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glitzernde Weite dieses Meeres, das uns alle das Staunen lehrte, gemeinsam fragend in dieser Welt zu stehen.

      Umso beschämender der Umstand, wie sich Europa, nach Erhalt all dieser Gaben, mit einer Mauer der Abwehr vor seinen südlichen Ideenspendern, seinen Nachbarn verschließt. Das Abendland nimmt es somit in Kauf, die lebenserhaltende Blutbahn des Kreativen zu kappen, die „Herzenge“ von Gibraltar noch weiter zu schließen. Die sokratisch-ethische Präambel, „es sei besser, Unrecht zu erleiden, als Unrecht zu tun“, wird der endgültigen Austrocknung überlassen, ja auf den Kopf gestellt. Die Abwehr des Anderen läuft im Moment auf höchsten Touren, aber somit auch die moralische Gefahr für den Westen, im Schatten der untergehenden Sonne die eigenen Werte gleich mit zu begraben.

      Davor hat schon vor Jahren Albert Camus, selbst ein Bewohner der anderen Meeresseite, in seiner radikal humanistischen Schrift über das „mittelmeerische Denken“ gewarnt, vor dieser neuen Verrohung Europas. Ohne den notwendigen Austausch von Licht und Schatten, des Eigenen mit dem Andern und dabei immer Nemesis, die Göttin des Maßes im Blickpunkt, käme eine ethische Verwüstung auf uns zu. Diese Gedankenspur nimmt der Verfasser dieses Pamphlets, mehr Literat als Philosoph, noch einmal auf. Neben Camus lädt er drei weitere große Denker der Ethik auf sein fiktives Schiff: Jacques Derrida, geboren am „anderen Kap“, Emmanuel Lévinas, der wohl radikalste Ethiker unserer Tage, und Giorgio Agamben, sie alle kommen mit an Bord für diese Zeitreise zu den Anfängen des Abendlandes, als das Gute seine erste Setzung hier empfing. Dabei schrammt ihr Schiff auch die Gegenwart. An westlichen Verbannungsinseln, für das Böse bis hinauf in unsere Tage geöffnet, zieht es vorbei. Alle vier Denker halten ein Puzzle einer Meeresethik in der Hand, doch dann … Und dazu taucht noch ein Familienrätsel auf, eine Sache, worüber der eigene Großvater nie sprach …

      Das Buch wurde nicht für den alles wissenden Philosophen geschrieben, sondern für den interessierten Laien, der neben ernsten Fakten den Mix aus Literatur, Philosophie und Reisebericht nicht scheut. Doch auch hier werden dem Zorn, den ein Pamphlet einfach braucht, zum Ausgleich die Selbstironie und das Augenzwinkern als Maß zur Seite gestellt.

      Alle nichtkursiven Dialoge der philosophischen Bordbesatzung sowie die Figur Stane entspringen der Fantasie des Verfassers.

      I.

      STAPELLAUF ODER „AUF DIE SCHIFFE, IHR PHILOSOPHEN!“

      Abb. 1

       „(…) eine neue Gerechtigkeit tut not! Und eine neue Losung! Und neue Philosophen! Auch die moralische Erde ist rund! Auch die moralische Erde hat ihre Antipoden! Auch die Antipoden haben ihr Recht des Daseins. Es gibt noch eine andere Welt zu entdecken – und mehr als eine! Auf die Schiffe, ihr Philosophen!“1

      Auch wenn der Verfasser dieser Arbeit – mehr Literat als Philosoph – sogleich dem Aufruf Nietzsches folgen möchte, so sei man nicht enttäuscht: Es werden bestenfalls Papierschiffe sein, Dreimaster aus zerkauten Bleistiftenden, die mit ihm auslaufen, um danach über selbst entworfene Karten zu kreuzen, über Skizzen und Entwürfe der nautischen, der geophilosophischen Unmöglichkeit. Es erwartet uns keine Reise in den vergnüglichen Kreis der Sonne, denn manche dieser Tiefen, auf die wir stoßen, entstammen keiner natürlichen geologischen Gegebenheit, sie wurden und werden vom Westen eigenhändig geschürft. Im besagten Fall handelt es sich um einen Riss in der inzwischen gnadenlos gewordenen Vernunft Europas, ja um einen gewaltig und täglich wachsenden Trenngraben zwischen Nord und Süd, es handelt sich um einen moralischen Abgrund, der an seiner engsten Stelle 14 Kilometer Breite misst.

      Abb. 2

      An dieser Stelle überlässt Europa die Schmutzarbeit einem Meer, mittels Tiefe, Kälte und Wellengewalt, das menschliche Strandgut aus Afrika verschwinden zu lassen. Und der aufgeklärte Kontinent sieht vom Festland zu … Gegen diese „Herz-Enge“ von Gibraltar, wie ich diese Passage hier bezeichnen möchte, wird also meine kleine Flotte anzusegeln haben, denn eine neue Gerechtigkeit, wie Nietzsche meint, tut in diesem Falle mehr als not.

