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(Milch)

       21 Monate: „na klar“, „Wasser“

       22 Monate: „Hallo“ (ins Spielzeugtelefon), „Ei“, „Wau“, „leer“, „Saft“

       23 Monate: „Arielle“, „Ines“

      Mehr verständliche Worte bekamen wir in den ersten zwei Lebensjahren von unserem Sohn nicht zu hören. Ein zweijähriges Kind sollte einen Wortschatz „von vielleicht 30 Wörtern“2 bis zu 2503 Wörtern besitzen, aber kann man Wörter, die nur ein einziges Mal oder sehr selten benutzt werden, als Wortschatz bezeichnen? Wörter wie „eins, zwei, drei“ oder „Kröte“ zählten für mich damals jedenfalls nicht zum Wortschatz meines Kindes, weil ich sie für Zufälle hielt. Auch heute vermag ich auf diese Frage keine Antwort zu geben. Auffällig war weiterhin, dass Benjamin keine Fragewörter benutzte, keine Fragen beantwortete und uns nicht mit Mama oder Papa ansprach. „Mama“ und „Papa“ glaubten wir wenige Male in seinen Monologen zu hören, wenn er mit seinem DUPLO-Zoo spielte. Er benutzte seine karge Sprache nur, um etwas zu bekommen, jedoch nicht, um mit anderen Kontakt aufzunehmen. Warum konnte er aber seine Spiele mit einem derart lebhaften Geplapper untermalen und warum blieb die Qualität seiner Sprache dabei unverändert? Bücher zum Thema Spracherwerb wurden nun zu meiner bevorzugten Lektüre, aber keines kannte unsere Probleme und konnte mir irgendwie weiterhelfen. Wie sollte ich zum Beispiel einem Kind Bilderbücher vorlesen, wenn ich es nicht dazu bewegen konnte, neben mir zu sitzen und zuzuhören? Warum war mein Kind nicht an meinen Vorlesekünsten interessiert? Auch für Fingerspiele, Singen oder Musizieren zeigte Benjamin kein Interesse. Wenigstens ertrug er es einigermaßen gelassen, wenn ich mit Conrad sang und musizierte, immer in der Hoffnung, er würde sich doch einmal zu uns gesellen. Die Tochter meiner Freundin, die fast zweijährige Lisa, ließ sich inzwischen von mir mit großer Freude Bücher vorlesen, beantwortete bereitwillig einfache Fragen und hörte auch gespannt zu, wenn Conrad für Lisa den Inhalt von Benjamins Büchern erzählte. Benjamin schien das überhaupt nicht zu stören, er war kein bisschen eifersüchtig auf Lisa. Im Gegenteil: Offenbar war er froh, wenn sich niemand in sein Spiel einmischte. Er genoss es, nicht beachtet zu werden. Zu Beginn hielt ich das Fehlen von Eifersucht für eine charakterliche Stärke meines Sohnes, aber ziemlich bald fragte ich mich, ob es nicht eher ein Defizit in seiner sozialen Entwicklung darstellte.

      Von den Büchern zum Thema Sprache und Spracherwerb wurden wir genauso enttäuscht wie von anderen Ratgebern. Werke mit verheißungsvollen Titeln wie „Jedes Kind kann Regeln lernen“, „Jedes Kind kann richtig essen“ oder „Jedes Kind kann schlafen lernen“, die sich „Kompetente Ratgeber für den Alltag“ nennen, wurden von einigen unserer Bekannten hoch gelobt und uns empfohlen, weil wir dort Hilfe finden würden. Wir als verzweifelte Eltern mussten allerdings feststellen, dass all diese vielversprechenden Ratschläge bei unserem Kind nicht funktionierten und uns keinen Schritt weiterbrachten. Gehörte unser Sohn also nicht zu der Kategorie „jedes Kind“? Und wenn er nicht ein „jedes Kind“ ist, was ist er dann für ein Kind?

