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lassen sich die Grundbedürfnisse des menschlichen Lebens bald nicht mehr decken. Wenn Geld schließlich dazu verwendet wird, Geld zu machen, zum Beispiel durch Währungsspekulation, dann wird sein Wert so unsicher, dass es nicht mehr als Tauschmittel verwendet werden kann; so werden Unternehmen lahmgelegt und Wirtschaftskrisen generiert. Heute müssen wir eine vierte fiktive Ware hinzufügen: das Wissen, einen Produktionsfaktor, der nicht nur ein wesentlicher Bestandteil der modernen Wirtschaft, sondern für die Produktion der anderen drei Faktoren entscheidend ist.

      Wie haben fiktive Waren daran teil, dass die gelebte Erfahrung der Vermarktlichung in spezifischer Weise geprägt wird? Inwiefern trägt die Kommodifizierung von Arbeit, Boden, Geld und Wissen zu sozialen Bewegungen bei? Polanyi weist darauf hin, dass der Tauschakt selbst gegen das Wesen von Boden, Geld und Arbeit verstößt. Menschenhandel oder Handel mit menschlichen Organen können solche Abscheu hervorrufen, dass es zu sozialen Bewegungen kommt. Aber das werden wahrscheinlich keine Bewegungen derjenigen sein, die Opfer von Menschenhandel sind oder die ihre Organe verkaufen. Alternativ können soziale Bewegungen eine Antwort auf die Aufhebung von Schutzmaßnahmen gegen Kommodifizierung sein, etwa wenn Sozialleistungen gekürzt, den Gewerkschaften ihre Vertretungsrechte entzogen, Arbeitsrechte verletzt oder zurückgenommen werden.

      Es gibt jedoch auch andere Methoden, den Bewegungen Antworten auf die Kommodifizierung zuzuschreiben, die sich vom Tauschprozess unterscheiden. Polanyi geht kaum auf die Prozesse ein, durch die Dinge in Waren verwandelt werden, Prozesse, bei denen die Ware aus ihrer sozialen Hülle entbettet wird. Marx hatte mit seiner „ursprünglichen Akkumulation“ die Landenteignung im Blick, die zur Schaffung einer von Lohnarbeit abhängigen Erwerbsbevölkerung führte. Heute ist die Enteignung der bäuerlichen Landbevölkerung dazu bestimmt, Land zu kommodifizieren, statt abhängige Arbeitskräfte zu schaffen. Worin auch immer ihr Ziel bestand, die Landenteignung hat viel entschlossenen Widerstand hervorgebracht. Die Enteignung handwerklichen Wissens hat historisch gleichfalls sehr viel Protest ausgelöst. Heute geht es jedoch nicht nur um die Dequalifizierung der Arbeitskräfte, sondern um die Aneignung und Kommodifizierung des Produkts, nämlich des Wissens selbst. Bei der Privatisierung der Universitäten zum Beispiel umfasst die Enteignung die Umwandlung des Wissens aus einem öffentlichen Gut in marktfähiges Kapital. Auch dies ist eine Ursache für so manchen Protest.

       Fiktive Waren als Quellen sozialer Bewegungen

Ungleichheit
Exkommodifizierung ARBEIT (Prekarität)
Kommodifizierung GELD (Schulden)
Enteignung
Exkommodifizierung NATUR (Zerstörung)
Kommodifizierung WISSEN (Privatisierung)

      Neben der Enteignung, die die Ware hervorbringt, ist die zunehmende Ungleichheit, die aus der Kommodifizierung folgt, eine Quelle sozialer Bewegungen. So ist beim Verkauf der Arbeitskraft „Prekarität“ zur beherrschenden Erfahrung wachsender Bevölkerungsanteile geworden. Die Kommodifizierung der Arbeitskraft ist durch die Kommodifizierung des Geldes noch verschärft worden, bei der Geld aus Geld gemacht wird, indem man mit den Schulden spekuliert.

      Ein weiterer Prozess, den Polanyi übersah, ist zu nennen: die Exkommodifizierung, die Ausscheidung von Dingen aus dem Markt, die früher Waren gewesen, es jetzt aber nicht mehr sind. Exkommodifizierung greift den Gedanken auf, dass es Unmengen nützlicher Dinge gibt, die zu ihrem Nachteil vom Markt ausgeschieden werden. Angesichts der Exkommodifizierung kann Kommodifizierung eine sehr attraktive Perspektive sein. In Bezug auf Arbeit machen die überzähligen Arbeitskraftreserven, die auf der ganzen Welt zunehmen, es zu einem Privileg, ausgebeutet zu werden. Riesige Populationen werden ins Exil getrieben oder auf den informellen Sektor der Wirtschaft beschränkt, wo sie ihr Dasein von der Hand in den Mund fristen. In Bezug auf die Natur führt ihre Einbeziehung in die kapitalistische Wirtschaft zu Verschwendung, aber oft ist auch die Abwesenheit des Marktes für ihre Unterbewertung verantwortlich. Wir können die Natur ausplündern, weil ihr Marktwert unbedeutend ist. Ganz anders verhält es sich mit Wissen und Geld, wo die Kommodifizierung nicht zu Verschwendung führt, sondern zu einer verzerrten Anwendung: Die Produktion von Wissen wird auf diejenigen abgestellt, die es bezahlen können, während die Produktion verschiedener Geldmittel dazu verwendet wird, aus Schulden Gewinn zu erzielen.

