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weicht. Der Mann zeigt mit einem bitteren Lächeln auf ein dickes, freiliegendes Wasserleitungsrohr, das sich durch die Trümmerlandschaft zieht. „Setzen wir uns, das ist jetzt unser Gästezimmer.“ Dann hocken wir auf dem harten Metall, und ich frage ihn, ob man als Christ den Glauben an Gott verliert, wenn man vom Leben so grausam behandelt wird.

      „Tja, wo war unser Gott, das frage ich mich auch“, antwortet er. „Als Kinder hatten wir immer Angst vor seinen Strafen. Warum nur hat er die daesh nicht bestraft? Wo war er, als sie unsere Häuser zerstörten? Wo war er, als sie unsere Kirchen zerstörten?“

      „Die daesh haben auch die Kirchen zerstört?“, frage ich.

      „Neun Kirchen“, entgegnet er. „Neun Kirchen allein auf der Südseite des Flusses. Fahren Sie hin, schauen Sie es sich an. Es gibt hier kein einziges Gotteshaus mehr, das unversehrt geblieben ist.“

      Wir machen uns auf den traurigen Weg. Die Kirche von Tel Shamiran stand etwas abseits des Ortskerns, wir finden nur noch ein Meer aus Steinen und ein paar Säulen, die einst das Dach trugen. In Tel Telaa (aramäisch: Sara) steht noch eine Art Betongerippe, das die einstige Form ahnen lässt, aber kein Dach und keine Wände mehr hat. Wir sammeln ein paar Scherben mit aramäischen Schriftzeichen auf und setzen die Bruchstücke zusammen, es sind Reste einer Tafel mit den Gründungsdaten, die am Haupteingang hing. In Tel Baloua (Diznayeh) saßen die islamischen Gotteskrieger auf dem Dach der Kirche und nahmen den Feind unter Feuer.

      IS-Parolen auf zerstörten Wänden. Ein „Sutoro“-Kämpfer zeigt, wie die „Gotteskrieger“ sich in Häusern verschanzten.

      „Sutoro“- und YPG-Kämpfer schossen von einem Hügel auf der Nordseite des Flusses zurück.

      Das Resultat mutet an wie ein Symbolbild für den Untergang des Christentums in einer Region, wo vor 2.000 Jahren sein Aufstieg begann: Die Kirche ist zernarbt von schweren Granattreffern. Von ihren Mauern sind die meisten Steinkacheln abgefallen, so liegt der nackte Beton darunter frei. Die Glocke hängt verloren in ihrem Gebälk, der Läutestrick sinnlos in der Luft. Das vierarmige orthodoxe Kreuz, das nicht nur von allen Seiten, sondern auch von oben als solches erkennbar sein soll, baumelt verkehrt herum auf dem Glockenturm; vermutlich wird es nicht mehr lange dauern, bis es endgültig herunterfällt.

      Ein letztes Dorf tun wir uns noch an, bevor die Sonne untergeht. In Tel Tal (Talnayeh) ragt aus einem riesigen Schutthaufen der ganze obere Teil eines Kirchturms. Es neigt sich schräg zur Seite wie ein sinkendes Schiff.

      „Soll bloß niemand sagen, dieser Bau sei durch Bomben aus der Luft zerstört worden“, sagen die Assyrer. „Schauen Sie genau hin! Das Dach ist völlig ganz geblieben. Nein, die Bombe kam nicht von oben, sondern von unten. Die daesh haben die Kirche in die Luft gesprengt.“ Ich streife leicht benommen durch den Ort. Hier sind kaum Kampfspuren zu sehen, das stärkt die Vermutung von purer Zerstörungswut. Nun aber sehe ich, dass etwas in aramäischen Schriftzeichen auf eine Hauswand gesprüht wurde. Die Assyrer übersetzen es für mich. Es ist eine überraschende Nachricht, die einzig gute an diesem Tag. „Wir kommen zurück in unser geliebtes Tel Tal.“ Wer hat das nur geschrieben?

      Ein Bursche namens Baribal taucht auf und sagt voller Stolz, das sei er gewesen. Er winkt uns, ihm zu folgen, und führt uns in ein Haus, das tatsächlich wieder bewohnt ist. Wir gehen durch einen Garten, rot schimmernde Granatäpfel hängen an den Bäumen. Da steht Elias Antar, der Vater des jungen Mannes, auf der Veranda und streckt uns strahlend die Hand entgegen. Er war sein ganzes Leben lang in diesem Dorf als Lehrer tätig und ist als Erster schon eine Woche nach der Rückeroberung wieder in sein Haus eingezogen. „Vor dem Krieg lebten in Tel Tal 55 Familien“, sagt er. „Jetzt sind immerhin schon zwölf wieder da. Wir sind ständig dabei, weitere Familien zur Rückkehr zu ermuntern.“ Seine Frau zögere noch, aber sie komme immerhin schon ein- bis zweimal pro Woche zu Besuch, und sie verspreche die vollständige Rückkehr für den Fall, dass Shadadeh, die nächstgrößere Stadt weiter im Süden, aus den Händen des IS befreit wird.

