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      Endlich. Der Fels, feucht und unnatürlich warm. Ich lehnte mich mit dem Rücken dagegen. »Wir sind da«, wisperte ich. Hier war es heute Morgen passiert. Die kalte Berührung. Ich starrte in den Nebel, fühlte mich wieder beobachtet.

      Wo waren sie, die Wirbel?

      »Bleib genau hier stehen. Ich suche nur schnell eine Kröte.« Und mein Amulett!

      Wie viel Überwindung es kostete, Frias Hand loszulassen. Ich sah gerade noch ihre Umrisse. Mich umzudrehen und an der Wand nach den Kröten zu tasten, schaffte ich nicht – selbst, wenn ich wusste, dass meine beste Freundin direkt neben mir stand. Konnte sie nicht fröhlich vor sich hinplappern, so wie sonst immer?

      Ich rutschte die Wand hinunter und hockte mich hin, tastete den Boden ab, fuhr zwischen die Steine hinein. Mit ein bisschen Glück stießen meine Finger ja nicht nur auf eine Kröte, sondern auch auf das Amulett.

      »Verbena?«

      »Ja.«

      »Bei Mavanja, du bist ganz nahe.« Hörte ich da Angst in ihrer Stimme?

      Ich hob den Kopf, sah hinauf – dorthin, wo ich sie vermutete. »Ich hätte dich nicht bitten sollen, entschuldige. Aber ich bin so froh, dass du da bist.«

      Da spürte ich es. Es klatschte auf meine Stirn. Eiskalt.

      Ich schrie.

      Und Fria mit mir.

      Ich schirmte meinen Kopf mit den Armen ab, kauerte am Boden. Mein Herz pochte.

      Weitere Tropfen prasselten auf uns herab. Es begann zu regnen.

      Hatte ich mich wegen eines Wassertropfens so erschrocken? Ich lachte auf, erhob mich und umarmte Fria. »Tut mir leid, ich dachte, es wäre … etwas anderes.«

      »Verbena …« Es klang vorwurfsvoll. Doch auch sie ließ sich in die Umarmung fallen, sichtlich erleichtert.

      Der Nebel wurde vom Regen weggewaschen. Nun sahen wir die enge Schlucht. Feuchtschwarze, zerklüftete Felswände zu beiden Seiten und dazwischen der Nebelbach, recht schmal, sodass beiderseits ein wenig Ufer blieb. Das war das Beste, was passieren konnte! Lieber pitschnass nach Hause kommen, als hier länger blind herum zu tasten.

      Doch aus dem Augenwinkel bemerkte ich eine Bewegung. Vielleicht drei Schritte entfernt. Da war sie wieder, die Gänsehaut, die meinen Nacken entlang lief.

      Ich schaute genauer hin. Nichts.

      Oder doch?

      »Siehst du das?« Zaghaft streckte ich einen Finger aus.

      Fria erstarrte.

      Ich wollte laufen, aber meine Beine gehorchten mir nicht. Da war etwas, ganz sicher, auch wenn ich mehrmals hinsehen musste, um es zu erkennen.

      Durchscheinend, aber doch sichtbar stand da jemand. Direkt vor uns.

      Er tat einen Schritt auf uns zu. Mein Schrei versiegte in der Kehle. Fria klammerte sich an mich. Ich wich nach hinten aus, prallte gegen die Wand.

      Er streckte die Hand nach uns aus.

      Ich packte Fria, zog sie den Fels entlang, rannte los und rutschte aus, fiel auf eine glatte Steinplatte. Fria konnte sich gerade noch halten, presste sich gegen die Wand.

      Eine eiskalte Hand griff nach mir, glitt durch mich hindurch. Mich fröstelte.

      »Weg von mir!«, zischte ich.

      Der Geist ließ von mir ab, seine Hände erhoben.

      Ich wischte mir über das nasse Gesicht, konnte nicht glauben, was ich sah.

      Er streckte mir eine Hand entgegen. Wollte er mir hochhelfen?

      Diese Nase, woher kannte ich diese Nase?

      »Ulrik?«, flüsterte Fria.

      War das wirklich …? Ich sah genauer hin.

      Er drehte sich Fria zu und verbeugte sich.

      Sie hielt den Atem an, stand wie gelähmt an der Wand.