      Und der Verfasser bittet schon in dieser Einleitung um Nachsicht. Was die strenge, reine Philosophenlehre betrifft – er wird sich aus dem Werkzeugkasten der poetischen Philosophie zu bedienen wissen. Eine hybride Textgestalt sei damit gemeint, die stets auch aus dem Nebelhaften, Undeutlichen ihre Konturen bezieht. Poetische Philosophie gedacht als Bastard, als Mischling, die gerade wegen ihrer unreinen Andersheit sich nicht abhalten lässt, das Große anzukläffen, hin und her strolcht zwischen beiden Lagern, je nach Laune. Denn der fast unleserliche Auftragsschein, weshalb wir hier sind, trägt nach wie vor keine Unterschrift, lässt jede Deutung offen …

      Meine zwei Meeresgründe, die mich zu dieser Arbeit führten, sind naiv, folkloristisch und reichen fast dreißig Jahre zurück. Man musste nur strahlend jung sein, keine 26 Jahre, einen olivgrünen Rucksack sein Eigen nennen, mit einer Schlafmatte obenauf, und schon war man Besitzer eines Interrailtickets, das einen, wie in meinem Falle, vom hintersten südsteirischen Dorf bis nach Fes kutschierte, für sehr wenig Geld. Einmal Afrika retour. Ich weiß noch, es war hellster Tag, als ich in Algeciras das Fährschiff nahm, doch mit jeder Meile wurde es scheinbar oder tatsächlich dunkler um mich. Tiefblaue Finsternis. Noch heute bin ich gegen jede Wahrheit der Uhr überzeugt, Tanger, das sagenhafte „sündig-morbidelibertäre“ Tanger bei tiefster Nacht vom Meer aus erstmals erblickt zu haben. Vor mir das pulsierende, von einem unbekannten Rhythmus gesteuerte Aufzucken der Lichter, von Saiteninstrumenten begleitet, von denen nichts in unseren Musikbüchern stand. Ich meinte, ganz Afrika in diesem Moment authentisch zu spüren, zu hören. Eine irritierende Energie floss in meinen weiß-müden europäischen Bauch. Damals kam es mir nicht verwunderlich vor, dass die Stadt und ihre Bewohner vor meinen Augen denselben Auftritt hatten, so exotisch, urban und wild, wie ich über sie zu Hause gelesen hatte, zwischen sanften Weingärten, rabiaten Traktoren und alten Männern in ihren Gummistiefeln. Ich wusste nicht, dass ein festgelegtes, starres Bild vom Anderen mit mir auf Reisen ging. Mit allen Vorurteilen, mit allen Klischees.

      Ich sah, was ich gelesen hatte, ich war nicht imstande, mir die fremden Buchstaben aus den Augen zu reiben, um selber zu sehen. Und mit jedem Näherkommen kochten die Gerüchte an Deck. Harmlose Jungs aus Düsseldorf kramten auf einmal riesige Bowiemesser aus ihrer Armytasche hervor, andere meinten, ohne ihre tragbaren Wasserfilteranlagen gingen sie niemals von Bord, denn im Ostteil der Stadt, da stechen sie dich ab, während sie dich im Westteil bloß vergiften. Wir waren strahlend jung, keine 26 und hatten von „post-colonial-studies“ noch nichts gehört. Scheu, wie ausgesetzte Katzen, die in einem Käfig voller Wölfe ihren Nachtplatz zu suchen hätten, tappten wir durch das nachtgrelle oder tagdunkle Weiß der Häuserstraßen, vorneweg ein zentnerschwerer Judoka mit Vaters Leuchtgaspistole im Sack.

      Als wir uns am nächsten Morgen wieder trafen, wir, die wir mit unseren olivgrünen Rucksäcken aus ganz Europa kamen, waren wir mehr als erstaunt, dass keiner fehlte, jeder die Nacht überlebt hatte, nichts geschehen war. Im Gegenteil, unsere Hotels waren sauber und günstig, die anderen Menschen überraschend nett. Tage später, wieder am anderen Kap, in der sicheren Nestwärme Europas … Ganz friedlich schlief jeder von uns in den Ecken der Bahnhofshalle von Lissabon ein. Als wir uns am nächsten Morgen an den Schaltern trafen, waren wir mehr als erstaunt, die Hälfte von uns hatte man ausgeraubt, mit Messern bedroht, ein Dutzend Rucksäcke fehlten. „Und was das Irritierendste daran ist“, meinte der zentnerschwere Judoka mit der Leuchtgaspistole, „diese verdammten Hunde waren alle so weiß wie wir …“

      Als ich in den Monaten darauf meine ersten Gedichte zu schreiben begann und mich wie die meisten bei der Wahl: Sartre oder Camus für den letztgenannten entschied, las ich in Der Mensch in der Revolte erstmals jenen Begriff,

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