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der Wirtschaftselite hatten die Ausländer einen ähnlich hohen Anteil (Tabelle 1). Noch also stand der Zugang zur Macht in den Schweizer Grossunternehmen auch Ausländern offen. Einschränkende Massnahmen wurden erst während des Ersten Weltkriegs eingeführt.

      Bei den Herkunftsländern der ausländischen Wirtschaftsführer dominierten die Nachbarländer: 60 Prozent stammten aus Deutschland, 23 Prozent aus Frankreich und 6 Prozent aus Italien. Der hohe Anteil von Deutschen lässt sich durch die engen wirtschaftlichen und kulturellen Beziehungen erklären, die die Schweiz zu ihrem nördlichen Nachbarland unterhielt. Deutschland war Anfang des 20. Jahrhunderts der wichtigste Handelspartner der Schweiz, und eidgenössische Industrieunternehmen und Finanzgesellschaften richteten sich stark am deutschen Markt aus. Zudem lebten damals viele Deutsche in der Schweiz.

      Auch die weiteren ausländischen Wirtschaftsführer stammten – mit Ausnahme von zwei Amerikanern – überwiegend aus europäischen Ländern. Das internationale Einzugsgebiet der Schweizer Wirtschaftselite zu Beginn des 20. Jahrhunderts blieb also beschränkt. Man kann daher nicht von einer Globalisierung im heutigen Sinn sprechen.

      Ausserdem waren nicht alle Wirtschaftszweige in gleicher Weise internationalisiert. Ausländern besonders offen stand der Banken- und Finanzsektor. So wurden 1910 17 Prozent der Direktions- und Verwaltungsratsmandate in diesen Sektoren von Ausländern gehalten. Dieser hohe Anteil erklärt sich durch die Ansiedlung von Finanzgesellschaften, die zwar eine schweizerische Rechtspersönlichkeit hatten, deren Kapital aber – zumindest teilweise – in ausländischer Hand war. Finanzgesellschaften wie die Elektrobank, die Motor AG oder die Société franco-suisse pour l’industrie électrique (SFSIE) wurden Ende des 19. Jahrhunderts von ausländischen Firmen in der Schweiz gegründet. Einerseits befand sich der Schweizer Finanzplatz damals noch in seiner Entstehungs- und Aufbauphase und war deshalb nicht immer in der Lage, der Industrie das nötige Kapital zur Verfügung zu stellen. Andererseits war der Schweizer Finanzmarkt für Ausländer attraktiv, weil die Schweiz ein neutraler und politisch stabiler Staat war. Finanzgesellschaften spielten für die Schweizer Industrie eine wichtige Rolle, vor allem für die Unternehmen der Elektrizitätsbranche mit ihrem hohen Investitionsbedarf. Beispielsweise wurde die Elektrobank – aus der 1946 die Elektrowatt entstehen sollte – 1895 in Form einer Holding von einer der wichtigsten deutschen Firmen, der Allgemeinen Elektricitäts-Gesellschaft (AEG), in Zürich gegründet. Ziel der Firmengründung war es, der Schweizer Elektrizitätswirtschaft Kredite zur Verfügung zu stellen und gleichzeitig neue Absatzmärkte für die Muttergesellschaft zu erschliessen. Dieser Entstehungsprozess erklärt, wieso der Verwaltungsrat der Elektrobank auch danach lange mehrheitlich aus Deutschen bestand.

      Auch die Führungsspitzen der Maschinen-, Elektro- und Metallindustrie internationalisierten sich am Vorabend des Ersten Weltkriegs. Allerdings konzentrierten sich die Ausländer meist auf einige spezifische Unternehmen. Im Verwaltungsrat der AIAG etwa sassen acht deutsche Mitglieder (von insgesamt 16 Verwaltungsräten), weil dieser Konzern 1888 von einer überwiegend aus deutschen Financiers bestehenden Gruppe gegründet worden war. Auch bei Brown, Boveri & Cie (BBC) waren sieben von insgesamt elf Verwaltungsratsmitgliedern Engländer und Deutsche. Dies nicht zuletzt deshalb, weil die Firma 1891 vom Deutschen Walter Boveri (1865–1924) und vom Engländer Charles Brown (1863–1924) gegründet worden war. Dagegen fanden sich in der Chemie- und der Textilbranche nur sehr wenige Ausländer.

      Diese Beispiele deuten an, wie vielfältig die Profile der Ausländer an der Spitze von Schweizer Grossunternehmen Anfang des 20. Jahrhunderts waren. Drei Hauptkategorien lassen sich unterscheiden: Zur ersten zählen Eigentümer und Gründer, sprich Personen, die ein Unternehmen gründeten oder erwarben, nachdem sie in die Schweiz eingewandert waren. Beispiele für diese Gruppe sind wiederum Walter Boveri und Charles Brown.*

      Die beiden Männer trafen sich während ihrer Zeit bei der Maschinenfabrik Oerlikon (MFO), einer anderen grossen Firma der Schweizer Elektroindustrie. Bis in die 1960er-Jahre finden sich mehrere Mitglieder der Familien Brown und Boveri an der Spitze der BBC, der seit Anfang des 20. Jahrhunderts eine schnelle internationale Expansion gelang.

