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Verkettung äußerst unglücklicher Umstände.«

      »Eben, eine Verkettung!« Sie hob den Finger und nahm mit ihrem Blick meine Augen in die Zange. »Ein System ist entgleist. Dabei hat es jedoch nur das getan, was ihm möglich ist.«

      Grauen stieg die Kapillaren meiner Seele empor. »Und Sie meinen, jemand … die Tochter beispielsweise … hat das bewirkt? Nein, ist daran beteiligt, weil der kleine Bruder sie schon lange nervt? Oder der Vater, weil er seit Jahren von finaler Lebensflucht träumt?«

      »Das wäre eine mögliche Interpretation. Wenigstens einer im Wagen befand sich im Zustand seelischer Instabilität. Dann muss nur eine Kleinigkeit passieren, und das System gerät aus dem Ruder.«

      »Und wie muss ich mir diese geistige Instabilität vorstellen?«

      »Als ein Nicht-bei-der-Sache-Sein vielleicht. Als Versunkenheit in einem persönlichen Problem, das auf Lösung drängt.«

      »Ah so!« Ich war erleichtert. »Also ein schicksalhafter Fehler aus Mangel an Konzentration. Das kommt vor.«

      »Unentwegt. Aber entscheidend ist der Moment. Warum passiert der Unfall, als der kleine Bruder sich gerade losgeschnallt hat? Und wie oft liegen Bratpfannen in einer Mülltonne?«

      Wieso fiel Sally der Bierhumpen ihres Vaters aus der Hand oder aus dem Regal, als ihr Vater starb? »Okay. Und Sie meinen also, das kann jeder.«

      »Nein, keineswegs. Psi-Fähigkeiten hat nicht jeder, man kann sie weder lernen noch üben. Das gilt zumindest für die Labor­situation. Die Forschung hat Psi-Fähigkeiten bestimmten Charaktereigenschaften zuordnen können, ja müssen. Sonst könnten Sie jetzt sagen, die Fluktuation hätte sich auch ereignet, wenn Desirée Motzer an Ihrer Stelle gesessen hätte. Aber das ist nicht so.«

      »Und diese Charaktereigenschaften wären?« Ich gierte. Derya war ja an sich nicht zurückhaltend, mir mal kurz meine Identität zu definieren.

      »Ängstliche, verklemmte Menschen produzieren jedenfalls keine PK-Effekte. Das kann man sagen. Gesellige, gelassene und extrovertierte schon eher. Es gehört ein gewisses Selbstvertrauen dazu und eine«, sie schmunzelte, »eine starke Maskulinität.«

      »Klingt, als hätte man solche Experimente hauptsächlich mit Männern durchgeführt.«

      »Keineswegs.« Die zierliche Frau Doktor warf mir einen kurzen Seitenblick zu. »Die große Kulagina, das russische PK-­Medium … Aber von der haben Sie ja schon gehört.«

      Ich hatte sie sogar vorhin selbst erwähnt. »Die Meisterin der Salzstreuer.«

      »Sie war Soldatin. Sie hatte zwar keine Wahl, abgesehen davon, dass sie Funktechnikerin geworden war, aber Finley sagt, ihr Spirit war sehr maskulin.«

      »Was auch immer das ist.«

      Derya Barzani lächelte selbstsicher. »Na, Männer sind ja durchaus empfänglich für weibliche Signale. Und wenn sie ­fehlen …«

      15

      Mit der E-Mail-Adresse von Héctor Quicio, Mitarbeiter bei der AEIP, der Asociación Española de Investigaciones Parapsicológicas, fuhr ich nach Stuttgart zurück. Ich schrieb ihm sofort, ohne den genauen Grund anzugeben. Dann rief ich Richard an.

      Roland Hoffmann war wieder aufgetaucht. »Er stand«, erzählte Richard, »im Megastau auf der A8 an der Messe. Da sind beim Parkhaus gestern Abend zwei Gefahrguttransporter zusammengestoßen, einer mit Essigsäure, der andere mit Benzin. Die Autobahn war bis 14 Uhr 30 siebzehn Stunden komplett gesperrt.«

      »Hab ich in den Nachrichten gehört.«

      »Und Hoffmanns Akku war leer. Und du, was hast du in Kalteneck gemacht?«

      »Sozialgeräusche. Und wie war dein Tag?«

      »Lisa«, sagte er. »Was in drei Teufels Namen soll das werden?«

      »Immerhin weiß ich nun, dass ich eine PK-Begabung habe. Ich bin schon fast fahruntüchtig.«

      »Schön für dich.«

      »Weiß ich noch nicht, Richard. Mein Schicksal bekommt einen ganz anderen Unsinn, wenn ich annehme, ich hätte es selbst verursacht. Das heißt, man verursacht es ja nicht, man ist nur dabei, wenn es passiert, und wenn man nicht dabei wäre, würde es nicht passieren. Verstehst du das?«

