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was damit gemeint war, jenes Maßhalten, jener Ausgleich von Schatten und Licht. Dennoch bergen diese drei Wörter alles in sich, was ich damals wollte: Schreiben am Meer, leben am Meer. Eine freie Schriftstellerexistenz führen unter der prallsten Sonne. Am besten in Tanger oder notfalls in Tipasa. Auf die Schiffe! Mittelmeerisches Denken: Das war jährlich auf den Kykladen vor Tavernen sitzen, im pissoirgrünen und natürlich kragenlosen Hemd aus dem steif gebügelten Besitz der Großväterschaft, das war mit Renaissancebüchern aus dem Verlag Wagenbach durch südlich verlassene Kirchen streifen, auf der Suche nach einem noch unentdeckten Piero della Francesca, das war ein Leben ohne jeden Riss, ohne jeden Schatten und mit Texten, die man sich aus dem geliebten Meer erbeutet.

      Viele Jahre später nahm ich das Buch aus reiner Nostalgie wieder zur Hand, blätterte zurück zur besagten Stelle: Und plötzlich umgab mich diese taghelle Dunkelheit, wie damals in Tanger. Unter der besagten Überschrift meiner damaligen Sehnsucht las ich nun Camus’ überaus leidenschaftliche, schmerzvolle Abrechnung mit Europa, seine Warnung an die westliche Demokratie, nicht ins Diktatorische, Totalitäre abzugleiten. Er sprach von dem, was nach der Sonne kommt, er sprach von ihrem Rücken aus, er redete von dem, worauf sie nicht fiel. Er sprach von Folterkammern in den Kellern der Demokratie, von Schreibern, die zu all dem schwiegen, und das beunruhigende Gefühl umgab mich: Er redete auch von mir. Von einem, der monatlich die deutschsprachige Ausgabe von Le Monde ins Haus bekam und donnerstags Die Zeit, damit die Zeit verginge, gleich wie der frühe Zorn, denn auch der war längst in mir verflossen.

      Doch diese Wieder-Lektüre war ein Schlag in mein Schamgefühl, die Seiten drückten mich tief in mein auf Eis gelegtes Dagegensein. Ich hatte also in all den Jahren den Text nicht verstanden. Ich vernahm nur die gleißende Überschrift, das mittelmeerische Denken, jene drei Sehnsuchtswörter, alles Übrige hatte ich ausgeblendet. Gleich wie Meursault, der Held in Der Fremde, der seine Menschlichkeit nicht mehr erkannte, weil ihm am Strand die Sonne dazwischenkam, hatte auch ich nichts gesehen. Und es war wie damals am Fährschiff nach Tanger, wo ich mit jugendlicher Unbekümmertheit über ein kommendes Grab spazieren fuhr. (Die Dunkelziffer spricht bereits von weit mehr als 15 000 toten Migranten.) Nur dieses Mal sah ich nicht etwas vor mir, was ich gelesen hatte, sondern las etwas, was ich in all den Jahren in diesem weiten Blau nicht gesehen hatte: die Rückseite des Meeres, die Nachtmeerfahrt, die Katabasis, den Moment, wo der Mittag des Menschseins mit einem Handstreich erlischt.2 Camus’ textliche Wunde aus dem Jahre 1951 zog sich in schwarzen Lettern über das Blatt, ja seine dunkle Prophetie riss in mir die Fragen der Fragen auf …

      Was ist also nur mit diesem Meer geschehen, diesem „Meer-Denken“, dem wir Europäer alles zu verdanken haben, die Schrift, die Zahl, Logos und Mythos? Das alte Schmelzwasserbecken, das stets gefüllt war mit jüdischen, christlichen, islamischen Tropfen, dieser Vermittler inmitten aller nur denkbaren Gegensätze ist plötzlich zu einem ständig überwachten Grenzort geschrumpft. Gibt es für diesen noch immer schönen verwitterten Umschlagplatz der Ideenkreuzung eine dritte Renaissance? Eine neue Gerechtigkeit, eine neue Ethik, einen moralischen Entwurf, der nicht mit seinem Anspruch universeller Umarmung abermals die Schwächsten erdrückt? Ergibt dieser westliche Werte-Hegemonialismus noch Sinn, wenn in seinem Namen unentwegt neue, vermeintlich gerechte Kriege entstehen? Kann nicht irgendwann eine Ethik im Kommen sein, die sich bewegt, die mit Außenbürgern Fuß an Fuß, Hand in Hand flüchtet, läuft, die sich nicht fortstiehlt, sondern bei ihm, beim Letzten bleibt? Ist eine „transportable Ethik“, wie sie der Verfasser hier nennen möchte, denkbar?

