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Das Attentat auf die Berliner U-Bahn. Horst Bosetzky
Читать онлайн.Название Das Attentat auf die Berliner U-Bahn
Год выпуска 0
isbn 9783955522124
Автор произведения Horst Bosetzky
Жанр Зарубежные детективы
Издательство Автор
»Was ist mit dir?«
Eine Antwort bekam er nicht. Cammer sah aus, als wäre er mit einer Axt erschlagen worden.
»Himmel!« Grasmuck erstarrte. Wenn ihn hier jemand fand, dann glaubte man doch sofort, er hätte den Ingenieur erschlagen. Alle wussten von ihrer Feindschaft, aber keiner von ihrer Versöhnung. Jeder Kriminale würde ihn für einen Mörder halten.
Da kam Cammer wieder zu sich und tastete stöhnend nach seiner Wunde. In derselben Sekunde wurde Grasmuck von einer ungeheuren destruktiven Kraft erfasst, gegen die er nicht ankommen konnte. Eine herrische Stimme befahl ihm, zur Axt zu greifen: Wenn er noch nicht tot ist, dann töte ihn jetzt! Und er tat es.
Als er sich umwandte, stand Krischan im Tor. Erst fing er den Hengst ein, dann kam er zu Grasmuck und Cammer herüber.
»Ich hab alles gesehen«, sagte er und grinste.
Liesbeth Cammer wartete ungeduldig darauf, dass ihre beiden Kinder die Wohnung verließen, denn sie wollte endlich mit dem Schreiben beginnen, doch sowohl Franz wie auch Anna Luise liebten es zu trödeln. Ihr Großer, der Nikolaus, war da ganz anders, aber der weilte zu Studien in London. Das Haus Siemens hatte sich sehr zuvorkommend gezeigt und unterstützte ihn mit einer erheblichen Summe.
»Franz, du musst zu deiner Mathematik-Nachhilfestunde!«
Ausgerechnet in der Domäne seines Vaters zeigte der Untersekundaner erhebliche Schwächen. Das lag weniger an mangelnder Intelligenz als vielmehr an seinem ostentativen Desinteresse an der Mathematik und den naturwissenschaftlichen Fächern, wollte er doch nichts anderes als Schauspieler werden. Seine Mutter bekam leuchtende Augen, wenn er davon sprach, denn seinen Vornamen hatte er in Anlehnung an Franz Grillparzer erhalten, dessen Dramen Liesbeth Cammer überaus schätzte.
»Anna Luise, würdest du dich bitte beeilen, Fräulein Hofstetter wartet nicht ewig auf dich!«
Die Tochter, gerade dreizehn Jahre alt geworden, hasste die Klavierstunden bei dem ältlichen Fräulein und hätte sich viel lieber mit ihren Freundinnen getroffen, um tüchtig herumzualbern. Obwohl sie Anna Luise hieß, wie die berühmte Karsch, wollte sie weder Dichterin noch Pianistin werden, sondern, zum Entsetzen ihrer Mutter, nichts anderes als Krankenschwester und – O Gott! – Ärztin.
Endlich verabschiedeten sich die Kinder und polterten die Treppe hinunter.
»Und seid pünktlich zum Abendessen zurück!«, rief sie ihnen noch hinterher. »Vater schimpft sonst wieder mit euch.«
Sie sah den beiden noch kurz hinterher, dann machte sie sich an die Arbeit. Woran sie derzeit schrieb, war eine dünne Monographie mit dem Arbeitstitel Deutsche Dichterinnen, die im nächsten Jahr im Verlag von Oskar Bonde in Altenburg erscheinen sollte. Nicht nur, dass sie dem Publikum ihre berühmten, aber oft schon lange vergessenen Kolleginnen mittels längerer Lebensläufe nahebringen wollte, sie hatte auch vor, charakteristische Texte nachzudrucken.
Sie wandte sich einer Liste mit Namen zu, die alle noch zu bearbeiten waren. Sophie Bernhardi geb. Tieck (1775 – 1833), Dorothea Schlegel geb. Mendelssohn (1764 – 1839), Karoline Luise von Klenke geb. Karschin (1754 – 1802), Bettina von Arnim geb. Brentano (1785 – 1859), Gisela von Arnim (geb. 1827).
Womit sollte sie beginnen? Noch ehe sie sich entschieden hatte, wurde am Klingelzug gerissen. Nach der Kraft zu urteilen, mit der das geschah, konnte es nur ihr Sohn sein. Und richtig, Franz stand vor der Tür und bekundete, fürchterlichen Hunger zu haben.
»Wir warten mit dem Abendessen, bis Vater kommt«, beschied sie ihn. »Du weißt doch, wie sehr er es liebt, mit uns zusammen zu speisen.«
»Wann kommt er denn heute?«
»Bald. Er wollte am Nachmittag in die russische Botschaft Unter den Linden, um dort etwas zu besprechen, dann aber sofort nach Hause kommen.«
Doch es wurde bereits sechs Uhr, ohne dass er gekommen wäre, und auch nach Einbruch der Dunkelheit war er noch nicht zurück.
