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Donaumelodien - Totentaufe. Bastian Zach
Читать онлайн.Название Donaumelodien - Totentaufe
Год выпуска 0
isbn 9783839268780
Автор произведения Bastian Zach
Издательство Автор
»Ah«, raunte die Gestalt. »Die Erkenntnis darüber, was das Leben in seinem Kern ausmacht. Am Ende sind es immer die gleichen Dinge, nicht wahr? Nicht der Reichtum, der einem Halt gibt, nicht der Zuspruch von anderen, der einen antreibt. Es ist einzig der Wunsch, nicht allein auf dieser trostlosen Welt zu sein. Und wenn man diesen letzten Anker lichtet, von dem die meisten glauben, sie würden ihn brauchen wie einen Bissen Brot, dann treibt man im Geiste mutterseelenallein auf dem Ozean der Zeit einem Abgrund entgegen.«
Der Alte sah die Gestalt verwundert an.
»Mir deucht, Sie hatten solch tiefsinnige Worte von mir nicht erwartet? Wissen Sie, wenn man, so wie ich, alles verloren hat, jener besagte Anker nicht mehr ist als ein sichtbarer Hauch in einer kalten Wintersnacht, dann beginnt man, die abstrusesten Gedanken zu spinnen. Ich glaube gar von mir behaupten zu können, mehr über das Leben und seine Unbilden nachgedacht zu haben als ein Sokrates, ein Platon oder ein Aristoteles.«
»Das reine Nachdenken macht aus einem noch keinen Philosophen. Nur wer die richtigen Rückschlüsse zu ziehen imstande ist, den ereilt die Erkenntnis.«
Die Gestalt lachte auf. »Da ist er ja wieder, der belehrende Tonfall, der mir so gut in Erinnerung geblieben ist. Das arrogante Hinwegsetzen eines Mannes über andere, der überzeugt war, er stünde über diesen. Und der vermeinte, er verstünde sie auch noch.«
»Ich wollte doch nur helfen, nach bestem Wissen und Gewissen.«
»Nun, mit dem Gewissen ist das so eine Sache, nicht wahr? Georg Büchner schrieb dazu: ›Das Gewissen ist ein Spiegel, vor dem ein Affe sich quält.‹ Und wenn man etwas mit seinem Gewissen in Einklang zu bringen vermag, so lässt sich auch schnell die Moral ad acta legen.« Die Gestalt lächelte. »Ich jedenfalls kann das, was nun folgt, sehr wohl mit meinem Gewissen vereinbaren. Sehen Sie sich noch einmal gut Ihre Frau an, die so rein gar nichts mit all dem zu schaffen hat. In Wahrheit sind Sie ihr Mörder.«
Die Gestalt nahm den Dorn in die Hand. »Ich muss Sie warnen. Das könnte nun ein wenig unangenehm werden.« Mit diesen Worten bohrte sich der Dorn in das linke Auge des alten Mannes.
VIII
Ohne jede Hast bahnte sich der Schindelwagen seinen Weg Richtung Magdalenengrund. Dieser stellte ehemals eine der kleinsten Vorstädte Wiens dar, die 1850 gemeinsam mit den Vorstädten Mariahilf, Gumpendorf, Laimgrube und Windmühle eingemeindet wurde und seit 1861 die Bezeichnung 6. Bezirk, Mariahilf, trug. Dies allerdings nur offiziell. Ursprünglich hieß das Gebiet mit steiler Hanglage, das zwischen Wienfluss und Kaunitzgasse gepfercht lag, im Volksmund »Im Saugraben an der Wien auf der Gstätten12«. Nun nannten es alle das »Ratzenstadl«. Dieser wenig schmeichelhafte Name ging jedoch nicht auf eine Rattenplage zurück, derer es dort zuhauf und immer wiederkehrend gab, sondern vielmehr auf die Raizen13, die sich an diesem Ort als Erste ansiedelten.
Hieronymus holte ein silbernes Etui mit kunstvoll gravierter Oberfläche aus seiner Weste, entnahm eine Zigarette der Marke Eckstein und rauchte sie sich genussvoll an. Dann blickte er auf den Kutschbock neben sich, wo sein Freund wie ein Häufchen Elend kauerte.
»Ist der Herr jetzt in Stimmung mir zu berichten, was er gestern in Erfahrung bringen konnte, oder muss er noch weiter ausnüchtern?«
Franz rieb sich den roten Schädel. »Der Herr wird es berichten, wenn der andere die infernalische Stimme senkt.«
»Grundgütiger!«, entfuhr es Hieronymus. Franz zuckte unwillkürlich zusammen. »’tschuldigung.«
»Es trug sich folgendermaßen zu«, begann Franz, noch mit leicht trägem Zungenschlag, hielt jedoch gleich wieder inne. Er sprang vom Kutschbock und spie Wasser und Galle ins Gebüsch am Wegesrand.
