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in der Altensteinstraße aufgetaucht war, seine Frage wiederholt hatte. Er wusste in etwa, was Waschinsky in der NS-Zeit Schreckliches durchgemacht hatte. Seine vokalen Tics waren wohl eine Folge davon. Schlipalis bedauerte, dass sie zu Hohn und Spott reizten. Einmal hatte er jedoch konstatiert, dass diese Tics für eine Tätigkeit an der Universität außerordentlich nützlich seien, weil man den Studenten sowieso alles zweimal erzählen müsse. Mindestens.

      «Warum ich hier bin?» Schipalius lachte. «Wegen meiner Berufskrankheit: Zerstreutheit. Ich fliege morgen in aller Herrgottsfrühe zu diesem Kongress nach München und habe gestern vergessen, meine Unterlagen mitzunehmen.» Da er es nicht sonderlich eilig hatte, zu seiner Gattin heimzukehren und mit ihr gemeinsam den RIAS zu hören, plauderte er noch ein wenig mit Waschinsky. «Sie waren doch auch dabei, am 9. Februar, als unsere Studenten vor dem Kant-Kino gegen Sterne über Colombo protestiert haben? Mit Niespulver, Stinkbomben und 250 weißen Mäusen, die sie im Kinosaal ausgesetzt haben.»

      «Ja, gegen diesen Film von Veit Harlan musste man ja vorgehen.» Waschinsky verzog das Gesicht. Er konnte sich noch an Harlans Film Jud Süß aus dem Jahre 1940 erinnern. Das war wohl der schlimmste antisemitische Hetzfilm gewesen, den Goebbels hatte drehen lassen.

      «Harlan hat mit Jud Süß die Propaganda der Nationalsozialisten maßgeblich unterstützt», spann Schlipalius den Faden weiter. «Aber was machen die Leute heute? Sie reden nicht über diesen schrecklichen Film, sondern lieber über Veit Harlans Frau, Kristina Söderbaum, auch ‹Reichswasserleiche› genannt. Und darum, lieber Waschinsky, ist Ihre Monographie über die ‹Euthanasie› auch so eminent wichtig. Sie wird die Leute aufrütteln. Schluss mit diesem Neo-Biedermeier! Wir müssen offen darüber reden, was zwischen 1933 und 1945 Entsetzliches geschehen ist, so qualvoll das auch sein mag.» Damit erhob sich Schlipalius. «Ich muss nach Hause, sonst alarmiert meine Frau noch die Polizei. Sagen Sie, ich fahre doch in Ihre Richtung, soll ich Sie nicht mitnehmen?»

      «Sehr aufmerksam, Herr Professor, aber ich gehe lieber zu Fuß. Lieber zu Fuß.»

      «Lieber zu Fuß, ja.» Schlipalius erschrak. «Entschuldigen Sie, das war nicht böse gemeint.» Schlipalius, der so unglaublich herzlich sein konnte, tat sein Fauxpas so leid, dass er Waschinsky kurz umarmte. «So, jetzt machen Sie aber auch Feierabend! Das ist eine dienstliche Anweisung.»

      Waschinsky begleitete Schlipalius bis zu seinem Mercedes-Benz und wartete, bis der Professor eingestiegen war, um formvollendet die Tür hinter ihm zuzuschlagen. Er winkte noch einmal, dann lief er los. Anhand seines Stadtplans hatte er ausgerechnet, dass der Weg zwischen Wohnhaus und Arbeitsplatz genau 2,3 Kilometer betrug. Das schaffte er mühelos in einer knappen halben Stunde. Waschinsky hatte eine kleine Wohnung in der Muthesiusstraße Nr. 14 gemietet.

      Da zu dieser späten Abendstunde die Haustür mit Sicherheit abgeschlossen war, kramte Waschinsky in seiner Aktentasche nach dem Schlüssel, als er von der Rothenburg-in die Muthesiusstraße einbog. Während er noch suchte, rollte von der Schloßstraße her ein Pkw auf ihn zu. Das Auto stoppte vor ihm, als er die Straße überqueren wollte. Der Fahrer kurbelte die Scheibe herunter. Waschinsky sah auf, weil er dachte, der Mann wollte ihn etwas fragen. Doch er war maskiert und hielt einen Revolver in der Hand.

      Mehrere Schüsse fielen. Waschinsky brach zusammen, und der Wagen raste davon.

      DREI

      HERMANN KAPPE war ein Familienmensch, und sein alter Weggefährte Gustav Galgenberg hatte einmal gespottet, dass das auch nicht verwunderlich sei: «Wer et jeden Tag mit Mördern zu tun hat, muss doch automatisch alle lieben, die ihm nüscht weita tun und ihn nur mit kleinen Sticheleien traktieren.» Da war etwas Wahres dran. Kappe hing an seiner Familie, auch wenn es zwischen ihnen schon oft gekracht hatte. Aber nichstdestowenigertrotz, wie das auf Berlinisch hieß, hielten sie noch immer zusammen und trafen sich zumindest dann alle, wenn einer von ihnen Geburtstag hatte. Und bei einer Großfamilie wie der seinen geschah das eigentlich andauernd. Diesmal, am 4. April, wurde sein Neffe Otto 43. Otto war der Sohn seines älteren Bruders Oskar und außerdem ein Kripo-Kollege.

