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„Mach das nicht“, dann hätte man vermutlich einen anderen Ausdruck benutzt.

      Viele Alttestamentler gehen deshalb davon aus, dass hier etwas viel Tiefgründigeres mit anklingt, nämlich: „Das machst du dann garantiert nicht.“ Im Sinne einer Reaktion. Und jetzt wird es spannend: Wenn das stimmt, dann stehen diese zehn Leitsätze nämlich alle in Beziehung zur Einleitung (die Erinnerung an die Befreiung) und bedeuten in etwa: „Wenn du wirklich frei bist, dann wirst du niemanden belügen.“ Oder: „Wenn du dich innerlich stark und beschenkt fühlst, dann hast du es nicht nötig, jemanden zu bestehlen.“ Oder: „Wenn du von der Liebe Gottes erfüllt bist, dann wirst du auch deine Eltern würdig behandeln.“

      Dann wären die Zehn Gebote so etwas wie die logische Konsequenz aus einem Leben in Freiheit: Wer mit sich, mit Gott und mit der Welt im Reinen ist, der kommt gar nicht auf die Idee, anderen oder sich selbst zu schaden. Warum sollte so jemand denn lügen, betrügen oder andere verletzen? All das machen Menschen nur, wenn sie ein Defizit-Gefühl haben und verzweifelt hoffen, sie könnten durch ihr (garstiges) Verhalten ihren Status verbessern. Anders ausgedrückt: Wer die Dinge tut, die in den Geboten genannt werden, zeigt damit vor allem, dass er seinen inneren Frieden (noch) nicht gefunden hat.

      Natürlich stecken im „Dekalog“ trotzdem auch Handlungsideale. Aber die sprachliche Differenzierung öffnet eine zusätzliche Perspektive: Unser Handeln verrät viel über unser Leben. Und unser Ziel sollte es immer sein, so zu leben, dass wir keinen Grund mehr haben, gegen die grundlegenden Werte des Daseins zu verstoßen.

       3. Die Zehn Gebote sind kein Regelwerk, sondern Haltungen

      Dass die Zehn Gebote nicht einfach nur ein Regelwerk sind, macht Jesus auf ganz eindrückliche Weise deutlich. Indem er sie wiederholt bricht. Ja, Jesus bricht demonstrativ die Zehn Gebote – oder zumindest einige Regeln, die im Lauf der Geschichte von ihnen abgeleitet wurden. Fromme Juden hatten zum Beispiel das Gebot der Sabbat-Heiligung so interpretiert, dass man am siebten Tag weder von einem Feld Ähren holen darf, um seinen Hunger zu stillen, noch einem Kranken zu Hilfe eilen.

      Jesus macht beides mehrfach in der Öffentlichkeit und weist seine Kritiker anschließend mit den Worten zurecht: „Der Sabbat ist für den Menschen da, nicht der Mensch für den Sabbat.“ Wenn jemand also aus einem Gebot eine oberflächliche Verordnung macht, dann handelt er gegen dessen ursprüngliche Absicht. Die Maxime „Nutze einen Tag in der Woche, um zur Ruhe zu kommen“ wird pervertiert, wenn ich daraus schließe, ich müsste einen Verletzten blutend am Wegrand liegenlassen. Und als man Jesus daraufhin vorwarf, er würde das Gesetz zerstören, sagte er deutlich: „Ich will das Gesetz nicht aufheben, sondern erfüllen.“ Weil sich ein „Gesetz“ nur da erfüllt, wo es den Menschen frei macht.

      Jesus geht aber noch weiter: Um die eigentliche Bedeutung der Zehn Gebote zu veranschaulichen, spitzt er sie in der Bergpredigt nicht nur zu, er radikalisiert sie buchstäblich. „Ihr kennt das Gebot ‚Du sollst nicht töten‘. Ich aber sage euch: Schon wer auf seinen Bruder wütend ist oder ihn beleidigt, macht sich schuldig.“ Oder: „Ihr kennt das Gebot ‚Du sollt nicht ehebrechen‘. Ich aber sage euch: Schon wer eine Frau begehrlich ansieht, bricht die Ehe in seinem Herzen.“ Oder (was noch über die Zehn Gebote hinausgeht): „Ihr kennt das Gebot ‚Liebe deinen Nächsten‘. Ich aber sage euch: Liebt nicht nur eure Nächsten, sondern auch eure Feinde. Seinen Nächsten liebt jeder, nur wer auch seinen Feind lieben kann, zeigt, dass er das Geheimnis echter Liebe verstanden hat.“

      Das klingt hart. Aber Jesus will mit dieser Radikalisierung vor allem an das ursprüngliche Ziel der Gebote erinnern. Er macht unmissverständlich deutlich, dass es nicht um das Einhalten von Regeln, sondern um Lebenshaltungen geht, um eine befreite und befreiende Grundeinstellung. Juristisch hat ein Mann, der Lust bekommt, mit einer anderen Frau zu schlafen, noch nicht die Ehe gebrochen – aber er zeigt, dass ihm der Wert der „Treue“ verloren zu gehen droht. Und wenn ein Mensch einen anderen verbal verletzt oder demütigt, dann wird daran erkennbar, dass er vergessen hat, wie kostbar jedes Leben ist.

