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darauffolgenden Sonntagmorgen, dem 2. April 1795, hatte Steinhauser diese Angelegenheit wieder vergessen, denn die Vorbereitungen auf seinen Unterricht nahmen ihn voll und ganz in Anspruch. Sie fiel ihm erst wieder ein, als er die Unterprima betrat und Jahn nicht entdecken konnte, weder auf seinem angestammten Platz noch anderswo im Klassenzimmer.

      »Hat jemand Jahn gesehen?«

      »Nein.«

      »Wahrscheinlich ist er erkrankt.«

      Steinhauser war nicht beunruhigt, als Jahn aber auch am nächsten Tag nicht im Gymnasium erschien, ging der Lehrer doch zum Rektor, um ihn von der Abwesenheit des Schülers in Kenntnis zu setzen.

      Gedike war gar nicht wohl, als er das hörte. Hatte Jahn sich wirklich das Leben genommen, geriet der gute Ruf seiner Anstalt schnell in Gefahr. Und wie sollte er Jahns Vater beibringen, dass sein Sohn freiwillig aus dem Leben geschieden war? Aber noch war nichts bewiesen. »Forscht sofort bei seinen Wirtsleuten nach!«

      Nach Schulschluss machte sich Steinhauser also auf den Weg zur Stallschreibergasse. Dort angekommen, schienen sich seine schlimmsten Befürchtungen zu bestätigen.

      »Friedrich Ludwig hat am Sonntagmorgen das Haus verlassen und ist seitdem nicht wiederaufgetaucht. Wir dachten, dass er in der Schule übernachtet hat oder vielleicht nach Lanz zurückgegangen ist.«

      Man schickte mit der schnellsten Post einen Brief nach Lanz, aber aus der Prignitz kam die Antwort, dass Friedrich Ludwig dort nicht eingetroffen sei.

      »Los!«, entschied Gedike, als er das hörte. »Man sage dem Criminal-Commissarius Bescheid und lasse Jahn suchen!«

      Die Polizei fand nach längerer Suche Jahns Kleidungsstücke an der hölzernen Brücke über dem Floßgraben, die beim Volke Leichenbrücke hieß, weil viele Leichenwagen sie auf ihrem Weg zu den Friedhöfen außerhalb der Stadtmauern überquerten.

      »Wahrscheinlich konnte er das Schwimmen wieder einmal nicht lassen«, vermutete einer der Lehrer. »Er wird dabei ertrunken sein. Es ist auch noch viel zu kalt dazu.«

      »Ich befürchte eher, dass er sich ein Beispiel an Werther genommen hat«, sagte Steinhauser.

      »Ach was!«, ließ sich der Hebräisch- und Griechischlehrer Spalding vernehmen. »Der Kerl führt uns doch alle hinters Licht! Der hat den Freitod nur vorgetäuscht, damit endlich einmal alle von ihm reden.«

      Gedike wusste nicht, wem er recht geben sollte, denn alle Meinungen klangen plausibel. Erst am 8. Mai 1795, mehr als fünf Wochen nach Jahns Verschwinden, ließ er eine Anzeige in das Neue Berliner Intelligenzblatt setzen, in der er die Bevölkerung ersuchte, von dem etwaigen Auffinden des Leichnams ihm Anzeige zu machen. Gleichzeitig aber bat er Jahn, solle er noch am Leben sein, sich bei ihm zu melden. Er habe mit keinerlei Nachteilen zu rechnen.

      Friedrich Ludwig Jahn wanderte zu dieser Zeit durch die Mark Brandenburg. Zwar lief er westwärts, doch sein Ziel hieß keineswegs Lanz. Er wusste, dass seine Eltern sich um ihn sorgen würden, und es tat ihm leid, dass er ihnen solchen Kummer bereiten musste, aber er dachte immer nur im Sinne Martin Luthers: Hier gehe ich, ich kann nicht anders, Gott helfe mir, Amen! Er versuchte sein Handeln auch damit zu rechtfertigten, dass sein Vater ihn zum Besuch der Gymnasien in Salzwedel und Berlin gezwungen habe. Was hasste er diese Schulkasernen! Dort durfte er nicht selbst denken und sich nicht aussuchen, was er lernen wollte. Stattdessen bekam er wie mit einem Trichter den Stoff in den Kopf gefüllt, den sich die Herren Lehrer willkürlich ausgesucht hatten. Aber jetzt war er endlich frei! Und wenn er auch nicht viel Griechisch gelernt hatte, so wusste er doch, was ἀναρχία, mit lateinischen Buchstaben anarchia geschrieben, bedeutete: die Herrschaftslosigkeit. Jahn fühlte sich schon im Jahre 1795 als Aufrührer, was er aber streng genommen gar nicht war, da er das Königreich Preußen und den Staat als solchen nicht in Frage stellte.

