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eine halbwegs ruhige Insel gefunden hatten, stellte sich heraus, dass das Fräulein nur noch humpeln konnte.

      »Wie soll ich denn so nach Hause kommen?«, fragte sie.

      »Wir tragen Sie hin«, versprach ihr Berthold Kempinski, den die Kleine, sechzehn mochte sie sein, gehörig dauerte. »Wo kommen Sie denn her?«

      »Aus Leibzsch.«

      »Das dürfte ein bisschen weit sein. Aber dass Sie aus Leipzig stammen, hätte ich nie vermutet.«

      »Nu, door säggs’sche Dialeggd iß iwwerall ä bisschen andorsch. Mier mergn glei, wenn eener aus Drehsden oder aus Leibzsch gommd. Wie in Leibzsch so schbrichd morr ooch inn Worrzn, Grimme unn ooch in Borrne. Schon in Eilnborch unn ooch in Dorche gamorr gee G schbrechn. Doord gibbds dorrfohr ä J.«

      Alles lachte schallend, und sie erklärte, dass in Leipzig zwar ihr Elternhaus stünde, sie aber durch mehrere Zufälle bei einem Arzt in der Berliner Straße gelandet sei. »Hier in Breslau. Als Dienstmädchen.«

      »Dann ist das mit dem Tragen ja wirklich kein Problem«, sagte Leopold Leichholz. »Wenn wir die Neue Oderstraße Richtung Bahnhof hochgehen, sind wir gleich an der Berliner Straße. Passen Sie mal auf, Fräulein …«

      »Hess, Helene Hess.«

      »Wieso Hässlich?«, fragte Berthold Kempinski, sie bewusst miss verstehend. »Sie müssten doch eigentlich Schön heißen, Helene Schön, die schöne Helene.«

      »Sie können aber Gommblemännde machen.«

      »Nicht nur das…«

      Schon war er dabei, seine Hände mit denen von Witold Klodzinski zu verschränken, so dass sich für das Fräulein ein schöner Sitz ergab. So zogen sie denn los. Leichholz, der für solche Transporte zu schwächlich war, wies ihnen den Weg.

      Die Familie des Arztes war schon tüchtig am Feiern, der Doktor fand aber noch Zeit, den schon dick angeschwollenen rechten Fuß des Mädchens zu versorgen. Anschließend lud er die drei jungen Männer ein, mit ihm und seinen Gästen zu feiern. Sie sagten nicht nein, zumal es hieß, der Champagner sei schon kalt gestellt.

      Caspar Sprotte war 1840 in Berlin als Sohn eines Schauspielers zur Welt gekommen und hatte mit heißem Bemühen Malerei und Baukunst studiert, ohne aber von den anderen als das Genie wahrgenommen zu werden, als das er sich selber sah. Auch seine Romane und Gedichte hatten nie einen Verleger gefunden. Schließlich war er in die Fußstapfen seines Erzeugers getreten und versuchte sich nun nach zwei Jahren an einer mittelmäßigen Schauspielschule als gehobener Statist an den Bühnen der preußischen Provinz. So hatten all die Großen einmal angefangen, und es gab schlechtere Plätze als Breslau und geringere Rollen als den Pförtner in Shakespeares Macbeth. Elend war das Leben eines Bohemiens in den Zeiten kaiserlichen Glanzes, aber Sprotte genoss es dennoch.

      Vor der nächsten Probe saß er in der Kantine des Breslauer Stadttheaters am Exerzierplatz und memorierte seinen Text. »Das ist ein Klopfen! Wahrhaftig, wenn einer Höllenpförtner wäre, da hätte er was zu schließen. Poch, poch, poch: Wer da! In Beelzebubs Namen? Ein Pächter, der sich in Erwartung einer reichen Ernte aufhing…«

      Das ging. Wenn er nur etwas zu trinken gehabt hätte! Bei seiner geringen Entlohnung war er gezwungen, sich zwei Stunden an einem Schoppen Wein festzuhalten.

      Als er sein Glas bis auf den letzten Tropfen geleert hatte, lechzte er geradezu nach einem frischen Trunk, und just in diesem Augenblick kam ein Mann mit einem großen Korb voller Weinflaschen vorüber.