Hieronymus zog an Roswithas Zügeln und wartete geduldig, bis sein Freund auch den letzten Tropfen Magensäure entleert hatte.
»Auf ein Neues?«, begann Hieronymus mit schiefem Grinsen, als beide wieder auf dem Wagen saßen.
Franz nickte. »Die Burschen in den Werkskantinen vertragen wahre Unmengen. Und dann auch noch so ein gotterbärmlicher Fusel … Allein beim Gedanken daran …«
Hieronymus wollte gerade wieder die Zügel anziehen, da fuhr sein Freund fort. »Grundsätzlich ist bei allen, mit denen ich geredet habe, der Unmut groß. Denn bis ins Neunundsechzigerjahr hinein hatten sie nicht nur Arbeit, sondern konnten auch in werkseigenen Wohnungen leben, mit Weib und Kindern. Dann wandelte Drasche das Unternehmen in die ›Wiener Ziegelfabriks- und Baugesellschaft‹ um, und die leitete fortan ein Konsortium aus Banken. Damit verschlechterte sich die Lage für alle Arbeiter, wie man sich unschwer vorstellen kann. Immer mehr von ihnen wurden auf immer weniger Raum gepfercht und die Entlohnung ist dermaßen bescheiden, dass viele von der Kirchenfürsorge abhängig sind.«
Hieronymus schüttelte verständnislos den Kopf.
»Es geht noch weiter«, sagte Franz. »Die Kerle schuften bis zu fünfzehn Stunden täglich, oft sieben Tage die Woche. Und ihre Kinder ebenso.«
»Schlimm, wirklich. Aber was hat das mit unserem Leoš zu tun?«
»Nichts. Aber als Einstand hab ich mir das Gesuder14 von jedem Arbeiter anhören können, und da ist es nur gerecht, wenn du das auch musst«, meinte Franz mit einem erbarmungswürdigen Grinsen. »Was Anezkas feinen Gemahl betrifft, so schien der auch unter den Arbeitern keinen besonders guten Ruf gehabt zu haben. Streitsüchtig, volltrunken, jähzornig. Das hörte ich durch die Bank. Was ich aber auch gehört habe, ist, dass er einen Tag vor seiner Entlassung das Werksgelände verlassen habe, voll im Öl15 und Arm in Arm mit einem Serben, einem gewissen Jakub. Und der soll im Ratzenstadl leben.«
»Dass wir da nicht wegen der guten Luft hinfahren, hab ich mir schon beinahe gedacht. Dann hoffen wir, dass es dort nur einen Jakub gibt«, entgegnete Hieronymus ironisch und sah besorgt in das fahle Antlitz seines Freundes. »Willst du dich lieber in den Wagen legen, während ich mich umhöre?«
Der winkte ab. »Wer saufen kann, der kann auch –«
Einen Augenblick später stand Franz erneut vornübergebeugt am Wegesrand und spie sich die Seele aus dem Leib.
Den Schindelwagen hatten sie an der Wienstraße stehen gelassen und einem Buben, dessen Vater dort einen Schusterladen betrieb, einige Kreuzer bezahlt, dass der auf Pferd und Gefährt aufpasste.
Nun stapften Hieronymus und Franz die Magdalenenstraße entlang, die von baufälligen Giebelhäusern gesäumt war. Ihre Fassaden drückten sich nach außen, ihre Dächer wölbten sich nach innen. Morsche Fensterläden hingen quietschend im Wind, Bretterverschläge verdeckten, was zu sehen nicht gewünscht wurde. Ein modriger Geruch hing über dem Viertel.
Franz wusch sich den Kopf in einem Brunnen mit eiskaltem Wasser, wirkte mit einem Male erfrischt und agil.
»Ich werde einen auf armen Krüppel machen, der seinen Bruder Leoš sucht, der wiederum bei seinem Arbeitskollegen Jakub wohnen soll«, schlug er vor. »Mit böhmischem Akzent und so.«
»Gute Idee. Sei trotzdem vorsichtig. Die Serben mögen die Ziegelbehm nämlich auch nicht.«
Franz nickte entschlossen, beugte sich nach vorn, sodass sein Buckel noch größer wirkte, als er war, und humpelte in den erstbesten Laden hinein, in dem ein Vergolder werkte.
»G-g-grüß Gott, ich h-h-hab bittschön eine F-frage.«
Dann schloss die Tür hinter ihm.
Unsteten Schrittes ging Hieronymus vor dem Laden auf und ab. Sollte sich Leoš’ Spur hier verlieren, wusste er nicht, wo sie ansetzen sollten. Eine Zeitlang könnten sie wohl Anezka und ihre sechs Kinder mit durchfüttern, aber eine Lösung war das keine, das wussten sie alle. Und da der Kerl entlassen worden war, stand selbst in seinem