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Benjamin blätterte wie immer ein Buch nach dem anderen mit rasender Geschwindigkeit durch. Lisa zeigte geduldig auf Dinge, nach denen Conrad sie fragte oder beantwortete auch Fragen wie: „Und was ist das hier?“ Conrad nahm ein Gummibuch und breitete es vor Lisa aus. Gerade holte er Luft, um seine nächste Frage zu formulieren, da sprang Benjamin, der vorher etwas abseits und halb abgewendet dagesessen hatte, herbei und zeigte auf ein Haus mit dem Kommentar: „Haus“. Und dann gleich noch einmal: „Eimer“, und er wies auf einen Eimer. Ich war völlig sprachlos und überrumpelt und auch Victoria schaute mich ungläubig an. Benjamin beachtete uns nicht weiter und nahm seine vorherige Tätigkeit wieder auf. Wir dagegen diskutierten nun, was das bedeuten könnte. Unterschätzte ich vielleicht völlig seine Fähigkeiten? Fand es Benjamin langweilig, wenn ich ihn dazu bewegen wollte, über seine Bilderbücher mit mir zu kommunizieren? Jedenfalls hatte ich jetzt die Gewissheit, dass er zumindest teilweise mitbekam, was er sich in seinen Büchern anschaute. Leider war dieses Zeigen und Benennen eine Eintagsfliege. Und wieder stand die Frage im Raum, warum Benjamin weder Lob noch Beachtung für seine Leistung erwartete. Und warum hatte er sich in diesem Moment zu dieser Leistung hinreißen lassen, wo er doch sonst derartige Aktivitäten verweigerte. Äußerte ich vielleicht eine Bemerkung über Benjamin zu Victoria, die meinen Sohn zu dieser spontanen Idee veranlasste? Meine Gedanken kreisten wieder einmal immer schneller und je mehr ich darüber nachdachte, desto mehr Fragen türmten sich auf. Ich wusste auch nicht, wie ich jetzt verfahren sollte. War es richtig, weiter zu versuchen, mit Benjamin gemeinsam Bücher anzuschauen oder war es überflüssig, weil Benjamin kein Interesse daran zeigte und offensichtlich auch so genug lernte? Aber Lernen war nicht alleine entscheidend. Was nutzte es ihm, wenn er lernte, aber nicht mit anderen kommunizieren konnte? Wenn bei den meisten kleinen Kindern Lernen ein Ergebnis von Kommunikation war, so war es bei Benjamin offenbar umgekehrt. Bei ihm musste ich Gelerntes nutzen, um ihm Kommunikation und Interaktion beizubringen. Für uns war das eine wichtige Erkenntnis, für die Personen in unserer Umgebung war es unverständlicher Quatsch.

      Da Benjamin vorerst als Hauskind aufwuchs, beschloss ich, mit ihm eine Kleinkindgruppe der evangelischen Kirche aufzusuchen, um ihm die Möglichkeit zu geben, soziale Kontakte zu gleichaltrigen Kindern zu knüpfen. Bis jetzt hatte das nicht geklappt und ich glaubte damals, dass nur die Personen oder die Umstände daran schuld wären. Waren die Kinder meiner Freundinnen nicht nach seinem Geschmack? Vielleicht fand er Lisa zu schüchtern und Kilian zu draufgängerisch … Oder er konnte in einer unstrukturierten Umgebung, wie es der Spielplatz war, keine Kontakte knüpfen. Deshalb schien mir die kleine Mutter-Kind-Gruppe im Gemeinderaum des Pfarrhauses eine ideale Umgebung zu sein. Aber unser erster Besuch dort sollte auch unser letzter sein. Da ich den Buggy im Flur abstellen musste, hatte ich große Mühe, Benjamin mit Drängeln und Schieben in den Raum zu bekommen. Wenigstens weinte er nicht. Er versteckte sich hinter meinem Rücken, als die Leiterin der Gruppe, eine Nonne, ihn begrüßen wollte. „Na, da haben wir aber "nen ganz Schüchternen“, sagte sie und ließ ihn nach dieser Bemerkung zu meiner Erleichterung in Ruhe. Durch weiteres Drängeln und Schieben schafften wir es bis zu einem Stuhl. Benjamin kletterte auf meinen Schoß und klammerte sich wie ein kleines Äffchen an mir fest. Wahrscheinlich wollte er in dieser Haltung einfach diese neuerliche Tortur, die ich mir für ihn ausgedacht hatte, überstehen. Zu seinem Leidwesen kamen aber jetzt einige Kinder der Spielgruppe, die an dem Neuzugang interessiert waren, auf uns zu und stellten Fragen wie: „Wie heißt der denn?