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fünf Minuten später hallte ein Schreckensschrei durch die stille Steinthorstraße. Heinrich Dürzer lag zwei Tage lang mit einem Schock danieder.

      Als sich Alexander Friedrich Jahn auf den Weg zu seinem Sohn machte, war er recht frohgemut. Wolterstorff hatte ihm in einem Brief geschrieben, er möge baldmöglichst in Salzwedel vorbeischauen.

      »Sie werden den Jungen in die nächsthöhere Klasse stecken wollen«, hatte Dorothea Sophie beim Abschied zu ihrem Mann gesagt. »In die Quarta, wo Philipp schon ist.«

      »Das glaube ich auch. Irgendwann mussten sie in Salzwedel merken, dass unser Sohn allen überlegen ist.«

      So fiel er aus allen Wolken, als der Rektor nach ein paar einleitenden Floskeln zum Thema kam. »Der Grund, aus dem ich Euch, lieber Freund, nach Salzwedel gebeten habe, ist die Sorge um Friedrich Ludwig. Bitte, gebt ihn auf eine andere Schule! Er will hier nicht recht gedeihen.«

      »Wie?« Vater Jahn glaubte, nicht richtig gehört zu haben.

      Wolterstorff wollte den Pfarrer nicht verletzen und ihm deshalb nicht offen ins Gesicht sagen, dass man den Störenfried endlich loswerden wolle. Nur sehr verklausuliert und diplomatisch legte er dar, was ihn und das Kollegium bewegte. »Unser Schulalltag ist auf Ruhe und Ordnung ausgelegt, niemand darf abweichen vom festgelegten Pfad. Das entspricht jedoch nicht der Natur Eures Jungen. Sein Freiheitsdrang ist nicht zu bändigen, und er hat ein so ausgeprägtes Gerechtigkeitsgefühl, dass dem niemand Genüge tun kann, so leid es uns tut.«

      Alexander Friedrich Jahn konnte nun nicht mehr an sich halten. »Wozu sind Pädagogen denn da? Doch dazu, um Menschen wie meinen Sohn zu formen!«

      Nun wurde Wolterstorff doch deutlicher. »Das hat hier keiner geschafft. Euer Sohn reizt alle mit seiner Schroffheit und seinem trotzigen Geist. Er ist grüblerisch und macht die Lehrer mit seiner Rechthaberei rasend. Wenn ihm etwas gegen den Strich geht, fährt er sofort auf. Oft ist er derart überspannt, dass ich ihn in den Kerker verweisen muss.«

      »Soll ich Eure Worte als Consilium Abeundi verstehen?«, fragte Alexander Friedrich Jahn.

      »Ich bedauere sehr, dies bejahen zu müssen.«

      3

       Als Leiche im Schafgraben?

      1794 – 1796

      Die Berliner hatten gehofft, dass mit dem Tod Friedrichs II. bessere Zeiten für sie anbrächen. Doch der Neffe des verstorbenen Königs, der 1786 als Friedrich Wilhelm II. den Preußen-Thron bestiegen hatte, war auch nicht so recht nach ihrem Geschmack. Er wurde für einen Taugenichts gehalten und hieß im Volk bald »Der dicke Lüderjahn«. Der Alte Fritz hatte ihn als Dreijährigen zu sich ins Schloss geholt, um ihn erziehen zu lassen, den Neffen aber sehr zartfühlend behandelt, in der guten Absicht, die gestrenge Erziehung seines eigenes Vaters nicht zu wiederholen. Kurzum, sein Zögling entwickelte sich zu einem Lebemann und hatte schon früh mehrere Mätressen. Dann wurde er verheiratet. Von seiner ersten Frau ließ er sich bald wieder scheiden, und auch die Ehe mit der zweiten konnte nur als unglücklich bezeichnet werden. Friedrich Wilhelm II. hatte viele außereheliche Affären. Eine gewisse Wilhelmine Encke wurde zu seiner offiziellen Nebenfrau und entwickelte sich zu einer preußischen Madame de Pompadour. Die Berliner goutierten das, denn Skandal war immer noch das Süßeste, was sie aber störte, war die scheinbar zunehmende Verschrobenheit ihres Königs. Immer öfter tippten sie sich an die Stirn und sagten: »Der hat se ja nich mehr alle!« Grund dafür war der Okkultismus, dem sich Friedrich Wilhelm II. verschrieben hatte. Er war in den Bann des Ordens der Gold- und Rosenkreuzer geraten und eine Marionette der beiden Männer geworden, die dort das Sagen hatten: Johann Christoph von Woellner und Johann Rudolf von Bischoffwerder.

