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Rettungswagen fuhr um 4.50 Uhr los und traf kurz darauf ein. Einer der Sanitäter wunderte sich bereits bei der Anfahrt über die ungewöhnliche Anweisung, einen Patienten nachts in die Praxis des Bereitschaftsarztes zu fahren, zumal die Transportstrecke am Kreiskrankenhaus vorbeiführte.

      Als die Sanitäter eintrafen, fanden sie den Patienten nach Luft schnappend in einem Sessel. Sie holten eine Trage und kehrten ins Haus zurück, wo ihnen Fritz W. entgegentaumelte. Er wurde mit Sauerstoff versorgt. Wegen seines besorgniserregenden Zustands sahen sich die Sanitäter dazu veranlasst, ihn direkt ins Kreiskrankenhaus zu fahren.

      Frau W. fuhr mit. Ihr Mann konnte kaum sprechen, er fragte stockend: »Wie lange dauert das denn noch?« Frau W. versuchte ihn durch ständiges Streicheln zu beruhigen. Sie wusste nicht, dass dies seine letzten Worte gewesen waren.

      Das Krankenhaus wurde von den Rettungssanitätern während der Anfahrt telefonisch unterrichtet. Der Wagen hielt vor dem Patienteneingang. Fritz W. wurde von der Sauerstoffzufuhr abgeklemmt und in den Haupteingang gerollt. Hier vergingen mehrere Minuten, bis eine Ärztin auftauchte. Sie nahm Fritz W. auf der Bahre mit in den Lift, um ihn in den nächsten Stock zu fahren.

      Es vergingen mindestens dreißig bis vierzig Minuten, in denen Frau W. im Warteraum saß. Schließlich kam ein Arzt und erklärte in etwa wörtlich: »Frau W., Ihr Mann ist jetzt reanimiert, aber wir können nichts weiter sagen. Sie müssen mit dem Schlimmsten rechnen. Morgen sehen wir weiter. Sobald wir etwas wissen, werden Sie benachrichtigt.«

      Im Aufnahmebefund des Krankenhauses wird hervorgehoben, dass der Patient in einem lebensbedrohlichen Zustand eingeliefert wurde, mit tief zyanotischer (blau gefärbter) Haut und Schleimhäuten ohne Reaktion auf Licht. Ein sicheres Atemgeräusch war über beide Lungen nicht mehr festzustellen. Puls und Blutdruck waren nicht sicher messbar, die Fußpulse beidseits nicht zu ertasten. Der Patient war nicht ansprechbar und Muskeleigenreflexe waren nicht auslösbar. Es erfolgte eine sofortige Intubation und Beatmung mit allmählicher Anhebung des Blutdrucks.

      Auf Deutsch: Der Patient befand sich bei der Einlieferung in akuter Lebensgefahr. Es stellte sich schließlich ein sogenanntes apallisches Syndrom (Hirnstarre) ein, weil aufgrund des anhaltenden Sauerstoffmangels Teile des Großhirns abgestorben waren. Fritz W. ist aus diesem Zustand nicht mehr erwacht.

      Seine Ehefrau hat ihn wochen- und monatelang besucht, indem sie in ihren Arbeitspausen und nach Dienstschluss von der Kreissparkasse zum nahegelegenen Krankenhaus fuhr – immer in der Hoffnung auf ein Wiedererwachen, immer mit den Worten: »Hallo Fritz, ich bin wieder da. Erkennst Du mich?« Sie war lange davon überzeugt, dass er bei dieser Begrüßung die Augen bewegte und für einen Moment aufschlug. Sie sprach mit ihm, erzählte ihm Geschichten, zum Beispiel von Minko, seinem Lieblingskater, und berichtet den Ärzten und Schwestern von den Reaktionen, die sie an ihm wahrnahm.

      Das Personal nahm diese Berichte freundlich, aber ohne nachfolgende Therapieversuche zur Kenntnis. Gelegentlich gaben Ärzte ihr zu verstehen, dass die von ihr festgestellten Reaktionen ihrem Wunschdenken entsprächen.

      So verging ein halbes Jahr. Die Ärzte kamen zu dem Entschluss, den Patienten in ein Schwerstpflegeheim zu verlegen. Frau W. wurde durch den Pflegedienstleiter davon in Kenntnis gesetzt. Es war ihr 33. Hochzeitstag. Sie hatte einen Blumenstrauß mitgebracht. Die Krankenschwester nahm ihn ihr ab mit dem Worten: »Jetzt ist Feierabend, der Mann muss raus.«

      Für kurze Zeit keimte dann neue Hoffnung auf. Die Leiterin einer Spezial-Rehaklinik erschien und erklärte, sie wolle eine Therapie mit Wassergymnastik versuchen, um stärkere Reaktionen auszulösen. Frau W. klammerte sich an diesen Strohhalm. Doch zu der Verlegung kam es nicht mehr, weil ihr Mann am 7. August 1993 verstarb.

      Der Fall W. wirbelte in der niedersächsischen Kleinstadt viel Staub auf. Die Verweigerung der dringend gebotenen Versorgung durch den Bereitschaftsarzt sprach sich herum, zumal Fritz W. ein bekannter Mitarbeiter einer ebenso renommierten Sanitär- und Heizungsfirma war und seine Frau als »rechte Hand« des Sparkassendirektors galt. So blieb der Fall straf- und zivilrechtlich nicht ohne Folgen.

