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Inzwischen gingen alle Frauen arbeiten, Stellen gab es genug. Die Kinder waren in der Krippe oder im Kindergarten untergebracht, später als Schulkinder gingen sie in den Hort. Jeder war versorgt, um im sozialistischen Sinne erzogen zu werden.

      So vergingen die Jahre und Konrad erkannte die Nachkommen seiner Sippe nicht mehr, wenn sie sich zufällig in der Stadt begegneten. Früher, wenn sie beim Urvater in großer Runde am Sonntag im Garten unterm Apfelbaum gesessen hatten, hieß es: »Weißt du eigentlich, dass Martin dein Cousin zweiten Grades ist? Nun geht mal schön spielen.« Martin, mit dem er allen möglichen Blödsinn veranstaltet hatte, war nur noch eine Erinnerung, so wie all die anderen auch.

      Als die Großmutter starb, nahm sie auch die Geschichten mit, die Familienanekdoten, die sie meisterlich erzählen konnte und in denen der Urvater meist der Hauptakteur war.

      Die nächste Stufe des familiären Zerfalls vollzog sich nach der Wende. Die jungen Leute gingen in den Westen, um dort zu arbeiten, oder nach Berlin, wo vorher ohne Zuzugsgenehmigung kein Hineinkommen gewesen war.

      Auch Konrad zog der Arbeit wegen nach Berlin. Er arbeitete im Berliner Westen und lebte in einer alten Mietskaserne im Berliner Osten, weil es dort billiger war. Heimat jedoch, das war für ihn nach wie vor Friedrichsfeld. Dort lebten die Eltern, dort lagen die Gräber der Familie, die Orte seiner Jugend, Erinnerungen und Landschaft, Duft und Traum seiner ersten Liebe. All dies hatte er dort zurückgelassen, so wie den Nussbaum. Der stand, wo er immer gestanden hatte, verwurzelt in der verlorenen Erde des Urvaters. Wenn Konrad zu seinen Eltern fuhr, stattete er ihm einen Besuch ab. Er hatte als einziger Baum den Kahlschlag des Fortschritts überlebt. Er stand vor der Bücherei. Das Gebäude zeigte bereits deutliche Spuren des Zerfalls, es wurde längst nicht mehr genutzt. Vom Nussbaum aus aber gingen Konrads Erinnerungen spazieren.

      Und dann kam jener Tag, an dem Konrad auch den Nussbaum verlor. Nicht, dass er gefällt worden wäre. Konrad hatte ihn nur seitdem nie wieder besucht, hörte auf, sich dort seinen Erinnerungen hinzugeben. Es geschah an seinem siebenundzwanzigsten Geburtstag. Er war in Begleitung seiner damaligen Freundin zu seinen Eltern gefahren und sie eröffneten ihm ausgerechnet an diesem Tag, dass sie Friedrichsfeld verlassen wollten. Das ist Verrat, hämmerte es in seinen Schläfen, während er hörte, was sie schon alles in Gang gesetzt hatten, hinter seinem Rücken. Sie wollten nach Köln ziehen, Köln war für Konrad so fern wie der Mond. Zwar war er inzwischen einige Male gereist, war in Italien, in England und Frankreich gewesen, aber Köln, das lag im tiefsten Westen.

      Im Ausland war er ein Fremder, aber was war er in Köln? Ein Ossi, ein Mensch zweiter Klasse.

      Sein Vater wollte in Köln machen, was er sein ganzes Leben lang gemacht hatte – etwas mit Wasser. Nur mit dem Unterschied, dass dieses nun aus dem Rhein kam und nicht aus der Oder, wie er launig bemerkte. Sie hätten da ein lukratives Angebot, berichtete er, und zwar in einem Umweltinstitut, er als Wasserspezialist, die Mutter in der Verwaltung.

      Seinen Einwand, dass sie dafür doch viel zu alt seien, seine Mutter war damals siebenundvierzig, sein Vater fast fünfzig, lachten sie weg. »Wir wollen einfach raus, Konrad«, meinte die Mutter, »hier passiert nichts mehr, wir wollen noch ein bisschen leben!«

      »Ihr nehmt mir meine Heimat.« Das war alles, was ihm dazu einfiel, sie stritten sich und vertrugen sich wieder, aber der Umzug war beschlossene Sache und so geschah es dann auch.

      Was ihn immer mehr befremdete, war die Veränderung seiner Eltern. Sie vollzog sich schleichend. Hatten sie anfänglich noch bekundet, dass sie eventuell als Rentner wieder in die Heimat zurückkehren würden, so war nach einem Jahr davon keine Rede mehr. Auch veränderte sich ihr Äußeres, ihre Art zu sprechen, ihre ganze Art zu leben. Es schien ihm, als würden sie sich verjüngen, und das machte ihm Angst. Die Mutter hatte plötzlich ihre alte Liebe zur Malerei entdeckt, sie pinselte in ihrer Freizeit, was das Zeug hielt. Konrad wusste, dass sie in ihrer Jugend gemalt hatte, aber in all den Jahren in Friedrichsfeld war das kein Thema mehr gewesen. Nun besuchte sie Kurse und ging zu irgendwelchen Vernissagen. Konrad lernte ihre neuen Freunde kennen, die ihm alle ein bisschen verstrahlt vorkamen. Er hatte den Eindruck, sie würden nicht auf dem Boden der Realität stehen. Selbst sein Vater, den er immer als einen recht nüchternen Menschen wahrgenommen hatte, veränderte sich. Auf seinem Schreibtisch stapelten sich neben diverser Fachliteratur jede Menge Magazine, Zeitschriften und Bücher, die er Konrad empfahl.

