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auf die Dias, die vor ihm, die vor ihnen aufleuchteten, und er hörte die Stimme aus dem Lautsprecher. Von einer Schallplatte kam diese Stimme. Es war die Männerstimme der Wissenschaft, die aus dem Dunkeln tönte und erklärte, was er sah, was sie sahen. Ihm war heiß, weil er auch alles war, was er auf den Bildern vor sich sah. Dass er auch alles war, was er sah, war in Ordnung. So kannte er sich. So ungefähr wenigstens. Und dass die anderen es sehen konnten, damit konnte er sich abfinden. Das ging. Von ihm aus. Das durfte so sein. Aber sie war auch alles, was ihnen gezeigt wurde. Jedes Bild. Nackt. Mehr als nackt. Die Bilder gingen in sie. Sie zeigten, wie sie innen aussah. Er blickte. Er starrte. Er hörte die Worte, die aus dem Plattenspieler kamen. Ihm wurde noch heißer.

       Den Aufgaben entsprechend, welche die Natur der Frau zugewiesen hat, ist der weibliche Körper sowohl in seinem Aufbau als auch in seiner Funktion geschaffen. Im Körper der Frau wird der neue Mensch gebildet und reift dort zur Lebensfähigkeit heran. Damit dieser Vorgang ungestört vor sich gehen kann, liegen die weiblichen Geschlechtsorgane gegen äußere schädliche Einflüsse gedeckt in der Beckenhöhle, die von festen Knochen umgeben ist. Die inneren Geschlechtsorgane der Frau bestehen aus den Eierstöcken, den Eileitern, der Gebärmutter und der Scheide. Die Eierstöcke sind die Behälter der weiblichen Keimzellen. Sie bestehen aus zwei bohnenförmigen Körpern, welche links und rechts von der Gebärmutter an der rückwärtigen Wand des breiten Mutterbandes befestigt liegen. Sie bestehen aus einem inneren Mark, das Blutgefäße und Nerven enthält, und einer äußeren Rinde, welche zahllose kleine Kügelchen, die sogenannten Primärfollikel, beherbergt, und in diesen Primärfollikeln liegt das menschliche Ei. Dieses ist ungefähr 0,2 Millimeter groß und besteht aus der Eihaut und dem Eidotter. Im Eidotter befindet sich das Keimbläschen mit dem Keimfleck. Sämtliche Eier sind bei der Geburt bereits vorhanden und werden im Leben nicht mehr gebildet. Ihre Zahl wird ungefähr auf 60.000 geschätzt. Das weibliche Becken wird von einem breiten Band, dem sogenannten Mutterband, durchzogen.

      Als die Neonröhren wieder anflickerten, die Stunde vorbei war und sie wieder hinausrennen durften, blieb er sitzen. Er wollte mit niemandem reden. Er wollte niemanden sehen. Er wollte keine Witze hören. Er wollte nur sitzen bleiben und niemanden und nichts sehen. Auch sie wollte er nicht sehen. Gerade ihr wollte er nicht begegnen. Immer wieder hatte er Worte gehört, die er nicht verstand. Worte, die zu ihr gehörten. Zu ihrem Körper. Es gab nichts Genaues. Aber es gab auch nichts Gemeinsames. Was sie zwischen den Beinen hatte, war völlig anders als das, was er zwischen den Beinen hatte. Sie waren so verschieden, dass es unvorstellbar war, dass sie einander je hatten nahe sein können.

       Durch den äußeren Muttermund ragt die Gebärmutter mit der sogenannten Portio in die Scheide herein. Diese ist ein Schlauch, dessen vordere und rückwärtige Wand sich unter normalen Verhältnissen berühren, welcher gegen die Körperoberfläche hin zwischen den zwei großen, beziehungsweise kleinen Schamlippen mündet. Bei Jungfrauen ist die Scheide durch ein Häutchen, das Hymen, geschlossen.

      Unterschiede. Er erinnerte sich, dass es in ihrem Zimmer, seit sie ein eigenes Zimmer hatte, anders roch. Das war ein Unterschied, den er bemerkt hatte. In ihrem Zimmer war ein Geruch, der eine Mischung war aus Puder, dem Weichspüler, den sie für ihre Wollsachen benutzte, dem Apfeltee, den sie trank, und der Dispersionsfarbe, mit der sie alle paar Monate ihr Zimmer neu strich. Ockergelb. Vergissmeinnichtblau. Zinnoberrot. Bei ihm roch es normal. Sein Zimmer hatte keinen Geruch.

      Er sah, wie er allein in ihrem Zimmer stand. Es musste der Anfang des Schuljahres sein. Er wollte nachschauen, ob Miriam morgen für die erste Stunde etwas in ihrem Stundenplan stehen hatte.

      Sie schrieb im Unterricht aufmerksamer mit als er. Sie bekam bessere Noten. Er war schneller im Sport und besser im Witzemachen. Er brachte die Klasse zum Lachen. Oft. Nur den Pfarrer brachte er nicht zum Lachen. Johannes hatte nicht schnell genug mitgeschrieben, als der Klassenlehrer den Stundenplan diktiert hatte. War morgen in der ersten Stunde Religionsunterricht für die Katholiken? Und für sie, die so genannten Freikirchler, die mit den Evangelischen ihren Religionsunterricht hatten, am Montag in der sechsten Stunde? Johannes stand da in ihrem Zimmer und suchte nach dem Stundenplan und roch ihre Gerüche. Dass sie anders roch als er, war ihm klar. Aber wie? Miriam war nicht Dispersionsfarbe, nicht Apfeltee, nicht Weichspüler. Sie war auch nicht nichts. Sie hatte einen Geruch. Doch welchen? Gehen Alche.