      Anders ausgedrückt: Der Dekalog sagt eigentlich weniger, wie etwas nicht sein soll, er beschreibt vor allem, wie etwas sein könnte. Und das macht ihn so kraftvoll.

      Die Tatsache, dass der Dekalog jahrhundertelang fälschlicherweise als „Benimm-Katalog mit höllischen Sanktionen bei Nicht-Einhalten“ verstanden wurde, hat übrigens auch dazu geführt, dass er in der Kirchengeschichte lange Zeit eher ein Schattendasein geführt hat. Zumindest waren die frühen Christen, die sich ja auch von einem (nach ihrem damaligen Verständnis) sehr gesetzesorientierten Judentum abgrenzen wollten, an den Zehn Geboten nicht sonderlich interessiert.

      Erst der Reformator Martin Luther befand im 16. Jahrhundert, die Zehn Gebote seien „der höchste Schatz, den Gott gegeben hat“. Weil er die lebensfördernde Kraft in ihnen wiederentdeckt hatte. Schon 1520 schrieb er daraufhin ein sehr erfolgreiches Buch mit dem Titel „Von den guten Werken“, in dem er den Dekalog als Grundprinzipien für ein heilvolles Leben darstellte. Diese positive Sichtweise habe ich gerne übernommen und erlaube mir deshalb in diesem Buch auch, bei jedem Gebot die befreiende Perspektive in den Mittelpunkt zu stellen.

      In Luthers sogenannten „Katechismen“ – einer Art Gebrauchsanleitung für den Glauben, die es in Kurz- und in Langform gibt – spielt der Dekalog als einer der drei zentralen Texte des Christentums (neben dem Vaterunser und dem Glaubensbekenntnis) sogar eine so entscheidende Rolle, dass er plötzlich zum Grundwissen des Protestantismus gehörte. Seither wird in den Kirchen wieder ganz neu über die Bedeutung dieser großen Lebensordnung nachgedacht.

      Wenn wir uns im Folgenden die einzelnen Gebote anschauen, dann immer auf dem hier skizzierten, geistesgeschichtlichen Hintergrund: Sie sind Teil einer großen Geschichte, sie knüpfen an eine Erfahrung an, sie wurden verkündet, um den Menschen ein dauerhaftes Leben in Freiheit zu ermöglichen und sie sollen an die wesentlichen Kennzeichen eines verantwortungsvollen Daseins erinnern – eines Daseins, in dem sich ein Mensch freiwillig mit seinem Handeln vor Gott verortet. Los geht’s!

Die zehn Gebote

       Der Schöpfer des Himmels und der Erde hat jeden Menschen dazu bestimmt, sein Repräsentant auf Erden zu sein.

       Matthias Köckert

      Für das Volk Israel war der Dekalog damals zuallererst eine Auszeichnung. Und was für eine! „Gott zeigt uns, seinem Volk, dessen Freiheit ihm so am Herzen liegt, wie das mit dem Leben funktioniert. Was für ein Geschenk!“ Da erstaunt es nicht, dass die Zehn Gebote bis heute im Judentum hoch geehrt und geachtet werden. Und das seit mehr als 3000 Jahren.

      Allerdings: Obwohl die Ereignisse am Sinai gerne auf das 13. Jahrhundert vor Christus datiert werden, stammen die heute überlieferten Aufzeichnungen dieser Worte höchstwahrscheinlich erst aus dem 8. oder dem 6. Jahrhundert vor Christus – und sie werden schon in den fünf Büchern Mose in zwei leicht unterschiedlichen Fassungen überliefert (einmal direkt in der Erzählung von der Verkündigung, 2. Mose 20) und einmal in den Abschiedsreden von Mose, in denen er sich noch einmal an die gute alte Zeit erinnert, 5. Mose 5). Die beiden Versionen stimmen zwar im Wesentlichen überein, bringen aber zum Beispiel recht unterschiedliche Begründungen für das Sabbatgebot.

      Zu solchen kleinen Ungereimtheiten kommt die verrückte Situation, dass sich die unterschiedlichen Glaubensgruppierungen der Welt bis heute nicht auf eine gemeinsame Zählweise einigen konnten. Wirklich! Jeder zählt ein bisschen anders. Das liegt unter anderem daran, dass in der Einleitung der Gebote nicht ganz klar ist: Was gehört noch zur Erzählung vom Exodus und was ist schon ein Gebot? Außerdem stellt sich die Frage: Ist die Idee, der Mensch möge sich bitte kein Bild von Gott schnitzen, eine erläuternde Ergänzung des Auftrags „Du sollst keine anderen Götter neben mir haben“ oder ist das ein eigenes Gebot?

      Je nachdem, wie man diesen Anfangsteil bewertet und aufteilt, wird dann das Sabbatgebot entweder zum

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