“ oder „Warum kommt der denn nicht spielen“. Benjamin vergrub sich immer tiefer in meinem Schulterblatt und fing an zu zittern. Währenddessen hatte Conrad die mitgebrachten Kekse auf den Imbisstisch gelegt und war in der Spielecke verschwunden. Das Rascheln der Kekspackung weckte schlagartig Benjamins Aufmerksamkeit. Essbares, was frei herumlag, konnte er nicht ertragen. Er kletterte herunter und rannte an den Kindern vorbei zu dem Tisch mit den Köstlichkeiten. Noch ehe er dort angekommen war, stellte sich die Leiterin in den Weg und Benjamin erschrak zutiefst. Weinend kehrte er zu mir zurück, worauf die Nonne mir streng erklärte: „Wir verzehren die Gaben Gottes erst nach der Spielstunde, und zwar gemeinsam.“ Irgendwie musste ich Benjamin beruhigen, also gab ich ihm einen Keks aus meiner Tasche. Wie sollte ich ihm erklären, dass er das Essen noch nicht anrühren darf, wo er mir doch scheinbar nicht zuhörte? Zu Hause lag kein Essen offen herum, weil Benjamin sonst nur am Futtern gewesen wäre. Er hatte offensichtlich immer Hunger oder Appetit. Jetzt wurde die Nonne sehr ärgerlich und warf mir vor, ich würde die Regeln des Zusammenseins nicht befolgen und ich solle nicht die Erziehung der anderen Mütter untergraben, indem ich meinem Kind freien Lauf ließe. Ein bisschen Strenge habe noch keinem Kind geschadet. Auch einige der anwesenden Mütter fingen an, über mich und mein ungezogenes Kind zu tuscheln. Es ist immer schwer, in eine bestehende Gruppe neu dazuzukommen, aber mit Benjamin schien es unmöglich. Ich hatte nur mit diesem Kind zu tun und konnte nicht einmal ein Gespräch beginnen. Was wollte ich eigentlich hier? Kaum war der Keks verschwunden, forderte Benjamin den nächsten. Als ich ihm den verweigerte, lief er weinend zur Tür. Da er aufgrund seiner Körpergröße die Türklinke erreichte, musste ich hinterherlaufen, sonst wäre er weggelaufen. Nachdem wir das mehrmals durchhatten – weglaufen, einfangen, zurückbringen, weglaufen … – war ich am Ende meiner Kräfte, zumal mein nunmehr kugelrunder Babybauch meine Bewegungsfreiheit erheblich einschränkte. Ich gab auf und verabschiedete mich mit der Ausrede, noch einen Arzttermin zu haben. Die Nonne fragte mich in einem zuckersüßen Ton: „Werden wir Sie nächste Woche wieder in unserer Runde begrüßen dürfen?“ Ich sagte ja, falls mir nicht mein Baby einen Strich durch die Rechnung macht. Das war gelogen, denn ich wusste zu diesem Zeitpunkt bereits, dass ich da nicht wieder hingehen würde, war aber zu feige, es zuzugeben. Hinterher fragte ich mich, was eigentlich wichtiger war: Benjamins Wohlergehen oder Regeln durchzusetzen, die mein Kind nicht begreifen würde, um in der Gruppe nicht aufzufallen? Tat ich wirklich das Richtige für Benjamin, wenn ich immer nur so viel bunte, grelle Welt an ihn heranließ, wie er bereit war zu ertragen? Jedes Mal, wenn ich seine Angst und Panik wieder hautnah spürte, so wie in der Nacht, die diesem Besuch der Spielgruppe folgte, war ich überzeugt, das Richtige zu tun. Sah ich dann wieder Mütter, die mit gleichaltrigen Kindern gelassen die Kinderarztpraxis, den Spielplatz oder einen Laden betraten, dann keimten Zweifel an meiner Fähigkeit als Mutter in mir. Hätte ich doch wenigstens unsere Probleme in überzeugende Worte fassen können, aber es gab keine Bezeichnung oder Erklärung für das, was ich Tag für Tag mit Benjamin erlebte, jedenfalls noch nicht.

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