»Das verstehe ich nicht«, sagte Liesbeth Cammer. »Langsam mache ich mir wirklich Sorgen um ihn.«
»Wenn doch das Telephonnetz schon fertig wäre!«, rief Franz. Er wusste von seinem Vater, dass man bei Siemens & Halske schon im letzten Jahr mit den technischen Versuchen begonnen hatte, aber derzeit hatten lediglich 48 Berliner einen Anschluss, und noch nicht einmal sie selber.
Da fiel Anna Luise ein, dass der Vorgesetzte ihres Vaters schon einen Apparat zu Hause stehen hatte. »Herr Abendroth, der hat schon ein Telephon, der kann sich doch mal umhören, wo Vater steckt.«
»Eine gute Idee.«
Liesbeth Cammer und ihre Tochter machten sich zu Fuß auf den Weg zu Erich Abendroth, während Franz zu Hause blieb, um den Vater in Empfang zu nehmen, falls dieser doch noch innerhalb der nächsten halben Stunde eintreffen sollte.
Doch Abendroth wusste auch nur, dass Cammer in der russischen Botschaft etwas wegen der Moskauer Firmenniederlassung klären sollte. »Und dann wollte er Feierabend machen. Aber vielleicht ist er Unter den Linden einem alten Freund begegnet, und die beiden sind noch einen kleinen Schoppen trinken gegangen. Machen Sie sich mal keine Sorgen, liebe Frau Cammer.«
Max Fleischfresser war so hässlich, dass viele meinten, sie würden sich eine Hose über den Kopf ziehen, wenn sie so aussähen wie er, und auch die Kinder auf der Straße riefen »Arschgesicht kommt!«, wenn er an ihnen vorüberlief. Sogar seine Vorgesetzten sprachen davon, dass er eine »vermanschte Visage« hätte. Das war eine reine Gemeinheit der Natur, obwohl er allen weiszumachen suchte, sein Aussehen sei Folge einer Verletzung, die er im Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71 davongetragen hatte, als bei der Schlacht von Orleáns dicht vor ihm eine Kartätsche eingeschlagen sei. Sein Name tat ein Übriges, um ihn unsympathisch erscheinen zu lassen, assoziierten doch viele mit ihm, dass er Kannibale sei. Von Jahr zu Jahr wurde er verbitterter und härter im Zupacken, so dass er von allen Berliner Kriminalschutzleuten am meisten gefürchtet war und bei den Ganoven als Bluthund galt. Dass er jemals ein Weib zum Heiraten finden würde, schien ausgeschlossen, und auch die Dirnen verlangten einen Aufpreis, wenn sie ihm die Beiwohnung gestatteten.
Das Polizeipräsidium am Molkenmarkt war wahrlich kein Gebäude, das man errichtet hatte, um herzlich zu lachen. Wer aber das Zimmer betrat, in dem Fleischfresser seinen Dienst versah, konnte sich ein inniges Schmunzeln kaum verkneifen, denn der Mann, der ihm am Schreibtisch gegenübersaß, war ein ausgesprochener Gemütsathlet. Ferdinand Kublank, seit Ewigkeiten mit seiner Karoline glücklich verheiratet und Vater mehrerer Kinder, hielt es mit Fontane: Je älter ich werde, je mehr sehe ich ein: laufen lassen, wo nicht Amtspflicht das Gegenteil fordert, ist das allein Richtige. Wohlbeleibt war er und durch und durch ein echter Berliner.
Man saß beim Frühstück, und Kublank fragte sich, ob er nicht schnell noch zum Friseur gehen solle.
»Doch nicht im Dienst!«, rief Fleischfresser.
»Warum denn nicht?«, fragte Kublank. »Die Haare wachsen doch auch im Dienst.«
»Ich bitte Sie, wir haben Bereitschaft.«
Kublank gab sich zerknirscht. »Entschuldigen Sie, det ick jeboren bin, et soll nich wieda vorkomm.« Damit griff er sich eine alte Ausgabe des Berliner Lokal-Anzeigers, die auf dem Aktenbock lag. »Aber auf den Abtritt darf ich doch gehen – ich meine, während der Dienstzeit?«
»Ja, aber die Zeitung lassen Sie hier.«
Kublank lachte. »Die will ick doch nich lesen, die brauche ick für hinterlistige Zwecke.«
»Ja, eben darum!«, rief Fleischfresser und wurde noch um einiges dienstlicher. »Sehen Sie denn nicht, dass da Seine Majestät drauf abgebildet ist?«
Kublank winkte ab. »Sie tun ja so, als würde ick uff ihn schießen wollen. Wie der Hödel. Nee, ick nich.« Damit riss er die Seite mit dem Photo Wilhelms I. aus der Zeitung, legte es Fleischfresser