      Zur zweiten Ausländerkategorie zählen Personen, die allmählich in der Firmenhierarchie aufstiegen, bis sie in Leitungsfunktionen gelangten. Dies war etwa beim deutschen Ingenieur Heinrich Zoelly der Fall, der bei Escher Wyss Karriere machte, bevor er dort Verwaltungsratsdelegierter wurde, oder auch beim Norweger Olaf Kjelsberg, dem Generaldirektor der Schweizerischen Lokomotiv- und Maschinenfabrik (SLM).

      Ausländer dieser beiden ersten Kategorien waren im Allgemeinen gut ins Schweizer Wirtschafts- und Sozialgefüge eingebettet. Manche von ihnen liessen sich später sogar einbürgern. Bisweilen heirateten sie auch Frauen aus mächtigen Schweizer Familien. Walter Boveri zum Beispiel heiratete sich in die in der Seidenindustrie tätige Zürcher Familie Baumann ein; der Deutsche Carl Russ vermählte sich mit der Tochter von Philippe Suchard, dem Gründer der gleichnamigen Schokoladefabrik, und wurde nach dem Tod seines Schwiegervaters 1884 Verwaltungsratspräsident der Firma.

      Nur oberflächliche Beziehungen zur Schweiz pflegte dagegen die dritte Kategorie von ausländischen Eliteangehörigen. Sie war mit der bereits erwähnten Kapitalzirkulation und damit dem Finanzsektor verbunden. Meist besetzten diese Ausländer einen Verwaltungsratssitz in einer Finanzgesellschaft, um ihre Investitionen kontrollieren zu können. Nur selten aber liessen sie sich dauerhaft in der Schweiz nieder. Dies war bei Emil Rathenau der Fall, der 1838 in Berlin geboren wurde und als Gründer der AEG eine prägende Figur der deutschen Elektroindustrie war. Er zählte zu den Gründern der AIAG und der Elektrobank und sass in beiden Unternehmen auch im Verwaltungsrat. Sein Sohn Walther übernahm seine Nachfolge. Anfang des 20. Jahrhunderts trat er in das Familienunternehmen ein und besetzte wichtige Funktionen in den Schweizer Firmen, die mit der AEG verbunden waren:

      Zwischen 1900 und 1918 war er Verwaltungsratsdelegierter der Elektrobank und bis 1915 Mitglied des Verwaltungsrats der BBC. Gleichwohl waren diese zwei Industriellen in erster Linie prägend für die deutsche Wirtschaftselite. Walther Rathenau wurde 1922 deutscher Aussenminister – und wurde in dieser Funktion 1923 von rechtsradikalen Gegnern der jungen deutschen Demokratie ermordet.

      Der Erste Weltkrieg bremste den Internationalisierungsprozess der Wirtschaftseliten. Waren Schweizer Industriebetriebe und Finanzgesellschaften Anfang des 20. Jahrhunderts noch stark grenzüberschreitend und vor allem nach Deutschland hin orientiert, führte der Krieg zu einem Rückzugsprozess und einer zunehmenden Autonomie dieser Firmen. Diese Entwicklung stand im Zusammenhang mit einer generellen Zunahme der Fremdenfeindlichkeit in der Schweiz: Der hohe Ausländeranteil – vor dem Krieg gelegentlich vage als «Ausländerfrage» thematisiert – wurde nach dem Kriegsausbruch klar mit der Angst vor einer «Überfremdung» verbunden. Zudem verdächtigten französische und britische Behörden gewisse Firmen der Kollaboration mit Deutschland, weil in ihren Verwaltungsräten Deutsche sassen.

      Mit dem Ziel, Firmen vor ausländischen Investoren zu schützen, erliess der Bundesrat 1919 einen dringlichen Bundesbeschluss. In ihrem Bericht ans Parlament präzisierte die Regierung, sie beabsichtige, «nun die in der Schweiz niedergelassenen, nicht schweizerisch orientierten juristischen Personen auf den nationalen Weg zu führen oder doch ihm näher zu bringen, indem er ihre leitenden Organe nationalisiert».9 Fortan musste eine Mehrheit der Verwaltungsratsmitglieder einer Firma im Land wohnen, und mindestens ein Verwaltungsratsmitglied hatte Schweizer Staatsangehöriger zu sein. Weitere Schutzmassnahmen wurden getroffen oder verschärft, etwa die Vinkulierung; sie zielte darauf ab, die Übertragbarkeit von Namenaktien auf neue Anteilseigner einzuschränken. Diese Praxis war nicht neu, sie figurierte schon im Aktienrecht von 1881. Doch nach dem Ersten Weltkrieg griffen immer mehr Schweizer Industrielle aus Angst vor einer «Überfremdung» zum Mittel der Vinkulierung. Dabei weigerten sie sich insbesondere, ausländische Neueigentümer von Aktien ins Register einzutragen. Diese Massnahmen sollten mit der Revision des Aktienrechts von 1936 noch verstärkt werden.

      Als Folge dieser rechtlichen Verschärfungen wurden in der Zwischenkriegszeit viele ausländische Verwaltungsräte durch Schweizer ersetzt. Weil gerade Ausländer oft nur dem Verwaltungsrat

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