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Löwenthal in Berkeley und Marcuse in San Diego.

      In dieser Zeit entdeckte die Neue Linke auf beiden Seiten des Atlantiks das Erbe der Kritischen Theorie und Marcuse erlangte als kritischer, aber auch solidarischer Vertreter der Bewegung der revoltierenden Jugend Ende der 1960er Jahre internationalen Ruhm18. Ab den 1970er Jahren vertiefte sich ihre enge Verbindung. Marcuse schrieb 1970 eine glühende Einführung für eine neue Ausgabe von Löwenthal und Gutermans Prophets of Deceit, in der Marcuse die Relevanz des Buches für das Amerika dieser Zeit betonte (eine Behauptung, die nach fünfzig Jahren immer noch aktuell erscheint)19. Löwenthal gab Marcuse Unterschlupf in seinem Sommerhaus in Carmel Valley, Kalifornien, als Rechtsextremisten und der Ku-Klux-Klan Marcuses Leben mit Morddrohungen bedrohten. Beide drückten ihre Solidarität mit den Frankfurter Studenten aus. Die Revoltierenden kritisierten Horkheimers und Adornos Ambivalenzen gegenüber deren Aktionen und forderten, die militanten Implikationen der klassischen Kritischen Theorie zu verwirklichen.

      Marcuses und Löwenthals jahrzehntelange Freundschaft in einer Welt, in der die Integrität anderer traditioneller Werte wie Solidarität und Selbstlosigkeit immer wieder zerstört wurden, zeugt von der bedeutenden Kraft, die von diesen engen Bindungen damals ausging.

      Die im Band präsentierten Aufsätze, Kommentare, Primärtexte und Briefe zeigen die persönliche Zuneigung der beiden in den Staaten verbliebenen Theoretiker. In den vielen verschiedenen Anreden und Abschiedsgrüßen der Briefe, die im Laufe der Jahrzehnte ausgetauscht wurden – »Untier«, »Lieber Vater Marcuse«, »Dear Loontool«, »Dear LL«, »Leochen«, »Dear Herb«, »Leo Dear« –, spüren wir die Wärme, sogar gelegentlich regressive, kindliche Freundschaft, die ihren zwischenmenschlichen Kontakt belebte. In Eros and Civilization lobte Marcuse Friedrich Schillers »Spieltrieb« als Quelle einer utopischen Version von Schönheit und Freiheit, die den instrumentellen Erfordernissen der Arbeit und dem Fetisch der Produktivität entgegengesetzt ist.20 Marcuse und Löwenthal waren engagierte Mitarbeiter bei der Entwicklung der Kritischen Theorie und arbeiteten mit ihren Kollegen zusammen, um die ernsthafte wissenschaftliche Agenda des Instituts umzusetzen und vielleicht letztendlich die Welt zu verändern. Aber in der spielerischen Intimität, die ihre dauerhafte Freundschaft ermöglichte, lag etwas von der Präfiguration der Utopie.

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      Dies ist nicht das erste Mal, dass Peter-Erwin Jansen Materialien aus den Archiven von Marcuse und Löwenthal auswählt und kommentiert. Die Beziehung, die sich zwischen einem literarischen Herausgeber und den im Archiv zurückgelassenen Materialien, die er oder sie sortiert, bearbeitet, zusammenstellt, zur Publikation für andere Wissenschaftler freigibt, kann gelegentlich so emotional sein, dass dies das Interesse der Öffentlichkeit blockiert. Allzu oft kann es zu einer eifersüchtigen Torhüterrolle für den Herausgeber werden, der entschlossen ist, den idealisierten Ruf einer verehrten Figur nicht zu beeinträchtigen. Die Erlaubnis, unveröffentlichtes Material zu lesen, kann verdächtig verweigert werden und möglicherweise werden peinliche Dokumente unter Verschluss gehalten. Das gegenteilige Ergebnis ist auch möglich, wenn der Zugang zu privaten Materialien zeigt, wie viel Ton sich tatsächlich in den Füßen eines scheinbaren Helden befindet, und ein bewundernder Redakteur sich in einen desillusionierten Staatsanwalt verwandelt. Kein Mann ist, wie eine bekannte Formulierung sagt, ein Held für seinen Diener, der mit seiner schmutzigen Wäsche umgehen muss. Aber es ist wichtig, sich auch an Hegels berühmte Korrektur dieses Ausspruchs zu erinnern: »Es ist nicht so, weil Helden keine Helden sind, sondern weil Kammerdiener Kammerdiener sind.«

      Ein kluger und rücksichtsvoller Redakteur wird die Extreme zwischen einer Idealisierung der Helden und des desillusionierten Zynismus eines Kammerdieners vermeiden. Er oder sie wird die Werke, die das anhaltende Interesse an einem Autor rechtfertigen, sorgfältig auswählen und präsentieren, während die allzu menschlichen Eigenschaften, die ungefilterte Archivunterlagen offenbaren könnten, sensibel kommentiert werden. In den Fällen von Marcuse und Löwenthal erfordert dies auch die Geduld und Standhaftigkeit, um etwa 40.000 Seiten des Ersteren und 75.000 Seiten des Letzteren im Archiv in Frankfurt durchzulesen.21 Im Laufe der Jahre wurden die Mitglieder der Frankfurter Schule von Redakteuren gut betreut, die eine Vielzahl unveröffentlichter Materialien zur Verfügung gestellt und sorgfältig ediert haben. Seit Adorno und Gershom Scholem in den 1960er Jahren bei der ersten Ausgabe von Benjamins ausgewählten Werken zusammengearbeitet haben, haben die »Frankfurter« von der intimen Kenntnis nicht nur der Texte, sondern auch der darin enthaltenen Ideen profitiert, die von ihren Herausgebern publiziert wurden.

