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Position beziehen. Heinrich Bedford-Strohm
Читать онлайн.Название Position beziehen
Год выпуска 0
isbn 9783532600023
Автор произведения Heinrich Bedford-Strohm
Жанр Религия: прочее
Издательство Автор
Bemerkenswert ist vielmehr, dass hier ein Zusammenhang zwischen dem theologischen Selbstverständnis einer bestimmten christlichen Konfession und dem Sozialverhalten ihrer Mitglieder empirisch dingfest gemacht werden kann. Theologische Debatten – so könnte man daraus schließen – sind möglicherweise relevanter für die Lebenswelt, als auf den ersten Blick deutlich wird.
Starke Überzeugungen
Zwei ganz unterschiedliche Deutungsmuster sind möglich, wenn wir nach der Bedeutung von Gemeinschaft in der modernen Gesellschaft fragen. Entweder wir verstehen Gemeinschaft als Gegenbegriff zur Gesellschaft, wie das der große Soziologe Ferdinand Tönnies, Nestor der deutschen Soziologie, in seinem vor über hundert Jahren erschienenen Buch „Gemeinschaft und Gesellschaft“ getan hat.
Gemeinschaft ist dann der Ort, wo Menschen, die Verwandtschaft, Zusammengehörigkeitsgefühl oder starke gemeinsame Überzeugungen verbindet, Geborgenheit finden angesichts einer Gesellschaft, die geprägt ist von Egoismus, kalter Zweckorientierung und ökonomischer Nutzenmaximierung. Es überrascht nicht, dass im Lichte dieses Gemeinschaftsbegriffes die Entwicklung zur modernen westlichen Gesellschaft im Wesentlichen als Verfallsgeschichte gedeutet werden muss: Gemeinschaft geht immer mehr verloren. Der Egoismus nimmt immer mehr überhand.
Die andere Deutungsmöglichkeit teilt diesen Pessimismus gegenüber der Moderne nicht. Sie ist in der Soziologie zum ersten Mal eindrucksvoll von einem Zeitgenossen von Tönnies ausgearbeitet worden, der mit guten Gründen als Begründer der französischen Soziologie gelten kann: Emile Durkheim. In seinem Werk über die soziale Arbeitsteilung sieht er, ähnlich wie Tönnies, die alten von starker innerer Übereinstimmung getragenen Formen von Gemeinschaft („mechanische Solidarität“) erodieren. Er sieht aber gleichzeitig neue Formen von Gemeinschaft an ihre Stelle treten („organische Solidarität“).
Gemeinschaft durch Verschiedenheit
Die Stärke des Deutungsangebots, das Durkheim schon vor mehr als einem Jahrhundert geliefert hat, liegt darin, dass uns die Augen geöffnet werden für die vielen neuen Formen von Gemeinschaft und sozialem Zusammenhalt, die erst in der modernen pluralistischen Gesellschaft möglich geworden sind. Nur so können wir über eine, übrigens in allen politischen Lagern zu findende, Position konservativer Kulturkritik hinausgelangen, die beim Blick auf unsere Gesellschaft nur noch Werteverfall, Verlust von Gemeinschaft und allgemeinen Egoismus sieht. Es ist wahr: Die alten Formen von Gemeinschaft, die starke Verbindlichkeit und oft lebenslanges Engagement implizierten, verlieren an Bedeutung. Wer wüsste das neben Parteien und Sportvereinen nicht genauer als die Kirchen!
Aber das heißt eben nicht automatisch, dass die Menschen nur auf dem Ego-Trip sind. In veränderter Form nehmen die sozialen Kontakte zu und auch die Bereitschaft zum Engagement nimmt keineswegs ab, sondern verändert sich vielmehr in ihrem Anforderungs- und Erwartungsprofil. Gemeinschaft wird heute zunehmend in Netzwerken erfahren, in Formen von Gemeinschaft also, die als genuine Produkte der modernen Gesellschaft gesehen werden können.
Was das Leben in Netzwerken kennzeichnet, will ich noch ein wenig erläutern: Das Charakteristische solcher Netzwerke lässt sich am besten anhand von drei Aspekten beschreiben, die ich Pluralisierung, Individualisierung und Gegenseitigkeitsorientierung nenne.
Starke und schwache Beziehungen
Pluralisierung bedeutet, dass nicht mehr von der einen gemeinsamen Grundlage ausgegangen werden kann, von der traditionelle Gemeinschaften lebten und der alles andere untergeordnet wird, seien es die Familienbande, die politische Überzeugung oder die religiöse Orientierung.