      Das zuständige Schöffengericht hat in einem mehrtägigen und von starken Emotionen getragenen Strafverfahren den Bereitschaftsarzt Dr. St. wegen fahrlässiger Tötung zu einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten verurteilt, die zur Bewährung ausgesetzt wurde.

      Das Gericht zog mit dieser Entscheidung die Konsequenz aus zwei eingeholten medizinischen Gutachten. Insbesondere ein renommierter Rechtsmediziner hatte keinen Zweifel daran gelassen, dass die über Stunden anhaltende und zunehmende Atemnot zu einem Herzversagen führte, in dessen Folge eine Unterversorgung des Hirns mit Sauerstoff eintrat. Bei rechtzeitiger Einlieferung ins Krankenhaus wäre die spätere Hirnstarre vermieden worden. Für eine solche adäquate Versorgung stand nach Überzeugung des Rechtsmediziners ausreichend Zeit zur Verfügung.

      Das Gericht hat in seinem Urteil unter anderem festgestellt:

      »Das Verhalten des Angeklagten in jener Nacht ist nicht mit einem einmaligen Ausrutscher eines Autofahrers zu vergleichen, der eine Sekunde nicht aufgepasst und hierdurch einen anderen Menschen getötet hat. Der Angeklagte hatte hier circa. zwei Stunden Zeit, sich zu dem um Luft ringenden Patienten zu begeben und es innerhalb dieser Zeit nicht einmal für nötig befunden, sich nach der Anschrift zu erkundigen. Das Verhalten des Angeklagten liegt an der Grenze zum Totschlag, und das Gericht sieht es als eine Dummheit des Angeklagten an, die Gefahrenlage nicht erkannt zu haben. Anderenfalls hätte er wegen vorsätzlichen Totschlages zur Rechenschaft gezogen werden müssen.«

      Der Arzt ging in Berufung. Das Urteil wurde zunächst in eine Geldstrafe von 16.000 DM umgewandelt und schließlich wegen Verfahrensfehler gegen Zahlung einer hohen Geldbuße, unter anderem in Höhe von 18.500 DM an die Witwe, eingestellt. Gleichzeitig wurden der Arzt und die hinter ihm stehende Haftpflichtversicherung auf Schadensersatz in Anspruch genommen. Im Rahmen dieses Zivilprozesses hat Irmgard W. auf dem Wege des Vergleichs 45.000 DM erhalten.

      Eine Befragung von Irmgard W. im Jahre 2012, zwanzig Jahre nach dem Tod ihres Mannes, hat gezeigt, wieviel Bitterkeit aus dem Verfahren zurückgeblieben ist.

      Die stundenlange Weigerung des Arztes, den erbetenen Hausbesuch durchzuführen, hat die Familie zerstört und Frau W. trotz der Entschädigung in finanzielle Bedrängnis gebracht. Die Ehe war kinderlos. Frau W. hatte unmittelbar vor den tragischen Ereignissen das von ihren Eltern ererbte Wohnhaus saniert und umgebaut. Die aufgenommenen Baudarlehen konnten mit der im Zivilprozess erstrittenen Entschädigung teilweise getilgt werden. Frau W. hatte aber auch den behindertengerechten Umbau des Erdgeschosses in Auftrag gegeben, weil sie davon ausging, dass ihr Mann auf den Rollstuhl angewiesen sein würde. Die dadurch entstanden Kosten konnte sie nicht mehr zügig abtragen, weil sich der Rentenanspruch nach dem Tod des Ehemanns reduzierte.

      Das Wohnhaus ist inzwischen sanierungsbedürftig. Eine neue Kanalisation muss verlegt werden, am Dach stehen Reparaturarbeiten an. Das alles muss Frau W. von den Renteneinkommen finanzieren, das sie inzwischen erhält. »Ich frage mich immer wieder, welchen Sinn das alles noch hat. Mein Mann ist jetzt zwanzig Jahre tot, Kinder haben wir nicht. Was ich mit aller Kraft noch zur Sanierung in das Haus stecke, kommt eines Tages unter den Hammer. Ich kann mir kaum etwas leisten und habe seit zwanzig Jahren keinen Urlaub mehr gemacht. Ich gehe nirgendwo hin und warte nur darauf, dass ich eines Tages erlöst werde. Mein Leben hat seit dem Tod meines Mannes keinen Sinn mehr. Wir haben uns so auf den gemeinsamen Lebensabend gefreut. Das ist alles vorbei. Alles das können weder die Bestrafung des Arztes noch der Schadensersatz wiedergutmachen.«

      Folgen dieser Art werden im Gedanken des Schadensersatzes nicht angemessen berücksichtigt. Man sollte die üblichen Parameter überdenken.

      Medizinrechtlich war das Verhalten des Bereitschaftsarztes eine eklatante Verletzung des hippokratischen Eids. Eine Ferndiagnose bei einem unbekannten Patienten, ohne Kenntnis von Vorerkrankungen und Vorbefunden, ist schlicht unzulässig und verstößt gegen Grundregeln der Humanität.

      Man sollte meinen, dass solche Fälle den Entzug der Approbation zur Folge haben. Weit gefehlt: Zuständig dafür sind nicht die Straf- oder Zivilgerichte, sondern Ärztekammern und Berufsgerichte. Das sind erfahrungsgemäß stumpfe Schwerter. Es ist nicht bekannt geworden, ob

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