das scheint es schier unmöglich zu machen, zu einer gebotenen Sachlichkeit zurückzufinden, ohne die es aber nicht möglich ist, die gegenwärtigen Herausforderungen mit der notwendigen Umsicht anzugehen. In der Folge bleiben die aktuellen Probleme auch die der Zukunft; nur, so viel ist sicher, neue Probleme kommen hinzu.

      Wem aber sollte man einen Vorwurf machen? Den Wählern? Ein zweifelhaftes Demokratieverständnis. In der Regel sind Ängste zwar nicht rational, für den Ängstlichen aber sind sie real. Deshalb ist Angst, eines der stärksten Gefühle überhaupt, auch ein starker Antrieb. Und abertausende, wenn nicht sogar Millionen von Menschen in Deutschland haben Angst. Vor Fremden, dem Verlust der eigenen Identität, dem Terrorismus, der Globalisierung und vielem mehr. Längst sind die besorgten Bürger zum geflügelten Wort geworden, leider auch zur standardisierten Phrase verkommen. Denn werden die Ängste der Menschen nur belächelt, unter Verweis auf ihre Irrationalität abgetan oder ignoriert, dann macht sich bei den Ängstlichen das Gefühl der Ohnmacht breit, dann entlädt sich die Angst und es entsteht Populismus, der sich gegen die (vermeintlichen) Eliten richtet. „Populistisch heißt: gegen das Establishment“, wie Alexander Gauland im Oktober 2018 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) feststellte. Er, der es wie kein Zweiter versteht, den populistischen Tiger zu reiten, muss es wissen.

      Im besten Fall, so seltsam das derzeit bei einem Blick in die Parlamente der Länder und das des Bundes klingen mag, entladen sich die Ängste der Menschen am Wahltag. Das Versprechen, Ängste ernst zu nehmen, hat die Alternative für Deutschland (AfD) bei der letzten Bundestagswahl beinahe aus dem Stand als drittstärkste Kraft in den Deutschen Bundestag katapultiert, um von den vergangenen Landtagswahlen und der Europawahl erst überhaupt nicht zu sprechen. Jeder Politiker, der dachte, Ängste ignorieren zu können, weil sie mitunter irrational sind, wurde eines Besseren belehrt. Im schlechtesten Fall aber entlädt sich durch Populismus geschürte Angst, gepaart mit Hass und Dummheit, in Chemnitz, in Freital oder in den unzähligen anderen Orten quer durch Deutschland, in denen Flüchtlingsunterkünfte angegriffen oder Hetzjagden auf Asylbewerber gemacht wurden. Und unterdessen schien das größte Problem in der politischen Debatte zu sein, ob eine Hetzjagd auch als solche bezeichnet werden dürfe. Da bleibt einem glatt die Spucke weg.

      Fast immer geht es bei diesen Konflikten auch um Religion. Selbsternannte ‚Patriotische Europäer‘ wenden sich ‚gegen die Islamisierung des Abendlandes‘ (Pegida). ‚Hooligans‘ kämpfen ‚gegen Salafisten‘ (Hogesa). Fast magisch wird die christliche Kultur beschworen, der Kontrast schlechthin, wie ein Mantra hallt der Ruf nach den jüdisch-christlichen Wurzeln des Okzidents nicht nur durch die Straßen, sondern auch durch die Bierzelte und die Talkshows der Republik. Nur, dass die christliche Religion in solchen Fällen beschworen, ansonsten aber an den Rand gedrängt wird und allenfalls noch folkloristische Bedürfnisse bedient, ist mehr als ein Scheinwiderspruch. Irrsinnig wird es gar, werden auf Demonstrationen von Pegida Kreuze in die Lüfte gereckt, getüncht in Schwarz, Rot und Gold. Oder, wie auf dem Titelbild dieses Bandes zu sehen ist, bei dem Pegida-Ableger in Düsseldorf (Dügida) ein Kruzifix, unter dem die Mutter Gottes betet. Über dem Kreuz weht nicht der Heilige Geist, sondern ein Deutschlandfähnchen, das ironischerweise aus dem Kreuzestitel herauswächst. Jesus von Nazareth, König der Deutschen?

      Fast könnte man Derartiges denken, werden doch zugleich ausländische Priester, die in großer Zahl in deutschen Gemeinden eingesetzt sind, um die als Priestermangel schöngeredete Glaubenskrise abzufedern, aufgrund ihrer Hautfarbe und Herkunft angefeindet und rassistisch beleidigt. Olivier Ndjimbi-Tshiende, der als Pfarrer von Zorneding zu trauriger Berühmtheit gelangte, steht nur stellvertretend für eine große Schar.

      Welcher andere als dieser Schluss sollte sich daraus ziehen lassen: Der Konflikt um Religion ist kein Konflikt um Religion. Der Konflikt um Kultur ist auch nur bedingt ein Konflikt um Kultur. Beide Konflikte sind zuallererst Konflikte um Identität, um Identitätskonstruktion. Nicht zuletzt zeigt sich das auch daran, dass in regelmäßigen Abständen erbittert um die Frage gestritten wird, ob es in Kindergärten oder in Schulmensen Schweinefleisch geben sollte. Heraufbeschworen wird der Untergang des Abendlandes. Nicht, weil die Trinität auf dem Spiel stünde, mit der Muslime bekanntlich ihre Probleme haben. Nein, ein Mittagessen bringt Europas Kultur zu Fall. Sei’s drum.

      Es geht also um Identität. Genauer: um Identität durch Abgrenzung. Das christliche Abendland, das christliche Europa, die christlichen Wurzeln unserer Väter und Großväter, unserer Mütter und Großmütter. Christliche Werte sind in aller Munde, nur für die verfolgten Christen im Morgenland, in Syrien und im Irak, deren Gemeinden nach Einschätzung der Gesellschaft für bedrohte Völker sogar in ihrer Fortexistenz bedroht sind, interessiert sich kaum jemand. Mit Glauben hat das erst einmal wenig zu tun.

      Doch wie sollten sich die Kirchen dazu verhalten, wenn der Name des Messias und seine Botschaft in gesellschaftlichen und politischen Diskussionen herumgereicht und angebetet werden wie einst das Goldene Kalb, er sonst aber zerschmettert am Boden liegt? Inwiefern ist es legitim, wenn sich Politiker christliche Inhalte aneignen, wenn in Landesbehörden Kreuze aufgehängt werden und so weiter, und wann ist das Christentum politisch vereinnahmt, die Grenze des Tolerablen überschritten? Wie sollten sich die Kirchen bei politischer Indienstnahme des christlichen Glaubens verhalten?

      Aber auch andersherum kann ein Schuh daraus werden. Jens Spahn hat in der Flüchtlingsfrage mehrfach die Kirchen angewiesen, sie sollten sich aus der Politik heraushalten und statt moralinsaurer Predigten lieber den Glauben verkünden. Ins gleiche Horn blies 2016 ausgerechnet Markus Söder, damals war er noch Finanzminister im Freistaat. Sind diese Forderungen mitunter gerechtfertigt, ist der Vorwurf, Kirchenvertreter greifen zu stark in die Tagespolitik ein, begründet?

      Diese Fragen stellen sich in einer Gesellschaft, deren staatlicher Rahmen ein sehr enges Verhältnis zu den Religionsgemeinschaften vorgibt und die beiden großen Kirchen faktisch privilegiert.

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