      Über die Merkmale der fiktiven Waren hinaus ist es wichtig, ihre Wechselbeziehungen in bestimmten historischen Kontexten zu untersuchen. Soziale Bewegungen müssen nicht als Reaktion auf die (Ex-)Kommodifizierung einer einzigen fiktiven Ware begriffen werden, sondern als Reaktion auf die Verbindung der (Ex-)Kommodifizierung von Arbeit, Geld, Natur und Wissen. So zeigte sich im Arabischen Frühling die Überschneidung der Prekarisierung von Arbeit mit der Verschuldung durch Mikrokredite als Protestmotiv; Studierendenproteste können in Bezug auf die Prekarisierung der Arbeit und die Privatisierung der Wissensproduktion untersucht werden; Umweltbewegungen liegen an der Schnittstelle von Zerstörung oder Kommodifizierung der Natur und Prekarisierung von Arbeit. Dieses Gerüst fiktiver Waren ermöglicht es, die Triebkräfte in den Blick zu nehmen, die Protesten zugrunde liegen. Die Verbindung der (Ex-)Kommodifizierung der fiktiven Waren kann außerdem verwendet werden, um historische Perioden der Vermarktlichung zu unterscheiden und zu verstehen.

       Polanyi dachte, wir würden mit Marktfundamentalismus nie wieder experimentieren

      In Wahrheit verwendet Polanyi wenig Aufmerksamkeit auf fiktive Waren, er ist stärker damit beschäftigt, seine majestätische Geschichte zu entwickeln. Diese beginnt mit dem Fortschritt der Vermarktlichung am Ende des 18. Jahrhunderts und endet in den 1930er-Jahren mit einer Gegenbewegung, die neue Formen der staatlichen Regulierung mit sich bringt: sowohl solche, die Freiheiten fördern, wie der New Deal und die Sozialdemokratie, als auch solche, die Freiheiten einschränken, wie Faschismus und Stalinismus. Die doppelte Bedrohung – für das Überleben der Gesellschaft und dann für die als Reaktion auf die Zerstörung der Gesellschaft verwüstete Freiheit – brachte Polanyi dazu zu glauben, dass die Menschheit nie wieder mit dem Marktfundamentalismus experimentieren würde. Er irrte sich. Ab 1973 kam eine neue Runde des Marktfundamentalismus in Gang, die weitreichende Folgen für die Geschichte des Kapitalismus und die Besonderheit der gegenwärtigen Zeitläufe hatte.

       Drei Wellen der Vermarktlichung und die Gegenbewegungen

      Im Rückblick auf die von Polanyi untersuchte Geschichte der kapitalistischen Gesellschaft und die Entwicklung seither kann man drei Wellen der Vermarktlichung ausmachen, jeweils mit der dazugehörigen realen oder (im Falle der dritten Welle) potenziellen Gegenbewegung. Mit Bezug auf die englische Geschichte – dem Schwerpunkt von Polanyis Analyse – kann man sagen, dass die erste Welle am Ende des 18. Jahrhunderts mit dem Speenhamland-Gesetz von 1795 beginnt, das zu einem Hindernis für die Entwicklung eines nationalen Arbeitsmarktes wurde, der sich erst mit dem neuen Armengesetz von 1834 herauskristallisieren sollte. Mit der Aufhebung des Speenhamland-Gesetzes und der Freisetzung der Marktkräfte setzten auch Gegenbewegungen ein, mit denen die Gesellschaft sich zu schützen suchte: die Bildung einer Arbeiterklasse vermittels der Fabrikbewegung, der Genossenschaften und Gewerkschaften, des Chartismus und der Gründung einer politischen Partei, Fabrik- und Sozialgesetze.

      Die zweite Welle der Vermarktlichung begann nach dem Ersten Weltkrieg mit einem erneuten Aufstieg des Marktes, der die Rekommodifizierung der Arbeit und die Öffnung des freien Handels auf der Grundlage des Goldstandards umfasste. Das funktionierte sehr gut für so mächtige Länder wie die USA und Großbritannien, aber für konkurrierende Länder wie Italien und Deutschland führten die Zwänge der starren Wechselkurse zu einem katastrophalen Rückgang der Wirtschaft und grassierender Inflation. Das führte dazu, dass sie mit der internationalen Wirtschaft brachen und sich einem rückschrittlichen System der Marktregulierung zuwendeten. Mit der Wirtschaftskrise, der nur durch Staatsintervention und (einer in diesem Fall fortschrittlichen) Marktregulierung entgegengewirkt wurde, fiel dies auf die USA und das übrige Europa zurück. Nach der Niederlage des Faschismus im Zweiten Weltkrieg setzten sich liberalere Regime durch. Auch in der UdSSR gab

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