      »Wein her!«, rief Sprotte. »Wein her, Burschen!/Stoßt an mit dem Gläselein, klingt! klingt!«

      »Bravo«, rief der Mann mit den Weinflaschen. »Shakespeare, Othello, II. Akt, 3. Szene.«

      »Ihr Bravo retour!« Da Sprotte im Gegensatz zu dem anderen seine Hände frei hatte, konnte er anhaltend klatschen. »Welche Bildung bei einem Boten!«

      »Das hing bei meinem Vater im Bureau. Wir sind eine alte Weinhändlerfamilie.«

      »Wir haben auch mit Weinen zu tun, mit Lachen und Weinen.«

      »Sie sind hier im Engagement?«

      »Erraten.« Sprotte rückte einen zweiten Stuhl zurecht. »Setzen Sie sich doch.«

      Man stellte sich vor, und Caspar Sprotte erfuhr, dass der andere Berthold Kempinski hieß und kein simpler Bote war, sondern Kompagnon des Weinhauses M. Kempinski & Co., das auch Lieferant der Theaterkantine war, und außerdem Absolvent des bekannten Gymnasiums in Ostrowo. Sie kamen schnell ins Gespräch.

      »Wie fühlen Sie sich hier?«, fragte der Schauspieler.

      »Gemessen an Raschkow und Ostrowo erscheint mir Breslau wie eine strahlende Residenz«, antwortete Berthold Kempinski.

      »Ach, Bres is lau. Leben lässt sich’s nur in Berlin.« Er hätte fast seine Probe verpasst, so sehr geriet er ins Schwärmen. Ein Assistent holte ihn schließlich.

      »Schade«, sagte Berthold Kempinski. »Wann kann man Sie denn auf der Bühne erleben?«

      »Nächsten Monat ist Premiere.« Sprotte schielte auf die Weinflaschen. »Wir können ja tauschen: Eine Flasche Wein gegen eine Theaterkarte.«

      »Zwei Flaschen gegen zwei Karten.«

      »Gut. Machen wir.«

      Die Jüdische Gemeinde zu Breslau wuchs von Jahr zu Jahr. Hatte man 1850 an die 7200 Bürger mosaischen Glaubens gezählt, so sollten es 1900 schon mehr als 19 000 sein. Und so erwarb die Jüdische Gemeinde im Südosten der Schweidnitzer Vorstadt ein 4,6 Hektar großes Areal, das Raum für zwanzig Gräberfelder bot. Im November 1856 konnte dort das erste Begräbnis stattfinden.

      Moritz und Berthold Kempinski gingen über diesen »Ort des Lebens« und suchten das Grab ihres Kunden Salomon Auerbach, dessen Sarg sich letztes Jahr in die Erde gesenkt hatte.

      »Der Ewige gab, der Ewige nahm; es sei der Name des Ewigen gepriesen!« Mit der ihm eigenen Ernsthaftigkeit zitierte Moritz Kempinski Hiob 1, Vers 21.

      Berthold Kempinski lachte und dachte an die Kria. »Nicht so feierlich, sonst zerreiße ich mir noch meine Kleider!« Für die nahen Verwandten des Verstorbenen war das fest vorgeschrieben. Damit sollte der Schmerz nach außen hin sichtbar gemacht werden. Der Riss in den Gewändern symbolisierte den Riss im Herzen.

      Moritz Kempinski simulierte weiterhin den Gang von der Trauerfeier zum Grabe, der mehrmals unterbrochen wurde, um die Mühsal dieses Weges anzuzeigen, und rezitierte den Anfang des 91. Psalms: »Wer in dem Schutze des Höchsten sitzet, der ruhet im Schatten des Allmächtigen. Ich spreche zum Ewigen: Meine Zuflucht und meine Burg, mein Gott, dem ich vertraue. Denn er wird dich retten von der Schlinge des Vogelstellers.«

      »Das tut ja nun in Breslau weniger not«, kam Berthold Kempinskis Zwischenruf.

      Der Bruder sah ihn tadelnd an. »Treib aus den Spötter!« Das war aus den Sprüchen Salomos, und weil er viele von denen auswendig kannte, fügte er noch hinzu: »Mancher kommt zu großem Unglück durch sein eigen Maul.«

      »Du, ich bin da die große Ausnahme: Mein Maul ist mein größtes Kapital und Glück. Ich unterhalte die Leute damit, ich sorge dafür, dass sie sich amüsieren – und sie danken es mir. So sind wir alle glücklich.« Berthold Kempinski hatte es in all den Jahren in Breslau gelernt, den Aggressionen des Bruders mit einem entwaffnenden Humor zu begegnen.

      Der Bruder sah ihn böse an. »Ich möchte dir heute nicht bei uns am Abendbrottisch gegenübersitzen.«

      »Da brauchst du nichts zu befürchten, ich gehe heute Abend ins Theater.«

      Helene Hess kam aus einfachen Verhältnissen, ihr Vater war Rangierer bei der Königlich Sächsischen Eisenbahn in Leipzig und ihre Mutter Beiköchin in einem Gasthaus in der Nähe des Bayerischen Bahnhofs, und wie alle Mädchen ihres Standes träumte sie davon, einmal in die höheren Kreise einzuheiraten. Und ein Weinhändler mit einem Geschäft am Ring zählte ganz sicher dazu.

      Vor

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