      Der Theologe Friedrich Gedike, den Alexander Friedrich Jahn in Berlin getroffen hatte, verfolgte diese Entwicklung mit großer Sorge. Mit Woellner stand er auf Kriegsfuß. Der hatte schon einmal behauptet, Gedike lehre die jungen Leute, sie sollten nicht an Jesus Christus glauben und nicht zum heiligen Abendmahl gehen, denn er selbst tue das auch nicht. Das war 1785 gewesen. Der Alte Fritz hatte Woellner daraufhin »einen hinterlistigen und intriganten Pfaffen« genannt und es abgelehnt, ihn in den Adelsstand zu erheben. Nun aber war Woellner unter Friedrich Wilhelm II. aufgestiegen zum Staats- und Justizminister und Chef des geistlichen Departements. Gedike, der 1793 die Leitung des Gymnasiums zum Grauen Kloster übernommen hatte, musste sich vor ihm in Acht nehmen, wollte er die Schule nicht noch weiter gefährden. Gerade eben hatte Friedrich Wilhelm II. erklärt, Gedike gehöre zu den Aufklärern, die er nicht mehr lange dulden werde.

      »Wohin soll das nur führen?«, fragte Gedike seufzend, als er mit einem seiner Vertrauten, dem Deutschlehrer Franz Steinhauser, am 27. September 1794 beisammensaß.

      »Der König hat etwas gegen die Aufklärer«, sagte Steinhauser. »Die Allgemeine Deutsche Bibliothek von Friedrich Nicolai darf nicht mehr erscheinen.« Dann schmunzelte er. »Ich behandle mit meinen Schülern gerade den Streit zwischen Goethe und Nicolai. Ihr wisst sicher, dass Goethe unserem wackeren Nicolai dessen polemische Kritik an seinem Werther nie verziehen hat. Aber kennt Ihr auch Goethes böses Gedicht, mit dem er sich an Nicolai rächen wollte?«

      Als Gedike verneinte, reichte ihm Steinhauser das Blatt hinüber, auf dem das Gedicht fein säuberlich geschrieben stand.

       Nicolai auf Werthers Grabe

       Ein junger Mensch, ich weiß nicht wie,

       starb einst an der Hypochondrie

       und ward denn auch begraben.

       Da kam ein schöner Geist herbei,

       der hatte seinen Stuhlgang frei,

       wie ihn so Leute haben.

       Der setzt sich nieder auf das Grab

       und legt ein reinlich Häuflein ab,

       schaut mit Behagen seinen Dreck,

       geht wohl eratmet wieder weg,

       und spricht zu sich bedächtiglich:

       »Der arme Mensch, er dauert mich

       wie hat er sich verdorben!

       Hätt er geschissen so wie ich,

       Er wäre nicht gestorben!«

      Gedike reichte dem Lehrer das Blatt zurück und seufzte. »Lieber Steinhauser, verwendet das Gedicht lieber nicht im Unterricht. Ich sehe schon Woellners Büttel angelaufen kommen, um Sie wegen der unangebrachten Sprache zu sanktionieren.«

      Weiter kam Gedike nicht, denn ein Secretär klopfte an die Tür des Rektorats und meldete, dass ein gewisser Friedrich Ludwig Jahn aus Lanz erschienen sei, um sich einer Aufnahmeprüfung zu unterziehen.

      »Ach, das habe ich fast vergessen!« Gedike fasste sich an den Kopf. »Er soll gleich hereinkommen.«

      »Die Klassen sind eigentlich schon voll«, sagte Steinhauser.

      »Sicher, aber der Vater ist ein guter Bekannter von mir und außerdem auch Pfarrer. Doch bleibt nur hier und macht Euch auch ein Bild von seinem Sohn.«

      Als Friedrich Ludwig Jahn vor ihm stand, war Gedike, wie damals der Rektor Wolterstorff vom Salzwedeler Gymnasium, nicht gerade erbaut. Er bevorzugte Jungen, die gertenschlank waren und denen man ansah, dass sie ihren Aristoteles kannten und selbst Gedichte schrieben. Dieser Sechzehnjährige aber war ein grober Klotz, der eher in eine Schmiede passte denn auf ein Gymnasium.

      »Nun denn, fangen wir mit dem Lateinischen an. Was heißt Concordia parvae res crescunt, discordia maximae dilabuntur

      »Also …

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