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und für den anderen vertraut. Viele Schalen, die wir im Laufe unseres Lebens um uns gelegt haben, um vielleicht eine bestimmte Wirkung zu erzielen, brechen ab. Und das, was ich bin, zeigt sich ungeschminkt. Als die erste meiner Mitschwestern an Demenz erkrankte, sagte diejenige, die ihr sehr viel später und unglücklicher folgte, oft, wie sehr sie darunter litt, dass die erkrankte Schwester ihre große Persönlichkeit verlöre. Dabei verlor sie nichts. Im Gegenteil, ihre Persönlichkeit als gereifte Frucht ihres langen Lebens strahlte durch – ungehindert von irgendwelchen Befürchtungen, was wohl andere von ihr denken könnten. Sie war einfach sie selbst und nichts Fremdes war an ihr oder in ihr. Es stimmte mit ihrem Leben überein, was da zum Vorschein kam.

      Es ist eine Weise von Ohnmacht, in der uns aus der Hand genommen wird, was wir so sicher zu haben meinen. Das gilt nicht nur für Demenz- oder Alzheimererkrankungen, sondern für alles Heranreifen in Krankheiten oder Situationen, die einen Blick auf unser leibliches Ende ahnen lassen. Und es ist jedes Mal eine Form von existenzieller Armut, die uns trifft und uns mit Ohnmacht in Fühlung bringt.

      Mangelerfahrungen durchziehen unser gesamtes Leben von Geburt bis zum Tod, wobei Anfang und Ende des Lebens offensichtlich die extremsten Armutserfahrungen ausmachen. Zwischen diesen beiden existentiellen Eckpfeilern der Armut spannt sich unser Leben. In den ersten Lebensjahrzehnten versuchen wir dieser Armut zu entkommen, indem wir lernen, entscheiden, erwerben, aufbauen, bis wir vielleicht ein gewisses Niveau erreicht haben, auf dem wir uns einrichten, sesshaft werden in dem Glauben, das gehöre jetzt uns. Doch dann beginnt der Kampf gegen den Verlust des Erreichten, in dem wir immer Verlierer zu sein scheinen. Denn es gibt keine Möglichkeit, dem Tod zu entkommen.

      Je nach der Gesellschaft, in der ich lebe, gibt es einen gewissen Standard, der mir sagt, was man glaubt, was man braucht, damit man das Leben als gelungen betrachtet. Was brauche ich, um mich wohl und glücklich zu fühlen? – und sich glücklich zu fühlen scheint für viele Menschen das Lebensziel zu sein: ausreichend Nahrung und ein Dach über dem Kopf; Menschen, zu denen ich gehöre; Freunde; Lebensgefährten; gesellschaftliches Ansehen; Freiheit der Lebensgestaltung; Möglichkeit zu gehen, wohin ich will; Zugang zu Informationen. Wer an all dem gar keinen Anteil hat, fühlt sich arm. Aus gesellschaftlichem Blickwinkel bleibt für den Armen nur ein eingeschränkter Lebensraum, Gefühl der Abhängigkeit, Eintönigkeit, wenig bis keine Bewegungsmöglichkeiten, sich am Rande wissen, beraubt der eigenen Lebensgestaltung. So erfahren wird Armut zum Unglück, zum Lebensunfall. Bleibt die Frage, ob wir das wirklich alles brauchen zum glücklichen Leben, was die Gesellschaft uns vorgibt, und ob es nicht doch noch eine andere Form von Armut gibt, die für das Leben öffnet, statt es zu beengen.

      Für mich gehört zum Beispiel zum Leben: atmen, wahrnehmen, auf das Wahrgenommene antworten können, kommunizieren, in Beziehung treten, Freude empfinden und Schmerz ertragen können, Glück im Augenblick mir schenken lassen und im Unglück das Geschenkte wieder loslassen, einfach sein dürfen, die ich bin.

      Aber ich mach auch immer wieder diese Erfahrung:

      Manchmal nehme ich gar nicht wahr, was mich umgibt, weil ich durch den Filter fremder Maßstäbe schaue.

      Manchmal kann ich nicht antworten, weil ich zwar von außen her höre, aber gar nicht weiß, was denn in mir selbst ist.

      Manchmal kann ich gar nicht leben, weil ich mich mit so Vielem zugepackt habe, von dem andere sagen, dass man es zum Leben braucht. Dabei lässt es mich nicht atmen, nicht wahrnehmen, nicht kommunizieren. Es loszulassen könnte mich zum Leben befreien. Um in dieser Gesellschaft zu bestehen, arbeiten wir an unserem Erscheinungsbild – leiblich wie geistig: wir absolvieren Kurse zur Verbesserung unserer Kommunikationsfähigkeit; wir trainieren unser Reaktionsvermögen; wir machen Seminare zum Erlernen der Achtsamkeit; – wir tun so vieles und versagen doch so oft in den zwischenmenschlichen Beziehungen, die unseren Alltag ausmachen. Und dieses Scheitern ist eine zutiefst schmerzliche Armutserfahrung. Sich ihr zu stellen, ihr nicht auszuweichen, kann aus dieser Armut heraus zu einem Weg in den Reichtum lebendiger Beziehung wachsen.

