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Cantata Bolivia. Manfred Eisner
Читать онлайн.Название Cantata Bolivia
Год выпуска 0
isbn 9783957446794
Автор произведения Manfred Eisner
Издательство Автор
2. La Casa Azul
Zwei Monate später, im Juli 1940
Clarissa, die inzwischen das Küchenregiment in dem mit sechzehn Personen voll belegten Haus führt, hat zusammen mit ihren beiden Gehilfinnen, Sara Kahn und Ruth Kovacs, den umfangreichen Abwasch bewältigt. Sie cremt die von der ihr noch ungewohnten, harten Küchenarbeit geröteten und etwas wund gewordenen Hände mit Melkfett ein. Dann setzt sie sich an den großen Tisch im Esszimmer, an dem sonst alle Bewohner der Casa Azul gemeinsam ihre Mahlzeiten einnehmen.
Seit ihrer Ankunft in La Paz hatte sie noch keine Gelegenheit, ihre sonst übliche Unterhaltung mit dem geliebten Tagebuch zu führen. Zu viele Ereignisse sind in dieser Zeit auf sie eingestürzt und sie hat nun allerhand nachzuholen. Clarissa legt sich das Tagebuch zurecht, zieht den inzwischen vertrockneten Füllfederhalter mit der von Heiko gestern mitgebrachten Tinte auf und legt in freudiger Erwartung auf das, was sie nun zu Papier bringen wird, los:
Liebes Tagebuch, es ist so viel passiert, seit ich die vorangehenden Seiten geschrieben habe. Es war Lissys fünfter Geburtstag, der Tag, an dem wir endlich in Arica von Bord der MN Conte Biancamano gingen, oder, besser gesagt, von starken Matrosenarmen in die wild umhertanzenden Ruderboote getragen wurden. Ich war erstarrt vor Schrecken und Angst. All das kommt mir auch heute noch wie ein aufbrausender Traum vor, von dem ich erst wieder allmählich erwachte, als wir endlich an Land waren. Dann kam die Aufregung wegen der Verladung des ganzen Gepäcks. Oliver hatte zwar bemerkt und mir zugerufen, dass einer unserer Schiffskoffer ins Wasser gefallen sei, doch ich nahm das erst in der Zollhalle wahr. Zur Besinnung kam ich erst wieder, als wir endlich im fahrenden Zug waren.
Dann, mitten in der Nacht, das entsetzliche Entgleisen der Lokomotive. Der arme Lokführer kam dabei ums Leben. Schließlich die schlimmen, endlosen Wartestunden in der Wüstenhitze, ohne Wasser und ordentliches Essen! Ich kann mir nicht helfen, mir kam doch der Gedanke, dass die bösen Geister, vor denen wir aus Deutschland geflohen waren, uns noch weiter verfolgten. Offensichtlich hat Klein Lissy, Gott sei Dank, die Strapazen ohne seelische und körperliche Kratzer überstanden, leider aber nicht unser lieber Oliver, der unterwegs ganz plötzlich von starken Bauchschmerzen, Durchfall und hohem Fieber befallen wurde. Ich bin Dr. Blumberger ewig dankbar dafür, dass er uns in der Not half. Er riskierte dabei so manches, da er ja hier noch nicht als Arzt zugelassen ist! Ich kann nur hoffen, dass niemand ihn verpetzt.
Jedenfalls besuchte uns schon am Morgen nach der Ankunft der Arzt Dr. Salomon – von dem ich etwas später erfuhr, dass er zum damaligen Zeitpunkt ebenfalls noch keine bolivianische Zulassung hatte. Dieser untersuchte Oliver und stellte die Diagnose, der Junge leide unter akuter Blinddarmentzündung und müsse umgehend operiert werden. Er verständigte daraufhin sofort die Klinik des Chirurgen Dr. Aparicio in der Avenida Arce. Heiko und Josef, der inzwischen auch schon etwas Spanisch spricht, verhandelten mit der Klinik, in die Oliver zwei Tage später eingeliefert wurde, wo er am darauf folgenden Tag seinen Blinddarm nebst zwei weiteren Drüsen, die den Operateuren auffällig erschienen, opferte. Mein armer Liebling litt noch während einer weiteren Woche unter den Operationsschmerzen, aber wenigstens waren sowohl das Fieber als auch der hartnäckige Durchfall besiegt.