      Allerdings wurden die Ergebnisse, wie auch das Beispiel der Adorno-/Scholem-Ausgabe von Benjamin zeigt, nicht immer allgemein anerkannt, insbesondere von jenen, die politische Motive für redaktionelle Entscheidungen unterstellten.22 Solche Anschuldigungen konnten jedoch einer genauen Prüfung nicht standhalten, und im Großen und Ganzen sind ihre Nachlässe nicht unbeachtet geblieben. Jetzt wird erkennbar, dass die immer noch wachsende internationale Rezeption der Frankfurter Schule nur durch die außerordentlichen Bemühungen von Rolf Tiedemann, Alfred Schmidt, Gunzelin Schmid Noerr, Robert Hullot-Kentor, Helmut Dubiel und Douglas Kellner ermöglicht wurde, um nur einige herausragende Beispiele zu nennen. Sie waren nicht nur die Vermittler zwischen dem Archivprotokoll und der öffentlichen Rezeption der Figuren, deren Werke sie sorgfältig bearbeitet haben, sondern sie haben auch maßgeblich zur Interpretation der Hinterlassenschaften beigetragen, für deren Bewahrung sie so viel getan haben. Peter-Erwin Jansen ist ein würdiges Mitglied ihres angesehenen Unternehmens.

      1 Übersetzung von Peter-Erwin Jansen. Für die Unterstützung bedanke ich mich herzlich bei Harold Marcuse.

      2 Habermas (2019).

      3 Habermas (1985).

      4 Richter (2007).

      5 Adorno (1951).

      6 Diese Formulierung stammt von Christopher Lasch (1995): Haven in a Heartless World: The Family Besieged, New York. Die problematische Geschlechterdynamik der patriarchalischen Familie und deren Erosion wurde von denjenigen betrauert, die diese Dynamik nur unzureichend erkannten. Horkheimers ambivalente Bemerkungen zur Verbreitung der Geburtenkontrolle bei Frauen veranschaulichten die Gefahren einer solchen Position. Siehe auch: Horkheimer, Max (1970): Die Sehnsucht nach dem ganz Anderen, Hamburg, S. 74.

      7 Explizit behandelt Siegfried Kracauer das Thema Freundschaft in: Über die Freundschaft, Frankfurt a. M. 1917/18. Zur Diskussion über die Bedeutung für »rechte Denker« siehe: Bures, Eliah Matthew (2014): Fantasies of Friendship: Ernst Jünger and the German Right’s Search for Community in Modernity, Ph. D. Dissertation, U. of California, Berkeley.

      8 Vgl. Emer (2015) und Lenhard (2019).

      9 Lenhard/Pollock (2019), S. 41.

      10 Kracauers Beziehungen zu Adorno und Löwenthal zeigen dies am deutlichsten. Siehe dazu: Martin Jay (2003), ders. (2005) und ders. (2018).

      11 Die kulturelle Bedeutung homosozialer Beziehungen im Gegensatz zu homosexuellen Beziehungen wurde erstmals herausgearbeitet bei Kosofsky Sedgwick, Eve (1985): Between Men: English Literature and Male Homosocial Desire, New York. Solche Beziehungen bestehen sowohl zwischen Frauen als auch zwischen Männern. Aber die führenden Persönlichkeiten des Instituts waren alle Männer. Gelegentlich wird argumentiert, dass Frauen als Vermittler von Begierden im homosozialen Bereich zwischen Männern auftreten, eine Behauptung, die die Rolle von Inge Werner Neumann Marcuse neu beleuchten könnte. Laut Sohn Thomas, der später den Namen Osha annahm, haben DNA-Tests bewiesen, dass er tatsächlich Marcuses leiblicher Sohn war, der gezeugt wurde, als sie mit Neumann verheiratet war. Vgl. Defender of the Homeless, The San Francisco Chronicle, 16. Juni 2019.

      12 Adorno, der erst 1938 emigrierte, war in diesen Jahren kein vollwertiges Mitglied des Instituts.

      13 Löwenthal (1932/1980), S. 309–328.

      14 Adornos negative Einstellung gegenüber Marcuse war bereits bekannt, so in seinem Brief vom 15. Mai 1935 an Horkheimer, worin er über Marcuse urteilt, er halte ihn »für einen durch Judentum verhinderten Faszisten«, der aus dem Institut geworfen gehöre. Vgl. Horkheimer (1995), S. 347. Siehe auch: Adorno an Walter Benjamin vom 25. April 1937, als er Marcuses Aufsatz Über den affirmativen Charakter

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