      »Nein«, sagte er leicht besorgt. »Alles in Ordnung bei dir?«

      Wann war je irgendwas in Ordnung bei mir? »Ich möchte mit dir nach Neuschwanstein fahren, Richard.«

      Ich hörte ihn atmen. »Okay, wenn dir das so wichtig ist.«

      Ich verschluckte mich vor Überraschung. »Wann?«

      Zwei Tage später verhaftete man in einem transsilvanischen Dorf zwei Brüder, bei denen sich Spuren des verwendeten Sprengstoffs fanden. Der Gute Tag berichtete, sie hätten gestanden, dass sie zusammen mit einem Cousin aus einem Nachbardorf den Überfall auf den Gefangenentransport in Stuttgart begangen hatten. Den Auftrag hätten sie Anfang Februar über einen Kontakt aus dem kriminellen Milieu erhalten, zusammen mit einer Anzahlung von 30 000 Euro. Bei Ablieferung des Befreiten hätten sie dasselbe noch einmal bekommen sollen. Über den Mann, den sie befreien sollten, hätten sie nichts gewusst. Sie hätten ihn in einem Transporter über die tschechische Grenze bringen und dort auf einem Parkplatz stehen lassen sollen. Nachdem das alles nicht geklappt habe, seien sie zurück in ihr Dorf Viestea de Sus gefahren.

      Die Spur zum Auftraggeber endete für die Ermittler nach weiteren vier Tagen in Moskau bei der Leiche des Kontaktmanns aus dem kriminellen Milieu.

      Der Presse konnte ich auch entnehmen, dass Juri Katzenjacob sich zu dem Vorgang nicht äußerte und sein Anwalt bessere Schutzmaßnahmen forderte. Über Kontakte Juris nach Osteuropa wurde nichts bekannt, aber der Gute Tag hatte ein Mädchen ausgegraben, noch Schülerin, wegen der es Juri angeblich nach Böblingen gezogen hatte. Eine gewisse Angela K., hübsch und Nichte des Malermeisters, der Juri angestellt hatte. Der Gute Tag zitierte sie auf der Stuttgarter Lokalseite mit den Worten: »Mich hat’s vor ihm gegruselt«, und kolportierte die Geschichte, dass Juri auf einer Landstraße plötzlich angehalten habe, ausgestiegen und zu einem Fuchs gegangen sei, der überfahren am Straßenrand lag. Mit bloßen Händen habe er dem Fuchs die Eingeweide herausgezogen.

      Über Facebook fand ich Angela K. auch gleich und schickte ihr die Nachricht, dass ich mich gern mit ihr unterhalten würde. Sie wollte erst nicht, ließ sich dann aber mit Hilfe einiger Scheine zu einer Verabredung nach Stuttgart locken. Allerdings kam sie nicht. Ging auch nicht ans Handy. Der Unfall, der sie wenige Stunden zuvor das Leben gekostet hatte, war spektakulär genug, dass ihn am Abend die Radionachrichten meldeten. Ein Siebzehnjähriger hatte ohne Fahrbegleiter im Auto vom Vater eines Freundes betrunken die Kontrolle verloren und Angelas Fahrrad auf den Kühler genommen. Sie war zwanzig Meter weit geflogen und auf dem Weg ins Krankenhaus verstorben.

      Mich gruselte.

      Auf eine Antwort von Héctor Quicio wartete ich auch vergeblich. Ich telefonierte mich durch die Uni Alicante, bis man mir mitteilte, dass es dort keine Parapsychologen gab. Ein etwas genauerer Blick ins Internet ergab, dass die AEIP nicht zum Campus gehörte, sondern in einem Stadtteil namens San ­Vicente del Raspeig lag. Ich wählte die Nummer des Departamento de Investigaciones und landete bei einer Maite, die mir erklärte, sie kenne keinen Héctor, aber sie sei auch erst seit März im Institut. Und sie sei auch gerade ganz alleine. Ich solle in einer Stunde wieder anrufen. Da konnte sie mir immerhin sagen, dass ­Héctor das Institut Anfang des Jahres verlassen habe. Sein Vater sei krank geworden, er habe der Mutter mit dem Restaurant helfen müssen. Wo das sei, konnte sie nicht sagen. Eine private E-Mail-Adresse habe sie nicht, sie wolle sich aber erkundigen. Als ich gegen ein Uhr wieder anrief, war Mittagspause. Auch am Nachmittag ging niemand mehr an den Apparat.

      Ich fand Héctor Quicio in Facebook. Aber er hatte sein Profil nur für FreundInnen offen, deren er an die tausend besaß. Eine Schnittmenge mit meinen gab es nicht. Ich suchte mir die hübscheste unter den ersten zehn aus und schickte ihr eine Freundschaftsanfrage.

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