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Obwohl sich wie oben erwähnt Mitgefühl im Theravāda-Buddhismus implizit auf jeden Teil des Weges bezieht, wurde ihm nicht dieselbe zentrale Bedeutung gegeben wie der Weisheit, der Einsicht, die ausdrücklich von Leiden befreit (siehe Kapitel 9). Weil Einsicht oder Weisheit die vergängliche, selbstlose Natur von Erfahrung anerkennt, befreit sie allein den Geist von den Tendenzen, zu verdinglichen und an der konstruierten Empfindung eines Selbst festzuhalten, und befreit uns so von den tiefsten Ursachen von Leiden. Daher wird eher Einsicht als Mitgefühl an sich als das befreiende Kernprinzip des Theravāda-Weges der Arahats hoch gehalten (Aronson, 1980).

      In der Entwicklung des indischen Buddhismus tauchten vom 1. Jh. v. Chr. an andere Bewegungen auf, die sich unter dem Begriff Mahāyāna, „Großes Fahrzeug“, zusammenfanden. Die Traditionen des Mahāyāna rückten Mitgefühl mehr in das Zentrum, weil sie stärkere Betonung auf diesen Aspekt des Erwachens legten, der den Buddha von Arahats unterschied. Die Verwirklichung des Buddha verlieh ihm die Macht, die Einsicht seines Erwachens auf eine Weise geschickt zu vermitteln, die zahllosen Menschen über viele Generationen hinweg von Nutzen war. Die Kraft des Buddha, durch seine Präsenz und Rede eine gute Wirkung auf andere auszuüben, die tatsächlich die Wirkung anderer Arahats übertraf, wurde als ein Hinweis verstanden, dass auch die Weisheit des Buddha die der anderen übertraf. Denn seine Weisheit befreite nicht nur ihn selbst von den Wurzelursachen des Leidens, sondern befähigte ihn auch, andere auf dieselbe essenzielle Freiheit hinzuweisen. Die vorausgehende lange Übung des Buddha in unparteilichem Mitgefühl wurde als das Mittel gesehen, durch das er seine Weisheit soweit vertieft hatte, dass er andere so tief kennen und so geschickt unterrichten konnte. Mitgefühl wurde daher in den Mahāyāna-Traditionen der Status zugesprochen, in der vollsten Form des Erwachens von Weisheit letztlich untrennbar zu sein (Harvey, 2000). Diejenigen, die sich dafür entscheiden, diesem besonderen Weg zum Erwachen zu folgen – die Untrennbarkeit von Weisheit und Mitgefühl um der Welt willen zu verwirklichen und zu verbreiten –, werden in dieser Tradition Bodhisattvas genannt.

      Mitgefühl und Leere

      Die Weisheit, die in den Traditionen des Mahāyāna gelehrt wird, öffnet uns für andere in mitfühlender Intimität nicht nur durch Einsicht in ihren Zustand, sondern durch Anerkennen der letztlich ungeteilten Natur alles dessen, was existiert. Nach den Lehren des Mahāyāna werden nicht nur die Phänomene als vergänglich und jenseits von Verdinglichung zu einem „Ich“ gesehen (wie im Theravāda), sondern bei näherer Untersuchung finden sich keine unabhängig existierenden Phänomene irgendeiner Art, weder vergängliche noch nicht vergängliche. So erscheint uns zum Beispiel ein Tisch aus Holz anfangs als eine an sich einzige Einheit, die für sich unabhängig zu existieren scheint, so als gäbe es keine Verbindung zu früheren Ursachen, Bedingungen oder Teilen und als hätte er nichts mit der konstruktiven Aktivität des beobachtenden Geistes zu tun. Bei näherer Untersuchung aber, so die Mahāyāna-Texte, ist kein auf diese Weise unabhängig existierender Tisch zu finden. Vielmehr kann der Tisch in unzählige Ursachen, Bedingungen und Bestandteile analysiert und zerlegt werden, die kognitiv durch die begriffliche Konstruktion des beobachtenden Geistes zu der Erscheinung eines getrennten, für sich und aus sich selbst existierenden „Tisches“ organisiert wird (siehe Kapitel 9).

      Auf der Ebene der Erscheinungen bedeutet dies, dass der hölzerne Tisch nicht von all den Ursachen und Bedingungen getrennt werden kann, die zu seiner Existenz beitragen: zum Beispiel dem Tischler, den Bäumen, der Atmosphäre, dem Sonnenlicht, der Erde, dem Wasser, den Würmern in der Erde und den Insekten, von denen jedes in Abhängigkeit von weiteren zahllosen Ursachen und Bedingungen existiert, sodass letztlich jedes Ding mit allen Dingen in Beziehung steht und alle Lebewesen mit allen anderen Lebewesen. Auf der Ebene tiefer Einsicht gibt es nirgendwo etwas, was unabhängig und getrennt existierte – jedes scheinbar getrennte „Ding“ ist leer (Sanskrit: shūnya), insofern es keine Existenz für sich besitzt, die sie vor einer tiefen Untersuchung dieser Art zu besitzen schien.