Nachdem Oliver vom Krankenhaus zurück nach Hause gekommen war, brauchte er noch etwa zwei Wochen, um sich von dem schweren Eingriff zu erholen. Er war vollkommen abgemagert und musste erst wieder zu Kräften kommen. Langsam kehrte auch etwas Farbe in seine blassen Wangen zurück. Lissy und er verstehen sich prima und spielen unbeschwert miteinander. Die Sackgasse, der Callejón Ecuador, in der sich unsere Casa Azul befindet, wird kaum von Autos befahren, und so sind die Kinder an der Luft und unter der zumeist scheinenden Sonne ungefährdet. Inzwischen haben Frau Adriáns Sohn, der ein Jahr jüngere Pirulo, Lissy und Oliver nähere Bekanntschaft gemacht und Freundschaft geschlossen und die drei Kinder spielen auch öfter im Garten des Hauses. Erstaunlich ist, dass Oliver und Lissy jeden Tag mit neuen spanischen Wörtern nach Hause kommen – erfreulich, wie sie diese im Fluge aufnehmen.
Unser jetziges Zuhause teilen wir mit einem Dutzend weiteren, ebenso wie wir hier gestrandeten Leuten. Dieses geräumige Blaue Haus, das Josef uns so großzügig kostenlos zur Verfügung stellt, umfasst acht unterschiedlich große Zimmer, wovon der größte und zentrale Raum, der einerseits direkt mit der Küche verbunden ist und dessen lang gezogene Front zum Innenhof zeigt, uns allen als Speisesaal dient. Unsere Mitbewohner sind durchweg von Hitlers Rachsucht kunterbunt zerstreute Menschen, von denen wir als einzige die ungarische Familie Samuel, Ruth und Moses Kovacs bereits aus Oldenmoor kennen. Auch ihnen half letztlich Josef, aus Nazi-Deutschland zu entkommen, und bot ihnen hier als Erstes diese Unterkunft.
Inzwischen ist es Schuhmacher Kovacs gelungen, eine Arbeitsstelle an der Ledernähmaschine beim Koffermacher Freudenthal zu bekommen, worüber er natürlich sehr glücklich ist. Mein ehemaliger Grundschüler, sein Sohn Moses, ist jetzt sechzehn Jahre alt, besucht die Tertia an einem staatlichen Gymnasium, hat ziemlich rasch Spanisch gelernt und kommt gut im Unterricht mit. Er ist zu einem hübschen jungen Mann herangewachsen und die Eltern können stolz auf ihn sein. Auch seinen besonders geliebten Geigenunterricht durfte er dank einer glanzvoll bestandenen Aufnahmeprüfung am Conservatorio Nacional de Música, das ihm daraufhin ein Stipendium gab, wieder aufnehmen. Wir hören ihm gern zu, wenn er auf dem Hof stundenlang seine Etüden übt.
Dann ist da das Ehepaar Sturm aus Nürnberg. Max ist Jude, seine Ehefrau Elfriede katholisch. Sie folgte ihm freiwillig ins Exil, als man von ihr verlangte, sie solle sich doch „von dem Juden scheiden lassen“. Man merkt ihr aber an, dass sie unter den jetzigen Umständen seelisch leidet. Bis wir hier eintrafen, hat sie in der Küche gewirkt, angeblich war man aber mit den von ihr zubereiteten Speisen nicht sehr zufrieden. Obwohl ein wenig polterig, ist der ziemlich korpulente Max doch eigentlich sympathisch, wären da nicht die übel riechenden Zigarrenstumpen, die er gelegentlich raucht. Wir mussten ihn deshalb bitten, dies entweder auf dem Hof oder auf der Straße vor dem Hause zu tun.
Ehepaar Jakob und Sara Kahn mit den beiden Kindern Thea (13) und Alfred (ebenso alt wie Oliver) sind aus Gera in Thüringen geflüchtet und bewohnen zwei Zimmer. Beide Kinder besuchen die hiesige jüdische Schule. Herr Kahn ist für Josef als fleißiger Vertreter tätig und verkauft in der Stadt die landwirtschaftlichen Erzeugnisse der Hacienda, denn gut sortierte Lebensmittelläden wie bei uns in Deutschland gibt es hier nicht. Die benötigten Esswaren kauft man hier entweder auf dem Mercado – Markt – oder in kleinsten, dunklen Tiendas, das sind Gewölbe, in denen Indiofrauen nebst einigen wenigen Konservenbüchsen nur die hier üblicherweise vorhandenen Erzeugnisse feilhalten. Die Immigranten sind froh, wenigstens ab und zu ihnen von zu Hause bekannte Gemüsearten wie Rot- und Weißkohl, grünen Salat, Gurken, Radieschen, Schnittlauch und Rote Beete, aber auch frische Butter und Eier sowie Weißkäse, Quark und Buttermilch angeboten zu bekommen. Gelegentlich gibt es bei Herrn Kahn sogar frisch geschlachtetes Kaninchen- oder Kalbfleisch zu kaufen.
Ein kleineres Einzelzimmer wird von dem pausenlos Zigaretten rauchenden Herrn Ullmann bewohnt, ein kauziger Mathematiker aus Marburg, der felsenfest