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noch die vielen Ängste, wenn ihn sein schwacher Körper martert. Wo er in allem und jedem die Teufel sieht, sehe ich schlichte Menschenkinder: Juden, Heiden, Christen – allesamt sind das Werk des einen Gottes.“

      „Und das sagt Ihr ihm etwa auch so?“

      „Ja, das sage ich ihm so, und manchmal wird er darüber ruhiger. Aber nur allzu oft plappert er doch immer noch seine alten Litaneien daher, grade als ob er noch ein Mönch sei und nicht die Liebe Gottes erlebt habe. Es braucht seine Zeit, bis ein Christenmensch wirklich zur Freude und zum Frieden findet. Auch mein Martinus traut dem allmächtigen Gott manchmal sehr wenig zu.“ Dann überlegte sie und ergänzte: „Doch mir fällt eine Wunderwaffe ein, eine Zeit, in der alle Ängste und Teufel weichen müssen.“

      „Und, welche Waffe ist es?“

      Da lachte die Frau glücklich und wohlgemut: „Singen. Wenn wir von Gottes Kraft und Liebe singen und unsere Ängste und Bitten Gott nicht verschweigen, dann ist Gott unter uns und vertreibt alle Angst und Not. Ein Lied ist ein Gebet, das gesungen zur Medizin und Seligmachung dient. Mein Martinus versteht es auch in Nöten und Anfechtung, solche Wunder zu vollbringen.“ Und als ob das nicht genug sei, begann sie zu singen, und der kleine Hans stimmte begeistert ein. Der Knabe auf meinem Schoß klatschte sogar mit den Händen und sang in seinem kindlichen Kauderwelsch mit.

      Einen Vers nach dem andern sangen sie, obwohl ich sie nicht darum gebeten hatte. Der Knabe verlangte gar ein Lied ums andere, und obwohl die Zeit noch nicht auf Weihnachten zuging, sangen sie vom Kripplein und Jesuskind: „Er ist auf Erden kommen arm, dass er sich unser erbarm und in dem Himmel mache reich und seinen lieben Engeln gleich. Kyrieleis. Das hat er alles für uns getan, sein groß Lieb zu zeigen an. Des freu sich alle Christenheit und dank im des in Ewigkeit. Kyrieleis.“

      Ich war überrascht, dass der Knabe so laut mitsingen konnte. „Wie kommt es, dass der Junge, der so lange nichts gesagt hat, plötzlich singen kann?“, fragte ich erstaunt.

      „Wir haben Hans beigebracht, dass er nur sprechen darf, wenn wir ihn etwas fragen, denn sonst plappert er ständig in die Gespräche hinein. Aber wenn wir singen, dann weiß er, dass sich Gott über jeden Lobpreis freut, selbst wenn das Lob aus Kindermund kommt. Ja, Gott freut sich über den undeutlichen Gesang der Kinder“, beendete sie zufrieden das Gespräch.

      Das Kind hatte die Rede der Mutter gehört und schaute zu mir hinauf, was ich dazu zu sagen hätte. Darauf war ich nicht gefasst, aber ich erkundigte mich, wie alt denn der Junge sei.

      „Ihr wollt nachrechnen, ob wir schon vor der Hochzeit das Bett miteinander teilten?“, bemerkte die Lutherin. „Falls ihr wie Erasmus von Rotterdam meint, da wäre der Teufel mit im Spiel gewesen und Hans wäre in Sünde gezeugt und geboren worden, muss ich Euch enttäuschen. Unser lieber Hans ist nun ein und ein halbes Jahr alt. Und so Gott will, wird er über wenige Wochen ein Geschwisterchen bekommen. Viele haben davon geredet, unsere Kinder würden mit Pferdefuß und Hörnern auf die Welt kommen und wären von Schwielen übersät, da ein Mönch und eine Nonne miteinander gehurt hätten. Aber wie Ihr seht, ist bei Hans alles an seinem Platz: Die blanken Augen, die reinen Ohren, seine flinken Beine und die lieben Händchen.“ Voller Stolz rief sie zu Hans: „Hans, bist du nicht unser größter Schatz auf Erden?“

      Und der Knabe antwortete brav: „Hans, großer Satz.“ Als Zeichen reckte er beide Arme weit über seinen Kopf hinaus, dass ich ihn gut festhalten musste.

      „Warum bringt Ihr dieses Kind in Gefahr, indem Ihr es heute mit auf die Reise nehmt?“, fragte ich die Lutherin.