      Abb. 3

      Die Zeit drängt, auf die Schiffe, ihr Philosophen. Ich werde in diesem Fall nur Berichterstatter sein, ein Leichtmatrose am Deck der „Neuen Gerechtigkeit“. Es wäre verrückt und zugleich vermessen, ginge ich bei dieser waghalsigen Mission alleine an Bord. Und da die Namen auf den Büchern ohnehin sich stets auf Reisen befinden, in unseren Taschen, Koffern, Citybags, fällt es mir nicht allzu schwer, eine Anzahl von radikal erlesenen Denkfiguren an Bord zu holen, sie virtuell an Deck zu bitten. Bedingung ist nur: Es müssen radikale Denker der Ethik sein, Überdenker der anderen Seite, des Ausgegrenzten, also auch vom algerischen Ufer. Deshalb bitte ich natürlich Albert Camus an Bord.

      Nun zum nächsten Gast und Missionsbegleiter: Jacques Derrida. Hier gibt es einiges, was die beiden pieds noirs vereint, wie die großen Franzosen ihre „Kleinen von drüben“ abwertend zu nennen pflegten. Das reicht weit über Kindheitserinnerungen hinaus, wie die gemeinsame frühe Liebe zum Fußballspiel auf den rotkargen Plätzen von Algier. Es war überraschend für mich, auf keine einzige namhafte Untersuchung gestoßen zu sein, die sich mit der Ähnlichkeit dieser zwei Anderen befasst. Denn sie beide kannten nur allzu gut die schmerzhafte koloniale Überfahrt von Algier nach Marseille. Auf dieser Schreibfahrt wird also vom maghrebinischen Derrida die Rede sein, von jenem Mann vom anderen Kap.

      Doch was wäre eine Mittelmeerfahrt ohne einen echten Rabbi vom östlichen Ende des Gestades, einem Gelehrten, der zwar rein körperlich in Frankreich lebte, aber was sagt das schon … Sein Werk birgt die wohl radikalste Ethik der postmodernen Zeit. Sein Hauptwerk Totalität und Unendlichkeit lässt er mit einem äußerst mysteriösen Satz beginnen, den ich in meinem Logbuch untersuchen werde: „Das wahre Leben ist abwesend. Aber wir sind auf der Welt.“ Emmanuel Lévinas, der Doyen des anderen Denkens, den zeitlebens eine tiefe Freundschaft mit Derrida verband.

      In Rom schließlich holt sich das Schiff noch einen weiteren Passagier an Bord. Giorgio Agamben. Dunkelpoetisch spricht er die vernichtendste Kritik über das jetzige Europa aus. Doch auch er verfügt über einen Plan, dem Desaster zu entrinnen.

      Dieses Aufeinandertreffen der Genannten ist nicht dem Zufall geschuldet, jeder der vier Männer hält ein wichtiges Puzzleteil bereit, für das Ausströmen, In-Bewegung-Setzen einer Mittelmeerischen Ethik, die sich im Gleichklang mit der Aristotelischen Handlungsethik für die „Untersten“ dynamisiert.

      Für die Besatzung gilt, und da steht sie im Widerspruch zu Nietzsche, dass sie nicht schon wieder eine andere Welt entdecken will, sondern im Gegenteil, sie will dem frierenden Anderen dieser blank gelegten Welt eine ethische Decke reichen, jenem Antipoden, der unverschuldet auf der unteren Seite der Welt zu stehen hat.

      2.

BORDNOTIZEN ZU DEN BIOGRAFIEN MEINER SCHIFFSBESATZUNG

      Abb. 4

      Müsste man das philosophische Werk von Emmanuel Lévinas mit wenigen Worten beschreiben, könnte ein Satz von Robert Musil hilfreich sein: „Die Reise an den Rand der Möglichkeit.“ Monsieur Lévinas würde in sanfter Rabbimanier dazu nicken und dabei eine kleine Korrektur vornehmen, die sein Werk so wundervoll schwer in seiner Leichtigkeit macht. Er würde sagen: „Reise an den Rand der Möglichkeit, ja, und danach wage die Reise darüber hinaus …“ Er hätte damit in keinster Weise übertrieben, im Gegenteil. Lévinas versteht sich in der Kunst, dem Bodenschweren, dem niemals Verrückbaren, dem Steindenken deutscher Gigantenschaft jene Spannbreite an Flügel zu verleihen, damit das Blei im Denken fliegt, damit es flirrt und lodert. Dieser Mann, ein moralischer Nietzsche aus Frankreich, der 1906 in Litauen geboren wurde und als erster Husserl ins Französische übersetzte, wird ein Zertrümmerer der sanftesten Art. Er wird ein zweiter Ikarus, der sich aus Klugheit der Sonne nicht nur nähert, nein, der mit ihr fliegt, auf ihr, in ihr. Nur einmal wird er stürzen, 1942 – 45 gerät er in die Gefangenschaft der Nazis. Dieses Deutschland wird er danach nie mehr betreten, dieses Deutschland, das die Seinen zu Tode gebracht hat. „Denn der Tod“, wie er einmal sagen wird, „der Tod des anderen ist dein erster Tod.“

      Diese jüdische Kollektiv-Wunde, in keinem Exil des Exils sein zu dürfen, diesen Hiat wird er mit dem weißen Laken der Philosophie notdürftig verbinden,

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