       Das erste Auftreten der Menstruation beim heranwachsenden Mädchen zeigt an, dass die Eierstöcke ihre Tätigkeit bereits aufgenommen haben und befruchtungsfähige Eier erzeugen. Das junge Mädchen tritt in den monatlichen Zyklus ein, und alle vier Wochen wird ein Ei reif und wandert in die Gebärmutter. Der Vorgang spielt sich folgendermaßen ab: Wie wir schon gehört haben, liegt das Ei in einem Bläschen, dem Primärfollikel. Wenn das Ei zu reifen beginnt, wird der Follikel immer mehr an die Oberfläche des Eierstockes gedrängt, wölbt sich dort vor und platzt nach Beendigung der Reifung, ungefähr am zwölften Tage. Das Ei wird frei und wandert in die Gebärmutter.

      Was bist du mir?

      Du, meine Seele.

      Wann bist du mir?

      Immer schon.

      Wie lang bist du mir?

      In Atem und Augen, in Ein und Aus, in Heute und Morgen.

      Immer schon.

       5

      Die rot-weißen Turnschuhe hatte die Frau neben der Eingangstür ausgezogen. Sie standen auf einem schwarzen Schuhabstreifer. New Balance – rot und weiß und sportlich. Sie waren kleiner, als er es bei ihrem Körper erwartet hatte. Er blickte wieder zu ihr und verglich ihre Turnschuhe mit ihren Füßen. Alles war schwarz an ihr – bis auf die Hände. Auch die Socken waren schwarz. Die Füße waren tatsächlich klein. Sie beugte sich vor, richtete sich auf, beugte sich vor. Neben ihr lagen auf zwei Stühlen eine Lederhandtasche und ein Plastikkoffer. Beide schwarz. Sollte er seine Schuhe auch ausziehen? Gehörte sich das hier so? War es ein Zeichen des Respekts, wenn er seine Schuhe auszog? Schaden konnte es nicht. Schmerzen tat es auch nicht. Also beugte er sich vor, löste die Schnürsenkel, zog die braunen Halbschuhe von den Füßen und stellte sie auf die andere Seite des Schuhabstreifers. Vielleicht gab es bei Schuhen eine Männer- und eine Frauenseite. Er wollte Respekt zeigen. Er wollte nicht stören. Während er sie anblickte, bemerkte er, dass er nichts an ihr erkennen konnte, was ihm mehr über sie verraten hätte. Er war ein Analphabet in den Zeichen ihrer Kultur. Woher kam sie? Irak und Iran waren Möglichkeiten. Saudi-Arabien und Syrien konnte er sich vorstellen. Aber ebenso gut konnte sie aus Ankara oder Berlin oder Paris oder Zürich kommen. Oder aus Malaysia. Nicht einmal, ob sie Schiitin oder Sunnitin war, konnte er erkennen. Er wusste, entweder Schiiten oder Sunniten beteten so, dass ihre Stirn auf einen Stein aus Mekka traf, den sie sich auf den Gebetsteppich gelegt hatten. Aber waren es Schiiten? Waren es Sunniten? Er wusste nicht, auf welche Details er achten musste, um eine Schiitin von einer Sunnitin zu unterscheiden.

      Religious Reflection Room. Wie hieß so ein Raum auf Deutsch? Andachtsraum? Religiöser Reflexionsraum? Gab es auf deutschen Flughäfen solche Religious Reflection Rooms? Oder gab es solch einen Raum nur im Flughafen dieser amerikanischen Stadt, wo Irak und Iran schon seit den Flüchtlingswellen vor vierzig Jahren zusammenkamen?

      Ein leichter Schweißgeruch lag im Raum. Kam der von ihm? Kam der von ihr? Kam der von jenen, die vor ihnen hier gebetet hatten? Seinen Arm heben und riechen, ob dieser Geruch von ihm ausging, wollte er nicht. Die Bewegung hätte ein Geräusch verursacht, das sie gehört hätte. Es hätte sie gestört. Er blieb reglos stehen. Entfernt roch er Rosengeruch. In Istanbul hatte er diese Mischung aus Schweiß- und Rosengeruch zum ersten Mal wahrgenommen, überall, im Teppichboden des Hotels, in den Leintüchern des Bettes, im Nachtischgebäck, in der Kleidung des Hotelpersonals, in den Bussen nach Asien und auf den Fähren über den Bosporus. Kam sie aus Istanbul?

      Er betrachtete die Stühle, die entlang der Wände standen. Die Bücher, die auf manchen lagen, karminrot, gebunden und dünn, waren Gebetsanleitungen. Es waren keine Bibeln. Prayer Book, stand auf den Buchrücken. Gehörten diese Prayer Books zu einer bestimmten Religion? Gab es in allen Religionen Gebete? Bei Christen und bei Muslimen gab es Gebete. Aber wie war es bei Hindus und Buddhisten? Nannten sie es beten, wenn sie

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