      „Mir ist nichts Besseres eingefallen. Ihr müsst wissen, dass die Mutter Luthers nicht nur alt und gebrechlich ist. Ihre Seele hat sich verfinstert über all den Ängsten, die sie erlitten hat. Sie will nicht mehr ihr Haus verlassen und auf einer Straße gehen oder fahren. So dachte ich bei mir, dass es nur unser Hänschen vermag, seine Großmutter zu uns nach Wittenberg zu locken. Ich werde ihr sagen, dass sie den Jungen hüten soll und ich sie für das nächste Kind ebenso brauche. Ich werde sie auf der Fahrt hinten in den Planwagen legen, und Hänschen wird sich zu ihr legen. Darüber, ich bin mir sicher, wird sie ihre Angst vergessen. Denn wer könnte sich je um sich selbst ängstigen, wenn man ein Kind zu hüten hat?“

      Ich sah auf den Jungen hinab und merkte, dass er eingeschlafen war. So plötzlich, wie er zu singen begonnen hatte, so unvermutet war sein Köpfchen vornübergesunken. Ich knöpfte mir vorsichtig meinen weiten Mantel auf, hob ihn über den Buben und knöpfte ihn über uns beiden wieder zusammen. So war er warm, und da ich die oberen Knöpfe nicht geschlossen hatte, konnte er gut atmen.

      „Danke“, sagte Katharina: „Gott selbst hat Euch heute gleich einem Engel zu uns geschickt.“ Das sagte sie aufrichtig, obwohl sie offenbar genau wusste, dass ich nicht als Freund der Familie gekommen war. Als ob sie meine Gedanken erraten hätte, rief sie: „Auch Judas war wichtig im Heilsplane Gottes. Doch besser wäre es ihm hernach gegangen, wenn er von Saulus zu Paulus geworden wäre. Gott freut sich über jeden Sünder, der umkehrt und an seinem Reich baut.“

      Mir blieb nichts anderes übrig, als zu schweigen. Und selbst dabei hatte ich genug zu tun, denn die Lutherin trieb die Pferde ohne Unterlass über die aufgeweichten Landstraßen. Wenn ihr ein Fahrzeug entgegenkam, suchte sie keine Ausweichstelle, sondern fuhr ungezügelt an der Kutsche vorbei, dass sich der Wagen dabei mehrmals so stark nach rechts neigte, dass ich befürchtete, vom Bock zu fallen. Dabei war ich kein ängstlicher Mann.

      „Hätte Euch Luther nicht lieber hinter dem Ofen, als hochschwanger auf dem Kutschbock – dazu noch mit einem fremden Mann an der Seite?“, fragte ich.

      „Das würde sich mein liebster Martinus gewiss von Herzen wünschen. Doch unser beider Wunsch ist es, nun endlich seine alten Eltern zu uns zu holen. Da jedoch Martinus noch einige Tage fort ist, liegt es an mir, die Fahrt zu besorgen. Gewiss hätte ich den Auftrag auch anderen übergeben können. Aber die kleinen Kinder brauchen die Mutter und verwirrte Eltern die Tochter. Da nützen kein Gesinde und kein Geld. Ich muss mich eilen, weil ich mich gleich wieder auf den Heimweg machen muss. Ich denke, eine meiner Sauen wird wohl in der Nacht noch ferkeln. Ich muss vor dem Abend wieder in Wittenberg sein.“

      „Hat Luther denn keine zuverlässigen Knechte eingestellt?“

      „Die Knechte und Mägde stelle ich selbst ein, und sie sind zuverlässig; wenn jedoch Segen auf der Wirtschaft liegen soll, so will die Saat von der Herrschaft in die Felder gebracht werden, und ebenso soll der Hausherr bei den Geburten von Tieren zugegen sein.“

      Selbstverständlich hatte sie von sich als „Hausherr“ gesprochen. „Mutet Ihr Euch nicht zu viel zu?“

      Wieder lachte die Frau an meiner Seite: „Ja, ich mute mir viel zu. Und doch ist es nur ein geringer Teil von dem, was ich alles vollbringen will. Doch Ihr müsst wissen, nicht mein Martinus bürdet mir die Arbeit auf – ich selbst habe dieses Leben an Martinus‘ Seite gewählt.“

      „Ich denke, Ihr habt gewählt, eine Nonne zu sein.“

      „So hatten es die Eltern vorbestimmt, als sie mich mit sechs Jahren ins Kloster gebracht hatten. Aber ich lobe den Tag, als ich die Mauern verlassen konnte. Jeden Tag danke ich Gott dafür, denn jetzt führe ich das Leben, für das ich bestimmt wurde. Ich danke es Gott und den Freunden Luthers.“

      „Wer hat Euch geholfen, wie sind deren Namen?“

      „Das tut nichts zur Sache, denn ich wäre auch alleine entflohen.“

      „War es so schlimm im Kloster?“

      „Nein, es war nicht schlimm im Kloster, denn ich hatte es besser als jede Frau aus der Stadt. Im Kloster hielten wir zusammen und waren besser versorgt, als es in den Familien geschieht, außerdem war es mir immer eine Freude, Gott zu loben.“

      „So habt Ihr im Kloster durch die Türen geschaut, Luther erblickt und ihn zum Mann haben wollen?“

      Über meiner Frage begann Katharina laut zu prusten: „In diesen Mann kann sich doch keine Frau auf den ersten Blick verlieben! Er ist mürrisch und fett und grob in der Sprache.“ Sie lachte und lachte.

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