      Eines Abends, kurz vor Benjamins zweitem Geburtstag, bemerkten wir einen bedrohlichen Riss im Putz der Decke des Kinderzimmers. Ich nahm die Kinder und kreuzte kurzerhand bei meinen Eltern auf, während mein Mann die Feuerwehr rief. Die Kinder hatten schon gegessen und gebadet und sollten gerade ins Bett gebracht werden. Um ihnen unnötige Aufregung zu ersparen, hielten wir es für besser, dass ich mit ihnen wegging, bis die Situation geklärt war. Doch Benjamin fing schon an zu weinen, als wir bei seinen Großeltern vor der Tür standen. Drinnen versuchte ich, mich mit den Kindern auf eine Couch zu legen, um wenigstens ein bisschen zu schlafen, aber Benjamin stand auf der Couch, versuchte trotz Schlafsack zu fliehen und weinte immer lauter. Seine Großmutter kam herein, um mir gute Ratschläge zu geben, und Benjamin weinte noch heftiger. Sie hielt mich offenbar für völlig unfähig im Umgang mit diesem Kind, wobei ich das langsam selber glaubte, denn jeder Versuch, ihn zu beruhigen, scheiterte. Jedes Mal, wenn meine Mutter eine neue Idee zum Beruhigen zu haben glaubte, kam sie erneut herein und jedes Mal schien Benjamin noch verzweifelter zu weinen. Sicherlich hatte meine Mutter das nur gut gemeint, aber sie konnte mir nicht glauben, dass dieses kleine Kind voller Panik war und keinen Ausweg für sich aus dieser Situation sah. Vielleicht glaubte Benjamin, er müsse jetzt für immer hier bleiben oder ich würde ihn verlassen oder … Ich konnte nur mit Sicherheit sagen, dass es pure, nackte Angst war, die dieses kleine Bündel in meinen Armen verspürte, gepaart mit Hilflosigkeit, Müdigkeit und dem Gefühl einer Ohnmacht der ganzen Situation gegenüber. Auch ich fühlte mich hilflos, denn nichts, was ein anderes Kind beruhigt hätte, funktionierte bei Benjamin: kein Streicheln, kein Zureden, kein Singen, kein Schmusetier, kein Lieblingskissen, kein Trinken, kein Keks … Meine Arme schmerzten, denn es war Schwerstarbeit, Benjamin, der heftig um sich schlug, festzuhalten, damit er nicht sich oder andere verletzte. Gerade als ich nach mehreren Stunden kaum noch die Kraft hatte, mit dieser Situation weiterhin fertig zu werden, kam mein Mann und erklärte uns, der Gutachter der Feuerwehr hielte den Riss für ungefährlich, und deshalb würde er uns jetzt wieder nach Hause bringen. Kaum hatte er das gesagt und Benjamin auf den Arm genommen, hörte unser Sohn auf zu weinen, schluchzte nur noch kläglich und sank erschöpft auf die Schulter meines Mannes. Hatte er die Worte meines Mannes wirklich richtig verstanden? Da er sonst auf Fragen oder Bitten nie reagierte, zweifelte ich oft daran, ob er verstand, was wir sagten. Jetzt wurden diese Zweifel gerade wieder einmal zerstreut. Endlich zu Hause angekommen, kroch Benjamin sofort in sein Bett, obwohl er noch seine Jacke über seinem Schlafsack trug. Das wunderte uns sehr, denn so ein „Fehler“ unterlief ihm sonst nie. Noch mehr waren wir aber erstaunt, als wir sahen, dass Benjamin sofort einschlief. Eigentlich hatte ich mich innerlich schon auf massive Einschlafprobleme eingestellt. War er vom vielen Weinen körperlich zu ausgelaugt? Sicherlich, denn nach ein paar Stunden Schlaf wachte er wieder weinend auf und es folgten wie immer unzählige Beruhigungsversuche. Zu dieser Zeit war ich aber wenigstens durch die kleine Portion Schlaf etwas ausgeruht. In mir regte sich die bange Frage, wie lange ich noch diesen physischen Belastungen standhalten konnte, wenn Benjamin jede Fremdbetreuung verweigerte.

      Meine zwei Erziehungsjahre waren fast um und erneut sah unsere theoretische Planung vor, dass ich meine Berufstätigkeit nun wieder aufnehmen würde. Allerdings wusste ich nicht, wie sich Benjamin in den Kindergarten eingewöhnen sollte, da er noch immer keine Person außer mir und meinem Mann an sich heranließ. Die Kinderärztin äußerte sich bedenklich zu einem Kindergartenbesuch, da er weiterhin häufig krank war. Gerade hatte er wieder einmal eine Rachenentzündung überstanden, schon fieberte er erneut. Ich beschloss, meinen Sohn wenigstens in der Kindertagesstätte einmal vorzustellen, denn vielleicht würde mir dies erleichtern, eine Entscheidung zu fällen. Benjamin verhielt sich in der fremden Umgebung nicht so ängstlich wie erwartet. Er weinte nicht, verließ auch kurzzeitig meinen Arm und lief ein paar Schritte herum – was für ein Fortschritt! Das spielte sich aber alles nur im Büro der Leiterin ab und er bekam kein fremdes Kind zu Gesicht. Trotzdem schöpfte ich neue Hoffnung, vielleicht war das Eis ja nun gebrochen. Diese Hoffnung wurde jäh zerstört, als mir die Leiterin erklärte, dass sie keine Kinder aufnähme, die mit zwei Jahren noch nicht sauber seien. Es stünden genug Kinder auf der Warteliste und die Erzieherinnen hätten eh schon genug zu tun. Ich würde aber meinen Platz auf der Warteliste nicht verlieren und könne mich wieder melden, wenn Benjamin sauber wäre. Damit hatte ich überhaupt nicht gerechnet und so verschlug es mir die Sprache. Was konnten wir jetzt noch tun? Meine Vernunft riet mir, in meinen geliebten Beruf zurückzukehren, mein Bauchgefühl sagte mir, dass mich mein kleines, kompliziertes Söhnchen dringender brauchte. Mein Bauchgefühl siegte und dabei spürte ich eine wohltuende Erleichterung. Diese Entscheidung habe ich nie bereut. Wir beschlossen, Benjamin vorerst für ein weiteres Jahr zu Hause zu behalten.

      Im verregneten Herbst begannen wir, Benjamin am Wochenende manchmal zu erlauben, einen Kinderfilm zu schauen. Conrad konsumierte zu dieser Zeit ausschließlich Disney-Filme und so kuschelten wir uns alle zusammen und sahen, anstatt Mittagschlaf von Benjamin zu erhoffen, einen Film. Ich war mir allerdings nie sicher, wie viel Benjamin von der Handlung mitbekam. Er schaute die Filme ruhig und konzentriert und ich wusste, dass wir den Film auf keinen Fall unterbrechen durften, wenn wir die Harmonie des Nachmittages nicht gefährden wollten. Die aktuellen Lieblingsfilme unserer Kinder waren Bambi und Dumbo. Benjamin schaute diese Filme auch in der x-ten Wiederholung genauso konzentriert.

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