Die Menschen leben heute in einer Vielzahl unterschiedlicher Gemeinschaften, die alle das Leben mitprägen, vom Sportverein, dem Kegelklub oder auch dem Literaturkreis über die Schulgemeinschaften der Kinder mit ihren jeweiligen Sommer- oder Weihnachtsfesten bis hin zu Nachbarschaftskreisen, Bürgerinitiativen oder eben auch der Kirchengemeinde. Diese Vielzahl von Gemeinschaften bildet das Netzwerk, in dem wir leben. Wie zentral diese Pluralisierung für die sozialen Unterstützungsleistungen des Einzelnen heute ist, zeigt eine faszinierende Untersuchung des amerikanischen Soziologen Mark Granovetter, die ich hier vorstellen möchte.
Granovetter unterscheidet „starke“ und „schwache“ Beziehungen und weist ihnen jeweils unterschiedliche Funktionen zu. Starke Beziehungen sind die Beziehungen in den Intimgruppen, die traditionell am deutlichsten mit dem Begriff „Gemeinschaft“ verbunden waren. Sie vermitteln vorrangig tiefere Gefühle wie Liebe und Geborgenheit, sie verlangen viel Zeit und sind geprägt durch einen hohen Grad von Verbindlichkeit.
Schwache Beziehungen sind im Gegensatz zu starken Beziehungen weniger zeitaufwendig und mit weniger emotionalem Engagement verbunden. Ihre größte Stärke liegt darin, dass sie eher am Rande eines persönlichen Netzwerks angesiedelt sind und deshalb eine Art Brückenfunktion zu anderen Gemeinschaftskontexten erfüllen können. Über schwache Beziehungen entstehen Einstiegsmöglichkeiten in andere soziale Milieus.
Pluralisierung bedeutet nicht Abbruch von Gemeinschaft
Die schwächstmögliche Form der sozialen Beziehung – das kann über Granovetter hinaus zur Erläuterung gesagt werden – ist heute die „Gefällt mir“-Taste bei Facebook. Wenn Sie sich – sofern Sie bei Facebook registriert sind – heute bei einem Ihrer Facebook-Freunde mit dem minimalstmöglichen Zeitaufwand in Erinnerung bringen wollen, drücken Sie die „Gefällt mir“-Taste bei einem dort eingestellten Bild oder irgendeiner Aussage Ihres Freundes. Mit einem einzigen Click sagen Sie: Es gibt mich noch und es ist mir wichtig, dass du mich nicht vergisst. Und wenn es Gründe gibt, die entsprechende soziale Beziehung wieder neu zu aktivieren, gibt es jedenfalls eine kommunikative Basis dafür.
Das kann insofern ganz handfeste Dimensionen haben, als die Untersuchung von Mark Granovetter auch gezeigt hat, dass die schwachen Beziehungen von besonderer Bedeutung sind, wenn es um soziale Unterstützungsleistungen im Alltag geht: In einer Studie über Menschen, die ihren Arbeitsplatz wechselten, stellte sich heraus, dass die meisten von ihnen den neuen Job nicht über Freunde, sondern über lockere Bekannte gefunden hatten.
Losere Netzwerke scheinen also für die sozialen Unterstützungsleistungen im Alltag eine größere Rolle zu spielen, als auf den ersten Blick zu vermuten ist. Die durch schwache Beziehungen ermöglichte Pluralisierung eröffnet Zugang zu zahlreichen anderen Gemeinschaften, die ansonsten verschlossen gebliebene Horizonte eröffnen. All diese Überlegungen zeigen: Pluralisierung bedeutet nicht Abbruch von Gemeinschaft, sondern zunächst nur Veränderung von Gemeinschaft. Für die Kirche ist es von zentraler Bedeutung, dass sie auch die schwachen Netzwerksbeziehungen als Formen von Gemeinschaft würdigt und sich mit ihren Angeboten darauf einstellt.
Bewusste Entscheidung
Der zweite Aspekt, den ich nennen möchte, ist die Individualisierung. Sie bedeutet keineswegs, wie manchmal angenommen, automatisch selbstzentrierten Individualismus. Vielmehr heißt Individualisierung zunächst nur, dass die Menschen heute im Prinzip die Freiheit haben, ihr Leben selbst so zu gestalten, wie sie es wollen, anstatt vorgegebenen Rollen und Lebenswegen zu folgen. Das Wort von der „Bastelbiografie“, erfunden von dem Soziologen Ronald Hitzler, ist fast schon in den allgemeinen Sprachschatz übergegangen und bezeichnet den mit Chancen wie Risiken verbundenen Versuch, sein Leben soweit wie möglich selbst zu gestalten.
Das Engagement zahlloser Ehrenamtlicher in Parteien, Kirchen und Vereinen zeigt, dass solche Individualisierung keineswegs in Egoismus und Vereinzelung führen muss. Der in solchem Engagement zum Ausdruck kommende solidarische Gebrauch der Freiheit ist ein lebendiges Zeugnis dafür, dass Individualisierung und Gemeinschaft nicht in Gegensatz zueinander stehen müssen. Wer sich heute in der Kirche engagiert, tut das aus einer bewussten Entscheidung heraus und nicht, weil er oder sie im Grunde kaum eine andere Wahl hätte.
Und auch