      „Meine Kindheit, meine Jugend, meine Frau, meine Vergangenheit und meine Zukunft – alles ist von hier“, sagt der 68-Jährige. „Warum soll ich von hier weg?“

      Er geht in den Keller und holt eine Flasche hausgemachten Rotwein. So ein Tag und so ein Besuch – das muss gefeiert werden. Dann aber schaut er mich durchdringend an, während er die Flasche öffnet. „Sie kommen aus Deutschland, sagten Sie?“ Ich nicke und er hält für einen Moment inne mit dem Korkenziehen.

      „Ich hasse Deutschland“, sagt er mit einem Lächeln, dem man ansieht, dass es von Schmerz verzerrt ist.

      „Sie werden Gründe dafür haben“, entgegne ich.

      Er füllt die Gläser und reicht mir eines zum ersten Schluck.

      „Zwei meiner Töchter sind nach Deutschland gegangen“, erzählt er. „Sie selber wollten es eigentlich nicht. Aber letztlich haben sie ihren Männern nachgegeben. Sie waren beide Lehrerinnen in der Stadt Hassaka gewesen. Mein Gott, sie hatten doch alles, was sie brauchten. Jetzt arbeiten sie in einem Restaurant.“ Er habe gebrochen mit ihnen, fügt er hinzu, so groß sei seine Enttäuschung gewesen.

      Ich kann nachvollziehen, was die Gründe gewesen sein mögen, die Familie, das Haus und das Dorf zu verlassen. Der Fluss Khabur ist zum Rinnsal geworden, von seinen 300 Quellen sprudelt nur noch eine einzige, und deren Menge wird durch einen Kanal zur Versorgung von Hassaka geleitet. Die Türkei hat mit ihren Staudammprojekten den syrischen Nachbarn das Wasser abgegraben. Die Dorfbewohner können kein Obst mehr anbauen, weil der Grundwasserspiegel so stark gesunken ist. Das Trinkwasser, das die Leute einst aus Brunnen holten, ist so salzig geworden, dass sie ihren Bedarf in Plastikflaschen kaufen müssen. Und zu all dem ist dann noch der Krieg mit all seiner Zerstörung und die Angst vor den daesh gekommen.

      „Wer glaubt denn noch ernsthaft daran, dass viele Auswanderer je wieder zurückkommen werden?“, frage ich in die Runde.

      Sie zucken stumm mit den Schultern. Es hänge halt alles davon ab, was aus diesem Land Syrien werde.

      „Getreide und Baumwolle lassen sich hier immer noch anbauen“, beharrt Elias Antar, als wir uns verabschieden. Ich spüre, wie ohnmächtig er gegen den Gang der Zeit kämpft. Er drückt mir, obwohl ich aus Deutschland komme, einen reifen Granatapfel in die Hand.

      KAPITEL 6 · KIRKUK – IRAK

      „Sie wissen nichts von ihren Wunden“

      Wie Albträume den Alltag von Flüchtlingen beherrschen

      Eine Nacht kann ein ganzes Leben verändern. Eine einzige Nacht. In ihr bricht alles zusammen, was Menschen Halt gegeben hat. Der sanfte Rhythmus des Arbeitstages. Der Schutz durch die eigenen vier Wände. Das Vertrauen in die eigenen Kräfte. Die Gemeinschaft mit den Nachbarn. Mounir Hanna und seine Familie haben das alles am eigenen Leib erfahren, und je länger er darüber spricht, desto größer wird der Abgrund, vor dem er nun steht.

      Bis zum letzten Moment krallten sie sich fest an einem Leben, das ihnen zwar keine Reichtümer, aber Geborgenheit bescherte. Bis zuletzt weigerten sie sich, das Undenkbare zu denken. Selbst als der Donner von Geschützen dem Städtchen Bartella immer näher kam, hielten sie aus und glaubten fest daran, dass sie nicht im Stich gelassen würden. Es gab in der Ebene von Niniveh Tausende von irakischen Soldaten. Es gab Tausende von kurdischen peshmerga, „die dem Tod ins Auge sehen“, wie ihr stolzer Name sagt. Es gab 500 ehrenamtliche Kirchenschützer, von denen jeder immerhin eine Kalaschnikow hatte. Wozu waren denn diese Bewaffneten da? Sie würden doch die daesh in die Flucht schlagen, oder? Wenn nicht jetzt – wann dann?

      Dann aber sahen Mounir und seine Familie fassungslos, dass all diese Uniformierten selber die Flucht ergriffen. Die vermeintlichen Verteidiger spürten ganz offenbar, dass sie der Waffentechnik und dem fanatischen Kampfgeist der islamistischen „Gotteskrieger“ nicht gewachsen waren. Es war die Nacht

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