      Ganz auf sich gestellt konnte er in den Monaten April und Mai nicht überleben, denn auf den Feldern gab es noch nichts zu ernten und an den Bäumen und Sträuchern kein Obst zu pflücken. Auch besaß Jahn weder Gewehr noch Pfeil und Bogen, um ein essbares Tier zu erlegen. Also musste er sich immer wieder bei Bauern verdingen und im Stall und auf den Feldern helfen. Fragte man ihn nach dem Grund seiner Reise, dann gab er an, als Scholar unterwegs zu sein, als fahrender Student, und nannte stets einen anderen Namen, weil er annehmen musste, dass die Obrigkeit nach ihm fahndete. Nur einmal geriet er in eine brenzlige Situation, als er bei Tangermünde über die Elbe setzte und den Schiffer notgedrungen um das Fährgeld prellen musste. Er hatte nicht einmal die kleinste Münze in der Tasche, und durch den Strom zu schwimmen, wagte er nicht, denn dazu war das Wasser zu kalt. Er hatte mit der Elbe schon einmal schlechte Erfahrungen machen müssen.

      Eigentlich hätte er in diesen Wochen als freier Mann viel glücklicher sein müssen als zuvor am Gymnasium. Doch Jahn hatte schnell erkannt, dass ihn seine Wanderschaft vom Regen in die Traufe geführt hatte. Arm und einsam durch die Lande zu ziehen war nun auch nicht das wahre Leben. Jahn träumte davon, nach Amerika auszuwandern. Über die Pilgerväter hatte er viel gelesen, ebenso über den amerikanischen Unabhängigkeitskrieg, der 1775 seinen Anfang genommen hatte. Die dreizehn Kolonien von Massachusetts im Norden bis hinunter nach Georgia kannte er alle beim Namen, und er war davon überzeugt, dass sich die Vereinigten Staaten im nächsten Jahrhundert immer weiter ausdehnen würden, bis sie am Pazifik angekommen waren. Dort gab es weites Land, wo man frei leben konnte. In Amerika würde er Tiere in den Wäldern erlegen und Fische in Flüssen und Seen fangen. Aber Preußen war sein Vaterland und das Deutsche seine Muttersprache. Beides aufzugeben erschien ihm noch schlimmer als Fahnenflucht. Also würde er wohl hier bleiben, auch wenn er sich weiterhin nach Amerika sehnte. Angesichts dieser Zerrissenheit suchte er bisweilen Trost im Gebet, so zum Beispiel in einem Vers des 119. Psalms: Siehe, ich liebe deine Befehle; Herr, erquicke mich nach deiner Gnade.

      Eines Tages kam er – war es nun Zufall oder Gottes Wille – nach Hindenburg, einem kleinen Ort am Südrand der altmärkischen Wische. Zwanzig Kilometer südlich lag Stendal und sieben Kilometer östlich das Elbufer. Eine Weile musste Jahn darüber nachdenken, wann ihm der Ort Hindenburg schon einmal untergekommen war, dann fiel es ihm ein: Einer seiner Mitschüler aus der Salzwedeler Zeit war hier zu Hause gewesen, Georg Friedrich Roth, damals sein einziger Freund. Kurz entschlossen fragte er nach ihm.

      »Roth, so heißt unser Pfarrer«, erteilte man ihm Auskunft.

      Und richtig, als er am Pfarrhaus angeklopft hatte, öffnete ihm der alte Klassenkamerad die Tür. Er verbrachte gerade ein paar Ferientage bei seinen Eltern. Sie begrüßten sich freudig. Pfarrer Roth nahm Jahn gern bei sich auf, nachdem der ihm erzählt hatte, dass er auf dem Weg von Berlin nach Göttingen sei, um sich dort an der Universität einzuschreiben. »Früher wollte ich Advokat werden, aber nun möchte ich Theologie studieren, um das Erbe der Väter zu bewahren. Ich habe das Gelübde abgelegt, den ganzen Weg zu Fuß zurückzulegen, um Buße zu tun für alle meine Sünden.«

      »Das ist sehr löblich, mein Sohn! Du kannst gern ein paar Tage bei uns bleiben, um neue Kraft zu schöpfen.«

      Aus den wenigen Tagen wurden indes etliche Monate, denn kaum hatte sich Jahn in der ihm zugewiesenen Dachkammer häuslich eingerichtet, befiel ihn eine merkwürdige Krankheit. Zuerst fühlte er sich unsagbar matt und litt unter Kopfschmerzen und Verstopfung, dann begann sein Fieber in Stufen zu steigen, wobei sein Herz so langsam schlug, dass er fürchtete, es bleibe stehen. Auf der Haut begann sich rötlicher und in Flecken auftretender Ausschlag zu zeigen, und seine Zunge war auffallend grauweißlich belegt, nur die Spitze leuchtete rot. Das alles hätte den Pfarrer Roth und seine Frau nicht so sehr geängstigt, hielten sie die Symptome doch für die Anzeichen einer heftigen Influenza, wenn Jahn nicht plötzlich begonnen hätte zu phantasieren. »Der Wal kommt … die Elbe herauf … Ich nehme meine Lanze, denn ich komme aus Lanz … Ich bin ein Landsmann. Wehe denen, die Böses gut und Gutes böse heißen … Lieber Gott, mach mich fromm, dass ich in den Himmel komm!«

      »O Gott!«, rief Pfarrer Roth entsetzt. »Er hat das Nervenfieber. Georg Friedrich, wir müssen sofort anspannen und nach Salzwedel fahren, den Arzt holen.«

      Der Mediciner hatte bald eine Diagnose gestellt. »Es

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