      Nur ein vergleichsweise kleiner Kreis war nach Charlottenburg in den Horstweg gekommen, wo Otto Kappe mit seiner Frau Gertrud und dem Sohn Peter schon seit Jahren zu Hause war: Otto Kappes Eltern Frieda und Oskar, seine beiden Schwestern mit ihren Männern und Kindern, Hertha Börnicke, eine Tante um drei Ecken, und schließlich Hermann Kappe mit seiner Klara.

      Obwohl man sich schon seit Jahrzehnten kannte, ging es beim Kaffeetrinken doch ein wenig förmlich zu, und Hertha Börnicke, derzeit als Journalistin beim RIAS engagiert, wollte wieder einmal unter Beweis stellen, dass sie die einzige Intellektuelle in der Familie Kappe war, und sah es als ihre Pflicht an, das Niveau hochzuhalten. «Geht einer von euch am Mittwoch zu der Demonstration in Reinickendorf?»

      «Nein. Was is’n da?»

      «Hasso von Manteuffel kommt.»

      Oskar Kappe lachte. «Der aus der Manteuffelstraße in SO 36 oder aus der in Tempelhof?»

      «In Lichtenrade gibt es auch noch eine», fügte Hermann Kappe hinzu und gab sein historisches Wissen zum Besten. «Die in Kreuzberg ist nach einem konservativen preußischen Politiker benannt worden, Otto Theodor Freiherr von Manteuffel, und die in Tempelhof und Lichtenrade haben ihren Namen vom Generalfeldmarschall Edwin Freiherr von Manteuffel.»

      «Und was ist nun mit Hasso?», wollte Otto Kappe wissen.

      «Det is der Hund von mei’m Nachbarn!», rief sein Vater.

      «Bitte!» Für Hertha Börnicke war das Thema zu ernst, um herumzualbern. «Hasso von Manteuffel war Kommandeur der Panzergrenadier-Division Großdeutschland und hat 1944 einen Soldaten wegen Feigheit vor dem Feind erschießen lassen. Jetzt sitzt er für die FDP im Bundestag. Die geplante Demonstration richtet sich gegen ihn.»

      «Man sollte wirklich hingehen und mitmachen», meinte Hermann Kappe.

      «Wenn dahinter man nicht die DDR steckt», fürchtete seine Frau.

      Das leitete über zu Hermann und Klara Kappes ältestem Sohn Hartmut. «Warum ist’n der nicht zu Ottos Geburtstag gekommen?», fragte Frieda Kappe.

      «Ach Mutter!», rief Otto. «Hartmut ist doch bei der Kripo-Ost, und deshalb ist es ihm unter hohen Strafen verboten, nach West-Berlin zu kommen, sowohl dienstlich als auch privat.»

      Oskar Kappe lachte. «Und wenn nun einmal jemand eine Leiche zerlegt und dann einen Teil in West-Berlin und den anderen in Ost-Berlin versteckt? So wie vor ein paar Jahren diese mordende Krankenschwester Elisabeth Kusian, die der ‹Kalte Engel› genannt wurde?»

      Zu dieser Frage wollten alle etwas beisteuern. Hermann Kappe hatte in solchen Momenten einige Mühe, die Mitglieder seiner Sippe auseinanderzuhalten, und deshalb schon mal vorgeschlagen, sie wie beim Fußball mit Rückennummern zu versehen. Beim Abendessen kam er wieder gehörig durcheinander. «Klaus, gibst du mir bitte mal die Butter rüber?»

      «Onkel Hermann, ich bin doch Lothar!»

      Peinlich, insbesondere für einen Kriminalbeamten! Sofort spottete sein Bruder Oskar, er solle bloß nicht mal den Täter mit dem Opfer verwechseln. «Und das so kurz vor deiner Pensionierung!»

      «Das war ein Tritt ins Fettnäpfchen!», rief Klara, denn sie wusste nur allzu genau, wie ungern ihr Mann an dieses Thema erinnert wurde. Kappe hatte schwer daran zu knabbern, dass man ihn am 31. Juli dieses Jahres in den Ruhestand schicken würde. Gnadenlos und trotz aller seiner Verdienste.

      Seine Cousine Hertha Börnicke, mit ihren 61 Jahren auch nicht viel jünger als er, wollte ihr Einfühlungsvermögen beweisen und meinte, es sei bestimmt schwer auszuhalten, wenn man plötzlich zum alten Eisen gehöre. Auf dieses Stichwort hin begann man nun, Witze über alternde Männer zu erzählen.

      Otto Kappe hatte den ersten auf Lager. «Kommt ein Achtzigjähriger zum Arzt und sagt: ‹Herr Doktor, ich habe Schmerzen im linken Knie.› Sagt der Arzt: ‹Das ist normal, das liegt am Alter.› Da staunt der Achtzigjährige: ‹Das kann nicht sein, mein rechtes Knie ist genauso alt, und in dem habe ich überhaupt

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