      »Das musst du unbedingt lesen, es wird deine Welt verändern!«, rief er enthusiastisch. Er sprang von einem Thema zum anderen. Führte sich auf, als hätte er jahrelang im Knast gesessen und nun endlich die langersehnte Freiheit wiederentdeckt.

      Was war passiert? Wo waren seine alten Eltern geblieben, die Eltern seiner Kindheit, deren Leben sich zwischen Wohnung, Arbeit, Kaufhalle und Kleingarten abgespielt hatte, wenn man von der Sommerreise an die Ostsee einmal absah?

      Mutter mit Dauerwelle und Kittelschürze, sie bereitet das Abendbrot vor, Vater im Fernsehsessel, in der Hand das Lokalblatt. Im Fernsehen läuft das Sandmännchen. Mutter verkündet aus der Küche, sie hätte heute drei Gläser mit ungarischem Paprika in der Kaufhalle ergattert. Jeder Kunde bekomme aber nur drei Gläser, das sei ja auch gerecht, wo würden wir denn da hinkommen, wenn nur noch gehortet würde. »Ich bringe sie nachher in den Keller«, sagt der Vater, worauf sie ihm antwortet: »Du musst unsere Vorräte mal wälzen, hörst du!«

      Nun legten die Eltern keine Essvorräte mehr an, sondern sammelten Bekanntschaften mit Menschen, Reiseeindrücke und Bücher. Vorbei waren die Zeiten, in denen sie Lebensmittel horteten und alles aufhoben. Bevor sie Friedrichsfeld verließen, hatten sie gründlich aussortiert. Ihre neue Wohnung in Köln erschien Konrad seltsam kahl.

      »Wo ist eigentlich Urvaters Sessel?« Suchend schaute er sich um, als er das neue Wohnzimmer betrat.

      »Aber der war doch schon so schäbig«, meinte die Mutter verlegen.

      Der Sessel hatte seit Urvaters Tod in der Friedrichsfelder Wohnung neben dem Bücherregal gestanden, sein schlechter Zustand war diskret durch eine übergeworfene Decke verhüllt worden.

      »Wir haben einen neuen Lesesessel gekauft. Setz dich mal rein, der ist superbequem, ergonomisch geformt!«

      Konrad verzichtete darauf, obwohl seine Form dem Sessel des Urvaters nachempfunden war, was er unterschwellig als Betrug empfand, als eine werbewirksame Vorspiegelung falscher Tatsachen. Er murmelte nur: »Und wo ist das Büfett?«

      Die Mutter tat so, als hätte sie es nicht gehört, und ihm war klar, dass sich diese Frage damit selbst beantwortete. Urvaters Büfett hatte schon in Friedrichsfeld jahrelang im Keller gestanden. Sicher war es auf dem Sperrmüll gelandet. Jahre später sah er ein ähnliches Teil bei einer Haushaltsauflösung in Berlin und Laura konnte ihn nur mit großer Mühe davon abhalten, es zu kaufen.

      »Entweder das Büfett oder ich, Konrad!«

      Über Geschmack ließ sich streiten. Dabei ging es ihm gar nicht um den geschnitzten Adler, der das altehrwürdige Teil krönte, es in seinen Krallen hielt und seine Schwingen schon zum Flug ausbreitete, um sich samt Schrank, Gläsern und Geschirr in die Lüfte zu erheben. Nein, es ging ihm nicht um diese gemütliche deutsche Geschmacklosigkeit aus Eiche, es ging um viel mehr, um Erinnerung, die man anfassen konnte.

      Mit dem Büfett des Urvaters war für ihn eine ganze Welt verschwunden. Die Welt des ehrlichen Fleißes, die Welt der Sparsamkeit und Genügsamkeit, die Welt der Tugenden des Urvaters.

      Wenn er zu Besuch nach Köln kam, machten die Eltern mit ihm Ausflüge, sie fuhren nach Straßburg, nach Luxemburg, an die Mosel und an den Mittelrhein. Dabei gebärdeten sie sich zu seinem Befremden, als wäre das ganze Leben ein Sonntagsspaziergang. Früher waren sie weniger euphorisch gewesen, sondern nüchtern und ernst.

      Während dieser Ausflüge beobachtete er die Menschen, wie sie bei jedem Wetter vor den Cafés saßen, ständig lächelnd oder laut fröhlich lachend und scherzend, immer gut gelaunt, gepflegt und gut gekleidet. Wie sie sich aufmerksam miteinander unterhielten, sich ganz ihrem Gesprächspartner zuwandten und ihm ihre volle Konzentration schenkten, selbst wenn es nur um Banalitäten ging. Und meist ging es nur um Banalitäten, wie er feststellte, wenn er ihre Gespräche belauschte. Hätten an ihrer

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