      Im Verständnis des Mahāyāna-Buddhismus schneidet die Einsicht, die so erkennt, dass Phänomene leer sind, weil sie in dem beschriebenen Sinn keine Existenz für sich besitzen, sogar noch tiefer in die inneren Ursachen von Leiden als die Einsicht in die Vergänglichkeit. Diese Einsicht dekonstruiert die Tendenz, zu verdinglichen und sich an Erfahrungen zu klammern, noch vollständiger, da die Weisheit der Leere kein unabhängiges Ding findet, dem auch nur Vergänglichkeit zugeschrieben werden kann. Wenn die leere Natur der Phänomene so erkannt wird, bedeutet das, sogar über verdinglichte, konzeptuelle Konstrukte eines getrennten „Beobachters“ und von „Beobachtetem“ hinauszugehen, um sich in eine nicht konzeptuelle, nicht duale Bewusstheit hinein zu entspannen, die die ganze Welt und ihre Wesen letztlich als ungeteilten Raum erkennt (Conze, 1973). Dies ist keine Form von Nihilismus, denn Dinge erscheinen weiterhin durch die Kraft ihrer in wechselseitiger Abhängigkeit erzeugten Modi der Existenz, und die Lebewesen leiden weiter durch Verdinglichen, Anklammern und Reagieren auf Dinge und aufeinander, als wären sie alle voneinander getrennt und würden aus sich und für sich existieren – als wären sie nicht leer. Vielmehr erkennt die nicht duale Weisheit alle Wesen als in dem leeren Grund aller voneinander abhängigen Dinge ungetrennt von einem selbst an (Sanskrit: dharmadhātu), was ein allumfassendes, unbedingtes Mitgefühl für alle Kreaturen unterstützt.

      Die Leere der Welt so zu erkennen bedeutet, dass Nirvāna, die leere Essenz der Erfahrungen, von der Welt voneinander abhängiger, sich verändernder Erscheinungen auf dieselbe Weise ungetrennt ist, wie der Raum von allen Formen ungetrennt ist, die er enthält. Leere so erkennen und verwirklichen, ermöglicht daher die Freiheit, an der Welt teilzuhaben, ohne sich an sie zu klammern, und zwar mit unbedingtem Mitgefühl für alle, die deshalb leiden, weil sie sich an ihre eigenen konkretisierten Projektionen von sich selbst und anderen als selbstexistent klammern und auf sie reagieren. Wie ein Autor es ausdrückt: „[Dies] bedeutet zum Beispiel, dass ein Bodhisattva mit Übeltätern Schulter an Schulter sein kann, um sie zu erreichen und zum Guten zu ziehen, da er weiß, dass ihre schlechten Eigenschaften keine Realitäten an sich sind“ (Harvey, 1990, S. 125). So ein radikales Mitgefühl ist auch in der Psychotherapie von entscheidender Bedeutung – besonders bei Klienten, die anderen Schaden zufügen.

      Nicht konzeptuelle Einsicht in die Leere (Sanskrit: shūnyatā) zu haben, jenseits aller Verdinglichung und allen Festhaltens (und daher jenseits der inneren Ursachen von Leiden), bedeutet, sehr großes Mitgefühl für alle Menschen zu empfinden, die weiter in den Ursachen von Leiden gefangen sind und die letztlich als ungetrennt von einem selbst empfunden werden. Diese tiefe Einsicht als die Basis für dieses allumfassende Mitgefühl wird die Vollkommenheit der Weisheit genannt (Sanskrit: prajñā-pāramitā).

      Die sechs vollkommenheiten

      In frühen Mahāyāna-Texten werden die vier unermesslichen inneren Haltungen von Liebe, Mitgefühl, Mitfreude und Gleichmut in Übereinstimmung mit diesen Lehren neu formuliert. Tiefster Gleichmut wird jetzt mit der Vollkommenheit von Weisheit selbst identifiziert – Weisheit, die in sich stabil, ruhig und frei von Erwartungen oder Parteilichkeit ist, weil sie im unbedingten, ungeteilten, leeren naturgegebenen Wesen der Dinge jenseits von Unterscheidung gegründet ist (Conze, 1973, 1979). Liebe, Mitgefühl und Mitfreude, die von dieser Weisheit ausstrahlen – dessen bewusst, wie Wesen leiden, indem sie sich an ihre Erfahrungen klammern –, motivieren Handlungen, um ihre Bedürfnisse auf jeder Ebene zu befriedigen und sie letztlich zu vollkommener Freiheit zu weisen. Diese Aktivität wird als „großzügig, diszipliniert, geduldig, unermüdlich und tief geerdet“ beschrieben (Conze, 1973, S. 199). Diese fünf paradigmatischen Aspekte von Aktivität, die auf andere gerichtet ist, sind, zusammen mit der Vollkommenheit der Weisheit, die sie bestimmt, die sechs Vollkommenheiten, die den Bodhisattva-Weg des Erwachens in sich enthalten.

      Weisheit und Mitgefühl zusammen kultivieren

      Wie in Kapitel 1 erwähnt sehen die buddhistischen Traditionen Weisheit und Mitgefühl als verbunden – wie die zwei Flügel eines Vogels. Obwohl wir alle das Potential besitzen, die Vollkommenheit der Weisheit zu verwirklichen, machen unsere tief verwurzelten Tendenzen, uns an alle Dinge als an sich getrennt und für sich existierend zu klammern, es schwierig, über ein rein konzeptuelles Verständnis solcher Lehren zu einer nicht konzeptuellen, nicht dualen Erkenntnis ihrer Bedeutung hinauszugehen,

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