      In der Beziehung zu einem Menschen bin ich selbst gefragt mit allem, was mich ausmacht. Ich bin nicht die, für die andere mich halten. Ich bin auch nicht die, die andere gern in mir sehen möchten. Ich bin noch nicht einmal die, für die ich mich selber halte. Ich bin die, die ich werde, wenn ich mich loslasse.

      Ich bin die, die ich werde, wenn ich mich loslasse.

      Menschen, die mich lieben und die ich liebe, denen ich mich im Versagen zumuten darf und die mich dann annehmen, können mir helfen, die Angst vor dem Loslassen zu verlieren. Sie können mir helfen zu beginnen, an die Kostbarkeit meines eigenen Lebens zu glauben. Doch nur auf Gott hin gelingt Loslassen in voller Freiheit und nur von ihm her gibt es die Kostbarkeit des Lebens. Was immer ich Gott oder einem Menschen geben kann, kann nur ich selbst sein, in meiner armen Realität.

      Wünsche und Vorstellungen begleiten unser Leben. Wünsche von Menschen, die uns nahestehen und mit denen wir leben. Manchmal verdecken diese Erwartungen uns den Zugang zu der Wirklichkeit, die wir sind. Armut als Grundhaltung kann uns helfen, achtsam auf den jeweiligen Augenblick zu werden. Und in der Annahme der eigenen Realität die unverwechselbare Kostbarkeit des eigenen Lebens zu entdecken.

      Seit vielen Jahren begleitet mich in meinem Ordensleben ein Text der französischen Schriftstellerin Marie Noël. Ihr geistliches Tagebuch trägt den Titel »Erfahrungen mit Gott«, und der Entschluss, es zu veröffentlichen, geht auf den Rat eines in der französischen Literaturgeschichte damals als »Künstlerseelsorger« bekannten Priesters zurück. Die Notizen dieses Tagebuches kreisen um eine fast zwanzigjährige religiöse Krise. Sie beginnt ihre Aufzeichnungen mit der Überschrift: pour m’aider – um mir zu helfen. Und in der Hoffnung, es könnte auch anderen in ihrer Krise helfen.

      Ihre Aufzeichnungen sind ungeschminkt aus der Tiefe ihrer Seele und ihre Texte sprechen von ihrer Erfahrung, dass Gott aus dem Nichts alles macht. Unter der Überschrift »Kommunion« schreibt sie: »Da bist Du, mein Gott. Suchtest Du mich? Was willst Du von mir? Ich habe nichts, was ich Dir geben könnte …« und am Ende dieses kurzen Textes: »Herr! Da sammelst Du wie ein Lumpensammler Abfall und Unrat. Was willst Du daraus machen?« – »Das Himmelreich.«1

      Immer wieder findet ihre Verzweiflung über ihr eigenes Leben ins Wort, um dann in der Akzeptanz der eigenen Unwürdigkeit im Herzen Gottes zu landen, der das Kleinste und Unscheinbarste an sein Herz nimmt. So auch in einem Text, in dem sie ihren Glaubensweg zusammenfasst und der für mich Richtung gebend ist:

      »Die Geschichte meiner Seele, das ist die Geschichte vom Korn. Im Frühling war ich Saat im Winde, ich war Blüte, ich war Spiel und Freude. Damals, o mein Gott, habe ich Dich geliebt. Im Sommer ist mein Korn gereift: Ich habe Dir einige Werke gegeben. Im Herbst habe ich es verloren! Ich habe nicht mehr, was ich Dir geben könnte. Ich habe weder Blüte noch Korn. Ich bin nicht mehr ich selbst noch irgendetwas, was mir gleicht. Von Zerbrechen zu Zerbrechen bin ich zu Staub geworden. Da bin ich, gedroschenes Korn, zerriebenes Mehl, da bin ich: Brot, geknetet, gebacken, zerbissen, zerkaut, zerstört. Nichts ist von mir geblieben. Ich habe Dir nichts zu geben, o mein Gott, weder Blüte noch Frucht, weder Herz noch Werk; nichts mehr als einen gehorsamen Bissen trockenen Brotes. Dein Brot, wie Du das meinige bist.«2

      So ist es oft mit unserem Leben: zuerst blühe ich auf, das Schöne und Helle bestimmt die Tage – es ist die Zeit der ersten Liebe. Dann kommt die Zeit, sich einzusetzen und Werke zu vollbringen – es ist die Zeit der Fruchtbarkeit. Und im Herbst des Lebens bringt Gott die Ernte ein, für die ich selbst nichts mehr tun kann. Was ich schaffe und tue, ist vergänglich. Was bleibt ist die Liebe, die andere nährt und sogar Gott nährt.

      Ja, ich glaube, dass wir uns zumindest ein wenig auf das Ende vorbereiten können. Das Zauberwort dieser Vorbereitung heißt »loslassen«: loszulassen – meine Vorstellungen von mir selbst; loszulassen, was ich selbst oder andere von mir erwarten; loszulassen, was man als gelungenes Leben betrachtet. Stattdessen gilt es, in die Hingabe hineinzureifen, eine Hingabe, die nicht zerstört, nicht unter Leistungsdruck steht, die sich unterscheidet von Preisgabe des eigenen Lebens. Eine Hingabe, die sich dem Leben Gottes öffnet und von ihm her alles empfängt, da die eigene Armut nur von ihm gefüllt werden kann. Der »Bissen trockenen Brotes« wirkt so erbärmlich

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