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nur noch ein düsteres Blau, und insbesondere die älteren Leute, die nicht mehr richtig hören konnten, bemerkten die herannahenden Züge oftmals zu spät. Und die Jüngeren sprangen manchmal aus den Zügen, bevor diese überhaupt in den Bahnhof eingefahren waren, oder sie verließen den Zug auf der falschen Seite. Kein Wunder, wenn man nichts mehr richtig sehen konnte. Kamen jene Menschen hinzu, die leichtfertig die Gleise überquerten, um eine Abkürzung zu nehmen. Ganz zu schweigen von denen, die Selbstmord begingen.

      Albert stöhnte auf. »Ja, so ’n S-Bahn-Zug ist schon ’n richtiges Mordinstrument geworden. Ich warte nur noch auf die Sekunde, wo wir mal einen erwischen.«

      »Beschrei’s mal nich!«, warnte Karl-Heinz. Alberts größte Angst aber war, dass sich Emmi einmal das Leben nehmen würde, sich vor seinen Augen von der Bahnsteigkante löste, um in den Tod zu springen. Nicht nur, dass sie ihren Bruder schon ins KZ gebracht hatten, auf ihre beiden jüdischen Freundinnen wartete noch Schlimmeres. Er kam mit seinen Zügen mehrmals in der Woche an den Bahnhöfen vorbei, auf denen sie die Transporte zusammenstellten.

      Mit Karl-Heinz konnte man reden. Schon ihre Eltern hatten sich gekannt. Aus der Arbeitersportbewegung, dem ASV Fichte Berlin, der zur Kampfsportgemeinschaft Rot-Sport gehört hatte und 1933 aufgelöst worden war.

      »Wie soll das bloß mal enden?«, fragte Albert.

      »Det se uns alle so zermantschen, wie ick die Mücke hier!« Karl-Heinz machte es ihm vor. »Entweder die Nazis selber oder die Alliierten, weil wa für die alle Nazis sind. Ooch, wenn wa in Wahrheit keene sind. Wie soll ’n die det aus’nanderhalten, wenn se da oben in ihre Maschine sitzen?« Er zeigte zum Himmel hinauf.

      Albert musste sehen, dass er wieder auf andere Gedanken kam. »Was gibs’n für neue Witze?«

      »Sechs Monate KZ.« Sie lachten, und Albert sagte, dass ihm, wenn er an diese Reaktion denke, immer das Experiment mit dem Frosch einfiele.

      »Welchet mit ’m Frosch?«

      »Na, sie setzen ihn in einem Labor in einen großen Topf mit Wasser, stellen den auf eine Herdplatte und schalten die ein. Der Frosch könnte schon noch herausspringen und sich retten, aber er will mal sehen, wie lange er es in dem immer heißer werdenden Wasser aushalten kann …«

      »Und?«

      »Er passt sich den veränderten Verhältnissen so gut an, dass er schließlich verdampft.«

      Sie schwiegen, weil sie beide fühlten, dass sie eigentlich viel zu wenig taten, um die Dinge aufzuhalten. Ganz im Gegenteil.

      Albert musste sich auf das Bremsen konzentrieren.

      360 Tonnen aus 80 Kilometern in der Stunde auf den Meter genau ruckfrei zum Halten zu bringen, das erforderte schon eine ziemliche Meisterschaft. Kein Fingerspitzengefühl, obwohl die Hand das Führerbremsventil zu betätigen hatte. Das richtige Bremsgefühl saß im Hintern. Je nachdem, wie man mit dem auf dem Sitz ins Rutschen kam, hatte man das Bremsen zu dosieren. Und das war jedes Mal anders und hing davon ab, ob die Schienen trocken oder glitschig waren, ob man nur wenig Fahrgäste in den Abteilen hatte oder ganze Menschentrauben.

      Albert schaffte es in dieser Nacht nicht immer, genau am weißen H auf schwarzem Grund zu halten, dazu war das Licht zu schlecht, die Haltetafel oftmals nur zu ahnen.

      »Kampf der Neger im Tunnel«, sagte Karl-Heinz. Schlesischer Bahnhof, Warschauer Straße, Ostkreuz, Rummelsburg. Es war eine monotone Fahrt durch die Nacht, und sie wurden immer müder.

      Als sie am Betriebsbahnhof Rummelsburg hielten, warf Albert einen Blick nach links, wo sich das Laubengelände weit nach Karlshorst und Friedrichsfelde zog. Ob Emmi schon schlief? Oder wieder nicht einschlafen konnte. Aus Angst vor dem Tier, das um die Laube schlich. Aus Angst, dass Berthold erschossen wurde. Aus Angst vor den Bomben. Er fragte Karl-Heinz, was denn nun die neuesten Witze seien.

      »Der Führer kommt in ’ne Stadt, und kleene Mädchen steh’n da, mit Blumen inne Hand. Eene aba is dabei, die hält dem Führer ’n Grasbüschel hin. ›Was soll ich denn damit tun?‹, fragt Hitler.