      Er ließ die Schultern sinken und wandte sich wieder mir zu. Ich spürte die kalte Berührung seiner Hand, als er versuchte, mich hochzuziehen.

      Auch ich wich aus. Konnte das wahr sein? War ich mitten in einer Schauergeschichte? Ein Geist stand vor mir!

      »Seid das wirklich Ihr, Euer Hochgeboren?«

      Er kniff die Lippen zusammen, nickte.

      Mir schossen die Tränen in die Augen. »Es tut mir so leid! Wir haben nach Euch gesucht.«

      Fria stimmte ein: »Wir alle. Aus beiden Dörfern.«

      Ich rappelte mich auf. So gerne er wollte, er konnte mir nicht helfen, der Schemen, der er nun war. Er ging einige Schritte weiter in die Schlucht hinein. Seine Lippen bewegten sich, aber wir hörten ihn nicht.

      Fria griff wieder nach meiner Hand, sah mich fragend an.

      Ich hob die Schultern.

      Dann winkte er uns, ihm zu folgen.

      »Er will uns etwas zeigen«, sagte Fria.

      »Mutter des Lebens, was ist ihm passiert? Hier an diesem schrecklichen Ort …«

      Frias Griff um meine Hand wurde fester. Unsere Blicke trafen sich wieder. In ihren Augen spiegelte sich die Angst, die ich selbst empfand.

      Aber wir waren es ihm schuldig. Er war einer von uns – selbst, wenn er der Sohn des Barons war. Er war der Einzige der von Seggensees, der sich nicht zu gut gewesen war, sich mit uns abzugeben.

      Er wartete an einer Biegung des Bachs. Wie viel Zeit hatte er hier verbringen müssen, gefangen im Nebel, nicht einmal ein Schatten seiner selbst? Neun Monde war es her, dass Korvinus den jüngeren Bruder gesucht und nie gefunden hatte.

      Fria und ich folgten ihm zaghaft in die Schlucht hinein. Dorthin, wo der Gestank noch unerträglicher war.

      Als wir ihn erreichten, zeigte er hinauf und wir sahen die Brücke, die sich über die Klamm spannte, von unten. Dann ging er weiter um die Kurve, bedeutete uns mitzukommen.

      Entsetzen durchfuhr mich. Eine Kutsche, nein zwei, vielleicht sogar drei. Zerborsten zwischen den Felswänden. Räder und Holzplanken lagen verstreut. Dazwischen die Körper derer, die hier in den Tod gestürzt waren. Tränen liefen meine Wangen hinunter, vermischten sich mit den Regentropfen. So viele. Ein Schlachtfeld.

      Fria schluchzte auf, vergrub ihr Gesicht in meinem Nacken. Ich umarmte sie, weinte mit ihr und mit Ulrik.

      »Wir sagen es Eurem Herrn Vater, heute noch!«, versprach ich. »Findet Ihr dann Eure Ruhe?«

      Er hob die Schultern.

      Hoffentlich.

      »Ich brauche ein Beweisstück … sonst glauben die hohen Herren mir nicht.«

      Ob der Baron diese Nachricht verkraftete? An Korvinus’ Rage wagte ich gar nicht erst zu denken.

      Ulrik ging weiter vor, blieb neben einem der Körper stehen. Ich wollte ihm nach, doch Fria verkrampfte. Sie war blass geworden, drehte sich zur Wand und übergab sich. Ich hielt ihr die Locken hinter den Kopf.

      »Kann nicht«, raunte sie und winkte ab.

      »Warte«, sagte ich zu dem Geist.

      Sie sackte auf einen Stein. »Mach schnell«, hauchte sie und vergrub den Kopf zwischen den Armen.

      Ulriks Schemen hockte neben einem Körper. Seinem Körper. Er lag am Ufer des Baches, einen Köcher mit Deckel im Arm. War das ein Behältnis für Schriftrollen? Das Wams war vergilbt und zerfetzt, sein Gesicht zur anderen Seite gedreht. Mavanja sei Dank! Am Hinterkopf waren noch Haare, ehemals dunkelblond, nun überzogen mit gelblichem Staub. Haut war nur noch teilweise über die Gebeine gespannt. Ein Bein hing ins Wasser. Aus dem Unterschenkel stand der Rest eines Knochens hervor, der Fuß war verschwunden.

      Ich

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