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Erfahrung und daher fest verankert in dem, was man etwas voreilig den gesunden Menschenverstand nennt. Sprechen wir mit Gramsci lieber vorsichtiger vom Alltagsverstand. Diesem möchte man Hamlets Worte vorhalten, als ihm der Geist seines ermordeten Vaters begegnet ist: »Es gibt zwischen Himmel und Erden mehr Dinge, als eure Schulweisheit sich träumen lässt.« Nur dass es hier um in Geld ausgedrückte Werte geht, also, wenn man so will, um die Geister toter Arbeit, Geld, das seine Besitzer für sich arbeiten lassen, damit es sich übernatürlich vermehre.

      Ein bescheidenes Beispiel, um den Horizont unserer Schulweisheit zu testen: Die Außenstände der österreichischen Banken in Osteuropa entsprechen in etwa dem Bruttoinlandsprodukt Österreichs, das heißt, definitionsgemäß, dem Gesamtwert aller Güter (Waren und Dienstleistungen), die innerhalb eines Jahres in Österreich hergestellt worden sind. Nun müssen die Österreicher ja von diesen Produkten leben. Wie kann es sein, dass sie diese Produkte aufessen und auf sonstige Weise verbrauchen und zugleich ihren »Wert« weggeben? Nun gut, sie mögen zehn Jahre lang jeweils zehn Prozent der Erlöse gespart und nun verliehen haben. Um dem Problem etwas mehr von seinem wirklichen Gewicht zu geben, zitiere ich aus einem Brandbrief, den eine Gruppe ehemaliger EU-Kommissare und Regierungschefs am 19. Mai 2008 an den Präsidenten der europäischen Kommission gerichtet hat und den neben Jacques Delors nicht nur Helmut Schmidt, sondern sogar Otto Graf Lambsdorff, Urgestein des Wirtschaftsliberalismus, unterschrieben hat. Als das Problem der Probleme benennt der Brief die bisher in der EU herrschende Wirtschafts- und Finanzmarktpolitik, die »auf Unterregulierung, ungenügender Überwachung und Unterversorgung mit öffentlichen Gütern« basiert habe. Wer würde da widersprechen? Zumal im Moment studentischer Streiks für bessere Bildungsbedingungen. Auch Universität und freier Bildungszugang sind solche öffentlichen Güter. Und schließlich deuten Delors, Schmidt, Lambsdorff und andere auf das mysteriöse Ding zwischen Himmel und Erde, den alle Vorstellungen übersteigenden Kreditberg, den sie als fiktives Kapital bezeichnen, möglicherweise ohne zu wissen, dass Karl Marx diesem Begriff seine aktuelle Fassung gegeben hat: »Finanzanlagen repräsentieren nun das Fünfzehnfache des Bruttoinlandprodukts aller Länder.« Ihr Geldausdruck entsprach der Summe der Preise aller Produkte und Dienstleistungen, die die Menschheit in fünfzehn Jahren hervorgebracht und doch wohl auch größtenteils verzehrt hat? Erscheint uns hier der Geist des konsumierten Reichtums in der Gestalt von Finanzanlagen?

      Mit dem »gesunden Verhältnis« des Geldes »zur Menge der produzierten Güter und Dienstleistungen«, von dem der vorhin zitierte FAZ-Autor träumte, kann es nicht weit her sein – und nicht erst seit dem Zusammenbruch von Lehman Brothers.

      Alles […] Stehende verdampft

       Karl Marx, Kommunistisches Manifest

      Ohne weiter in den Wirkungszusammenhang einzudringen, der sich im Geisterbau des fiktiven Kapitals ausdrückt, beschworen Delors, Schmidt usw. die Rückkehr zum »anständigen Kapitalismus«. In dessen Bestimmung meint man ein leises Echo auf die Losung des Weltsozialforums, »die Welt ist keine Ware«, zu vernehmen: »Profitstreben ist das Wesen einer Marktwirtschaft. Doch wenn alles zum Verkauf steht, schmilzt der gesellschaftliche Zusammenhalt, und das System bricht zusammen.«

      Der US-amerikanische marxistische Wirtschaftshistoriker Robert Brenner hält die – in der linken Theoriedebatte seit den 90er Jahren vorherrschende – »Idee eines finanzgeleiteten Kapitalismus« für einen »Widerspruch in sich«, weil die Finanzerträge außer beim Kundenkreditgeschäft »auf fortwährende Gewinnerzielung in der Realwirtschaft angewiesen« sind (2009, 7). Kapital kennt viele Formen. Als industrielles Anlagekapital verkörpert es sich in Produktionsmitteln. Diese haben auf den ersten Blick etwas Beruhigendes. Man kann sie ansehen. Wo sie sind, gibt es auch Arbeitsplätze. Doch die Beruhigung täuscht. »Das Wesen ist in die Funktionale gerutscht«, heißt es bei Brecht. Man kann Fabriken fotografieren oder Maschinen. Doch ihren Kapitalcharakter hat man damit nicht aufgenommen. So wenig wie man Lohnarbeit als solche in einem Schnappschuss festhalten kann. Man kann nur Menschen fotografieren, die konkrete Arbeitstätigkeiten ausführen. Die gesellschaftliche Form der Arbeit, Lohnarbeit zu sein, sieht man allenfalls in Spuren, und wenn, dann nur, weil man bereits weiß, dass sie die gesellschaftlich herrschende Form ist.

      Gleichwohl ist das Finanzkapital noch beunruhigender. Im Ausdruck »finanzielle Dienstleistung« spüren wir den Euphemismus: Allenfalls Selbstbedienung auf dem Wege der Fremdbedienung ist hier das ungeschriebene Gesetz. Jeder ist unter den gegebenen Verhältnissen sich selbst der Nächste. Wer sich darüber entrüstet, vergisst, dass dies genau genommen auch für jeden Brotfabrikanten, überhaupt für alle kapitalistische Realökonomie gilt, bloß dass es hier, wo nur Geldverhältnisse im Spiel sind, besonders krass hervortritt. In diesem Sinne sind alle Kapitalunternehmen »Selbstbedienungsläden«. Sie »dienen« der allgemeinen Bedürfnisbefriedigung nur in dem Maße, wie es ihnen selber dient. Was da wirklich für Dienste geleistet werden, ist eine Frage der Kräfteverhältnisse zwischen derart »Dienenden« und »Bedienten«, Kräfteverhältnisse, die sich, wie Nicos Poulantzas sagt, im Staat »verdichten« (vgl. Wissel 2010, 1948). Dies einmal von Grund auf begriffen, büßt Peter Gowans umstandslose Absage an die Annahme, dass »Veränderungen der sog. Realwirtschaft sich auf einen vermeintlichen finanziellen Überbau auswirken« (2009, 5), ihren Sinn ein. Dass der finanzielle Überbau sich selbst zu bedienen strebt, enthebt ihn nicht des Überbaustatus.

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