      ›Essen‹, antwortet die Kleene.

      ›Wieso denn das?‹

      ›Weil die Leute jeden Tag sagen: Erst wenn der Führer ins Gras beißt, kommen bessere Zeiten.‹«

      Von den Witzen wechselten sie zum Fußball über und schwärmten vom 3:2-Sieg ihres 1. FC Neukölln über Tennis Borussia, ohne sich einigen zu können, ob sich dieses historische Ereignis nun 1931 oder 1932 zugetragen hatte.

      »Jedenfalls hieß der Torwart von Tennis Butterbrodt.«

      »Und unser Mittelstürmer Skorzus.«

      »Skorzus mit seinem Torschuss.« Vor ’33, vor dem Krieg. Alles Leben zerfiel für sie in die Zeit davor, die immer mehr etwas Paradiesisches gewann, und das Jetzt, das immer mehr zum Alptraum wurde.

      »Die englischen Flieger sollen jetzt sogenannte Brandplättchen einsetzen«, sagte Albert. »Die werden abgeworfen und fangen Feuer, wenn sie mit Sauerstoff in Berührung kommen. Stichflammen von einem Meter Höhe.«

      »Die Fahne hoch, die Reihen fest geschlossen«, sagte Karl-Heinz und sprach dann davon, wie er noch Karriere bei der Deutschen Reichsbahn machen wollte. Vom Betriebsarbeiter im Bw Rummelsburg hatte er es über den Aushilfsschaffner bis zur Planstelle als Triebwagenschaffner gebracht. »… ’45 mach ick dann ’n Führerlehrjang …«

      »Wenn du vorher nicht eingezogen wirst«, kommentierte Albert. Er war denselben Weg gegangen, hatte aber jede freie Minute genutzt, um sich selber fortzubilden. Seine Großmutter kam aus einem sozialdemokratischen Arbeiterbildungsverein und hatte ihm den Floh Diplom-Ingenieur in den Kopf gesetzt. »Wenn der braune Spuk vorbei is, dann studierste.«

      Sie erreichten Erkner, und Albert war so unkonzentriert, dass er fast den Prellbock gerammt hätte. Er erschrak. Wenn das passiert wäre, hätten sie ihm womöglich noch Sabotage unterstellt und ihn ins KZ gebracht. Er wusste, dass seine ganze Sippe auf der Abschussliste stand.

      Albert zog den Fahrschalterschlüssel ab und griff sich seine abgewetzte schwarze Aktentasche. Sie hatten jetzt ein paar Minuten Pause, um sich ein wenig die Beine zu vertreten, pinkeln zu gehen und sich dann im Führerstand am anderen Ende des Zuges auf die Rückfahrt einzurichten.

      Um 23 Uhr 14 bekamen sie den Abfahrauftrag. Erkner, Wilhelmshagen, Rahnsdorf, Friedrichshagen, Hirschgarten, Köpenick, Wuhlheide, Karlshorst … und so weiter. S-Bahn-Fahrer sein, das war wie Rosenkranzbeten. »Da musste ’n Jemüt ham wie ’ne Weihnachtsgans«, wie Karl-Heinz immer wieder betonte.

      Sie kamen auf ihr großes Idol zu sprechen, Hanne Sobeck von Hertha BSC.

      »Weeßte noch, wie se det erste Mal Deutscha Meista jeworden sind: 1930, det 5:4 jegen Holstein Kiel in Düsseldorf.«

      »Ja, und wie der Sobeck erzählt hat, was er zu Hause immer für Keile von seinem Vater bekommen hat … Da hat mein Vater mich auch noch mal tüchtig verdroschen, obwohl ich schon fast zwanzig war. ›Solange du noch deine Beine unter meinem Tisch hast …‹«

      »Meina imma mit ’m Siebenstriemer …« Das war eine Hundepeitsche. »Bis ick jeblutet habe wie ’ne Sau.«

      Albert schwieg. Wer seine Kinder schlug und wer als Kind geschlagen wurde, der erschlug auch Menschen. Er wusste es: Das Mördertier, das steckte auch in ihm. Wie in allen Männern. Die Frage war allein, ob man stark genug war, es zu bändigen. Nein, ob andere einen dazu brachten, es rauszulassen.

      »Friedrichshagen.« Hier hielten sie immer ein paar Sekunden länger, weil Karl-Heinz ein wenig Süßholz raspeln musste. Sie hieß Elisabeth Bendorf, und Albert neckte seinen Schaffner des Öfteren mit dem schönen Schlager: »Wenn die Elisabeth nicht so schöne Beine hätt …« Betti saß zwar unten am Fahrkartenschalter, kannte aber ihren Umlaufplan und kam schon mal eben schnell nach oben auf den Bahnsteig, wenn sie in Friedrichshagen hielten. Heute Nacht aber war sie ein paar Sekunden zu spät. Karl-Heinz sah sie nur schemenhaft im Abgang auftauchen,

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